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Das Neue Testament - jüdisch erklärt


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werden allgemein als Kompositionen für eine Minderheit gesehen, die von der größeren jüdischen Gesellschaft abgelehnt wurde. Dieser hypothetische Kontext wird dann herangezogen, um zu erklären, warum Mt 27,25 der jüdischen Gemeinde eine kollektive Schuld für Jesu Tod zuschreibt, weil „alles Volk“ gerufen habe: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ In Joh 8,44 sagt Jesus zu „den“ Juden (gr. Ioudaioi): „Ihr habt den Teufel zum Vater“. Literarische Polemik spiegelt jedoch nicht unbedingt tatsächliche gesellschaftliche Verhältnisse wider. Frühere Behauptungen, dass die Evangelien eine Reaktion auf eine angebliche Versammlung von Rabbinen im Jahr 90 u.Z. in Jamnia (Javne) seien, die ihrerseits beschlossen hatten, dass die Anhängerinnen und Anhänger Jesu Häretiker seien, die man aus den Synagogen ausschließen müsse, werden durch jüdische Quellen widerlegt (s. „Birkat ha-Minim“).

      Die Gattung

      Die neutestamentliche Wissenschaft diskutiert, inwieweit die kanonischen Evangelien als Biographien anzusehen sind. Sie sind sicher keine Biographien im modernen Sinn des Wortes: sie bieten keine komplette Lebensgeschichte, da sie z.B. Jesu Kindheit ebenso ignorieren wie das weitere Schicksal von Marias Ehemann Josef, die Fragen, ob Jesus verheiratet war oder nicht, oder welche formelle Erziehung er genoss. Sie erwähnen auch keine Fragen nach der Motivation oder geben in irgendeiner Weise vor, objektiv zu sein. Vielmehr sind sie zu einem bestimmten Zweck verfasst; Johannes (20,31) nennt ihn ausdrücklich: „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes“.

      Die Evangelien ähneln indes in ihrer literarischen Form antiken Biographien (gr. bioi, lat. vitae, Erzählungen des „Lebens“). Zu diesen narrativen Berichten, die gewöhnlich eine einzelne Schriftrolle von 10–12 m bzw. 10.000–20.000 Worte umfassten, gehören auch Plutarchs „Das Leben Alexanders (d.Gr.)“ aus dem 1. Jahrhundert, Suetons „Caesarenleben/Kaiserbiographien“ aus dem frühen 2. Jahrhundert und das vom griechischen Philosophen Philostratos (170– ca. 247 u.Z.) verfasste „Leben des Apollonius von Tyana“, eines Lehrers und Wundertäters aus dem 1. Jahrhundert. Diese Biographien bieten zumeist Informationen zur Familie des Protagonisten und den Umständen seiner Geburt, seiner öffentlichen Wirksamkeit und seinem (üblicherweise heldenhaften) Tod. Die Texte sollten die Leserinnen und Leser zur Nachahmung der Tugenden der Helden anregen.

      Die Evangelien weichen in mehrerlei wichtigen Hinsichten von diesen antiken Biographien ab. Der Hauptunterschied ist die Anspielung der Evangelien auf die Schriften Israels (gewöhnlich in ihrer griechischen Übersetzung, der Septuaginta). Diese Bezugnahmen – z.B. die Genealogie am Anfang des Matthäusevangeliums, die Jesus mit Abraham, David und Mose verknüpft, die Verbindung Johannes des Täufers mit der Prophetie Jesajas am Anfang des Markusevangeliums, die Darstellung der Eltern des Täufers bei Lukas im Lichte anderer biblischer Paare, die mit Unfruchtbarkeit zu kämpfen hatten, oder der Prolog des Johannesevangeliums mit seiner großartigen Wiederaufnahme von Gen 1,1–2 – machen deutlich, dass die Evangelien als Teil einer größeren Geschichte und als Erfüllung dieser Geschichte geschrieben worden sind. Quellen aus der Zeit des Zweiten Tempels enthalten andere Beispiele von (antiken) Biographien, wie die autobiographische „Vita“ des Josephus oder Philos„Leben Moses“, aber diese Gattung gibt es nicht unter den rabbinischen Quellen. Es gibt keine rabbinischen Bücher über das Leben Abrahams, Moses oder Davids, Hillels, Rabbi Aqivas oder Rabbi Jehuda ha-Nasis. Dies ist eine von mehreren bedeutsamen Unterschieden zwischen den Evangelien und späteren jüdischen Schriften. Außerdem bezogen sich jüdische Texte im Vergleich mit denen, die die Anhänger Jesu Christi verfassten, stärker auf die Gemeinde/Gemeinschaft. So diskutieren in rabbinischen Kommentaren mehrere Gelehrte miteinander, während christliche Literatur tendenziell eher aus einer Hand stammt (wie z.B. von Paulus, Ignatius von Antiochia, Justin dem Märtyrer, Augustinus). Die rabbinische Auslegung als Traditionsliteratur erzählt die Geschichte des Volkes Israel, während die christlichen Texte als Autorenliteratur überwiegend die Geschichte nicht der Kirche, sondern einzelner Gestalten darstellen (z.B. das Martyrium des Polykarp, das Leben des hl. Antonius). Keine einzelne Figur, nicht einmal Mose, wird in der jüdischen Literatur so herausgestellt wie Jesus in den neutestamentlichen Evangelien und der späteren christlichen Literatur.

      Das Ausmaß, in dem die Evangelien tatsächlich berichten, „was wirklich geschah“, kann nicht aufgeklärt werden. Obwohl die Texte auf den Erinnerungen der Anhängerinnen und Anhänger Jesu basieren, passten Lehrer und Erzähler sie stets den Bedürfnissen ihres jeweiligen Publikums und ihrem eigenen Verständnis davon an, wer Jesus war und was er zu vollbringen suchte. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Jesus auf Aramäisch gelehrt hat und dies ins Griechische übertragen wurde. Orte, an denen die Handlungen Jesu entweder explizit oder implizit auf die Heiligen Schriften Israels anspielen, sind besonders problematisch für Historikerinnen und Historiker, die das Leben Jesu rekonstruieren wollen. Folgte Jesus selbst – oder Ereignisse in seinem Leben – den Modellen dieser Texte, oder modellierten spätere Verfasser seine Lebensgeschichte nach diesen Mustern? Die synoptischen Berichte über Jesu Tod spielen intensiv auf Ps 22 an und zitieren ihn sogar. Manche Fachleute fragen (sich) nun, ob die Evangelisten die Passionsgeschichte im Lichte dieses Psalms komponierten oder ob die Ereignisse am Kreuz selbst die Verse des Psalms abbildeten.

      Die Evangelien spiegeln auch die Erinnerung der Gemeinde(n), die von den Schriften Israels beeinflusst ist, die mündliche Ausschmückung der Geschichten über Jesus im Laufe der ersten Jahrzehnte nach seinem Tod und die Bedürfnisse der Evangelisten sowie ihrer Leserinnen und Leser wider. Allein die Tatsache, dass verschiedene Quellen innerhalb des Neuen Testaments über so grundlegende Fragen wie die, was Jesus während des Letzten Mahles sagte (die Einsetzungsworte), unterschiedliche Angaben machen, zeigt, dass die Christusgläubigen sich mehr um die grundlegende Substanz oder Bedeutung seiner Lehren sorgten als um die wörtliche Wiedergabe seiner Worte (s. Mt 26,26–29; Mk 14,22–25; Lk 22,19–20; 1Kor 11,23–26 und ähnliche Aussagen außerhalb des Kontexts des Letzten Abendmahls, Joh 6,48–60). Nicht nur die Worte Jesu, sondern auch seine Taten werden unterschiedlich dargestellt, und auch hier wiederum ist die Frage nach der Historizität der Überlieferung komplex und umstritten. Gab es z.B. zwei von Dämonen besessene Männer in einem Ort namens Gadara, wo das Ertränken einer Herde Schweine einem Exorzismus durch Jesus zugeschrieben wird (Mt 8,28–34), oder ist Gerasa der Ort des Geschehens, wo ein einzelner Besessener geheilt wird (Mk 5,1–20)? Und um die Angelegenheit weiter zu verkomplizieren: Wurde die zuletzt genannte Geschichte angesichts der Tatsache, dass gerasch im Hebräischen „vertreiben, austreiben“ heißt, die Dämonen in einer Anspielung auf das Römische Reich „Legion“ genannt werden und eines der Symbole für die römischen Truppen (Legio X Fretensis), die Jerusalem im Ersten Jüdischen Krieg eroberten, ein Eber war, als Allegorie ausgestaltet? In ähnlicher Weise fragen sich Gelehrte, die das wirkliche Leben Jesu rekonstruieren wollen: Unterbrach Jesus den Tempeldienst bereits zu einem frühen Zeitpunkt seines Lebens (Joh 2,15–16) oder erst zu Beginn seiner letzten Woche in Jerusalem (so die Synoptiker – s. Mt 2,12–13 // Mk 11,15–17 // Lk 19,45–46), oder tat er dies zweimal, wobei er jedes Mal etwas anderes sagte?

      Ob man die Evangelien als „Geschichtsbücher“ versteht, hängt oft auch an der religiösen Einstellung des Auslegers oder der Auslegerin. Einige Leserinnen und Leser sind der Auffassung, dass die Wunder, die Jesus und seinen Nachfolgern zugeschrieben werden, genau so passierten wie von den Evangelien und der Apostelgeschichte beschrieben, während andere diese Berichte eher als moralische oder zeitgebundene theologische Erzählungen denn als historische Berichte ansehen.