Andreas Pfister

Neue Schweizer Bildung (E-Book)


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Voraussetzungen, dass mehr junge Erwachsene ein Fachhochschulstudium aufnehmen oder den Weg über die höhere Berufsbildung in Angriff nehmen können. Die Berufsmaturität verbessert die Anschlussfähigkeit für das lebenslange Lernen, auch ausserhalb der Hochschule. Sie verkleinert die Lücke zwischen den steigenden Anforderungen und der bisherigen Bildung. Damit reduziert sie die Gefahr von Überforderung. Sie eröffnet berufliche Chancen und mindert das Risiko von Arbeitslosigkeit. Sie platziert die Allgemeinbildung ins Jugendalter, wo sie hingehört. Man soll sie nicht während des Erwerbslebens nachholen müssen.

      Eine flächendeckende Berufsmaturität wertet die Lehre auf. Die Berufslehre wird noch stärker als bisher zu einer echten Alternative, die nicht nur ausbildet, sondern Bildung in humanistischem Sinn umfasst. Das nimmt Druck vom Gymnasium – und es nimmt das Recht aller Jugendlichen auf Bildung ernst. Die Binnendifferenzierung in ein Niveau A und ein Niveau B erlaubt eine spezifische Gewichtung der jeweiligen Bildungsziele innerhalb der Berufs- und Fachmaturität. Niveau A kann stärker auf die Fachhochschulen ausgerichtet sein als Niveau B. Diese Unterschiede im Niveau sind kein Novum für die Berufsmaturität. Schon jetzt lebt sie mit Niveauunterschieden zwischen den verschiedenen Branchen. Die Berufs- oder Fachmaturität mit Niveau B soll ebenfalls zum Studium an der Fachhochschule berechtigen. Das ist insbesondere für jene Jugendlichen aus bildungsfernen Verhältnissen eine Chance, die erst später Ambitionen auf ein Studium entwickeln. Diese Möglichkeit soll offen bleiben, selbst wenn sie nicht intensiv genutzt wird. Um die Chancen auf ein erfolgreiches Studium zu verbessern, können Vorbereitungskurse eingeschoben werden. Ähnlich wie die Passerelle auf das Studium an der Universität vorbereitet, können diese Vorbereitungskurse auf das Studium an einer Fachhochschule vorbereiten. Die Anforderungen der Fachhochschulen bleiben auf demselben Niveau wie bisher. Wer Mühe mit diesem Niveau hat, kann seine Chancen über den Vorbereitungskurs verbessern. Das verlängert die Bildungszeit, steht aber im Dienste der dringend notwendigen Tertiarisierung. Und es verbessert die Aufstiegschancen von schulisch Schwächeren oder Spätzündern.

      Duales Lernen wird weiterentwickelt.

      Die Frage, wie die schulische Bildung mit der Arbeit im Betrieb kombiniert werden soll, ist alles andere als trivial.[6] Die Doppelbelastung der Lernenden durch Arbeit und Schule ist gross, so gross, dass man sich immer wieder die Frage stellt, ob die Berufsmaturität im Grunde nicht ein Murks ist, eine Zwängerei. Ob versucht wird, den schulischen Anteil in die Lehre zu stopfen. Das Problem zeigt sich schon bei der normalen Berufslehre mit einem Tag Schule pro Woche. Bei der Berufsmaturität verschärft es sich. Wenn das Modell auf alle Lernenden ausgeweitet wird, verschärft es sich noch einmal. Das Modell kann nur funktionieren, wenn der Doppelbelastung der Jugendlichen von beiden Seiten her Rechnung getragen wird: von der schulischen und der betrieblichen. Der duale Weg ist nicht einfach. Trotzdem ist es sinnvoll, diesen Weg in der Schweiz auszubauen. Es ist die Berufslehre, die hierzulande die grösste Akzeptanz geniesst. Es ist sinnvoll, dieses hohe Prestige zu nutzen, und auf diesem Weg mehr schulische Bildung in die Ausbildung einfliessen zu lassen, so wird sie eher akzeptiert. Jugendliche sind in vielen Fällen eher bereit, die Doppelbelastung des dualen Wegs auf sich zu nehmen, als weiterhin die ganze Woche die Schulbank zu drücken.

      Beim SBFI ist man sich der hohen Belastung natürlich bewusst. Eine Steuergruppe hat eine Reihe von Modellen entwickelt, mit denen sich Arbeit und Schule kombinieren lassen:[7] Gegenwärtig werden in einzelnen Kantonen verschiedene Modelle erprobt. Je nach Branche sieht eine sinnvolle Verknüpfung von Schule und Arbeit unterschiedlich aus. Aktuell wird intensiv darüber debattiert, ob eher BM1-nahe oder BM2-nahe Flexibilisierungsmodelle geeignet sind. Im Modell BM1 gehen die Lernenden anderthalb bis zwei Tage in die Schule. Schule und Praxis können laufend aufeinander abgestimmt und optimal verknüpft werden. Der Nachteil: Die Doppelbelastung ist hoch.

      Im Modell BM2 wird der schulische Anteil gebündelt und in einem zusätzlichen Jahr am Ende der Lehre vermittelt. Vorteil: Man kann sich auf beides besser konzentrieren. Nachteil: Es gibt diesen biografischen Knick: Man steht am Ende der Lehre, hat seinen eigenen Lohn – und soll plötzlich wieder in die Schule. Hängt sich an diese BM2 noch die Passerelle an, so gibt das lange Bildungswege.

      Die Erfolgsquote in der BM1 beträgt nur zwei Drittel. Das ist tief, deutlich tiefer zum Beispiel als in der BM2 (84 Prozent) oder am Gymnasium (86 Prozent). Das Drittel, das die BM1 abbricht, tut dies meist früh in der Ausbildung. Die Anforderungen in der BM1 sind derart hoch, dass sie selbst leistungsstarke Lernende überfordern. Auf möglichst kurze Bildungswege drängen Wirtschaftsverbände wie economiesuisse. Sie wollen die BM1 – nicht die BM2. Die gegenwärtige Reform «Berufslehre 2030» verschärft das Problem bereits auf Ebene der Grundbildung. Wie in jeder Reform – nicht nur der Berufslehre – versucht man auch dort, in der Grundbildung, noch mehr hineinzupacken. Doch bekanntlich soll man das Fuder nicht überladen. Die BM1 kann nur wachsen, wenn der schulischen Bildung mehr Zeit zuteilkommt. Noch mehr Lektionen in einen bereits vollen Schultag zu drücken, funktioniert nur auf dem Papier. In der Praxis führt es dazu, dass die Lernenden abschalten. Wenn sie schon acht Lektionen an einem Tag haben, kann man nicht einfach eine neunte anhängen.

      Ein Modell mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen kann man hier als BM3 bezeichnen. In diesem Modell steht ein Jahr schulischer Bildung am Anfang der Lehre. Man könnte es als ein Schuljahr zwischen dem Abschluss der Sekundarschule und dem Beginn der Lehre bezeichnen. Das SBFI hat ein Modell vorgeschlagen, das dieses Jahr zur Sekundarstufe II rechnet. Der Unterricht wird an Berufsfachschulen erteilt. Ein Lehrvertrag kann, muss aber nicht vorliegen. Während diesem Berufsmaturitätsschuljahr werden allgemeinbildende Fächer wie Mathematik, Informatik, Deutsch, Französisch und Englisch unterrichtet, nicht aber spezifische Berufsbildung. Die Idee ist bestechend: Ein solches Modell kann interessant sein für anspruchsvolle Berufslehren, in denen die Lernenden erst richtig von Nutzen sind, wenn sie eine gewisse schulische Basis mitbringen. Allerding hält sich die Begeisterung für dieses Modell bisher in Grenzen. Eine Umfrage des SBFI unter Verbundspartnern (Politik, Bildung, Wirtschaft) zeigt, dass die Idee mehrheitlich abgelehnt wird.[8] Trotzdem sollte man die Variante einer BM3 nicht vorschnell abschreiben. Das Modell eröffnet neue Kombinationsmöglichkeiten mit der Sekundarstufe I. Führt man das Modell BM3 flächendeckend ein, wird daraus ein zusätzliches Schuljahr für alle. Statt wie bisher elf Jahre (mit Kindergarten) bis zum Abschluss der obligatorischen Schulzeit sind es mit dem Modell BM3 zwölf.

      Theoretisch kann man einen Schritt weitergehen und das zusätzliche Schuljahr der Sekundarstufe I zuordnen. Der Unterricht kann an der Sekundarschule stattfinden. Diese würde dann vier Jahre dauern statt drei. Gestaltet man die Sekundarstufe als Einheitsschule mit Binnendifferenzierung, so findet die Aufteilung der Schüler*innen nach Gymnasium oder Lehre erst nach zwölf gemeinsamen Schuljahren und im Alter von 16 Jahren statt. Entscheidend in diesem Modell wäre die Ausgestaltung der Binnendifferenzierung beziehungsweise der Durchlässigkeit. Es müsste möglich werden, vom zwölften Schuljahr aus sowohl in eine Lehre als auch in den gymnasialen Zug zu wechseln.

      Vieles spricht für eine solches System, aber einiges auch dagegen. Das frühe Aufteilen der Kinder in unterschiedliche Schultypen ist in der Schweiz breit abgestützt, einer Aufweichung der Grenze zwischen Sekundarstufe I und II begegnet man skeptisch. Oft ins Feld geführt wird die Schulmüdigkeit. Dieses Argument ist jedoch problematisch. Keinem käme es ernsthaft in den Sinn, Kinder nicht zur Schule zu schicken, weil sie keine Lust dazu haben. Trotzdem sei das Argument hier ein Stück weit berücksichtigt. Viele Jugendliche freuen sich auf die Lehre, auf die Arbeit im Betrieb. Ihnen diese Möglichkeit ein Jahr länger vorzuenthalten, kann kontraproduktiv sein. Mit zunehmendem Groll gegen die Schule, empfunden als Gefängnis, als Ort von Misserfolg, sind die Voraussetzungen für effizientes Lernen nicht gegeben. Vielleicht wird das Lernen als sinnvoller empfunden, wenn man in der Arbeit erfährt, wofür man es braucht. Allerdings kann zum Nachteil werden, was zunächst als Vorteil erscheinen mag: Nach zwölf Jahren Schule könnte man fälschlicherweise meinen, dass die schulische Bildung erledigt sei. Das ist kontraproduktiv im Hinblick auf die Tertiarisierung. Wenn die Schule in der Lehre nur noch an einem Tag pro Woche stattfindet und einzelne Fächer jahrelang nicht unterrichtet werden, tut sich ein ziemliches Loch auf bis zur Fachhochschule. Vieles wird vergessen. Auch die Haltung wird dadurch beeinflusst. Wird die Schule während der Lehre als erledigt abgehakt, begreift man sie nicht als Zwischenschritt im Hinblick