Johanna Vocht

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion


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von einem komplexen Feld des Diskurses konstruiert.104

      Foucault spielt in obigem Zitat auf die Komplexität und grundsätzliche Unabgeschlossenheit narratologischer Deutungsansätze an. Komplizierter noch werde die oben genannte Eingrenzung, so Foucault, wenn man sich auf das Werk eines Autors zu beziehen versuche. Denn die scheinbar einfache denotative Verbindung, die der Name des Autors zwischen Text und Person generiert, bedürfe zunächst einer interpretativen Praxis, wie er weiter ausführt. So gelte es genau zu definieren, welche Teile des „ganzen Gewimmel[s] sprachlicher Spuren […], die ein Individuum bei seinem Tod hinterläßt“105 nun tatsächlich als Werk zu bezeichnen seien. Foucault gibt keine abschließende Antwort auf diese dringliche Frage, was denn nun ein Werk sei. Die oben zitierte Passage verdeutlicht jedoch noch einmal, wie entscheidend die zeitliche und räumliche Eingrenzung des zu untersuchenden Diskursfeldes ist. Gleichzeitig illustriert sie die Problematik der Subjektzentralität, welche die moderne Literatur durch die Figur des Autors aufweise. Laut Sarasin sei „der Diskurs eine Praxis, in der Subjekte zugleich ihre Welt gestalten, wie sie dabei von den Regeln des Diskurses geleitet, beschränkt und dezentriert werden.“106 Foucaults Diskursanalyse sei eine deskriptive Methode, um bestimmte Aussagen an die Oberfläche zu bringen und aus ihrer Reihung eine spezifische Logik abzuleiten.107

      Diskurse bilden demnach eine spezifische Wissensordnung ab. Dieses „immense[…] Gebiet“ konstituiere sich laut Foucault „durch die Gesamtheit aller effektiven Aussagen (énonces) (ob sie gesprochen oder geschrieben worden sind, spielt dabei keine Rolle) in ihrer Dispersion von Ereignissen und in der Eindringlichkeit, die jedem eignet […]“108. Diskurse bilden eine Ansammlung von Äußerungen, Verboten und Geboten und sind stets auf ein bestimmtes Wissensfeld bezogen, etwa die Medizin, die Ästhetik, die Gesellschaftspolitik etc. Foucaults Diskurs-Begriff ist also nicht auf die Sprache begrenzt, sondern weist darüber hinaus, d.h. er generiert sich ebenso aus dem Nicht-Gesagten, aus Handlungen und Verboten, die innerhalb einer bestimmten Gruppe oder innerhalb eines bestimmten Feldes praktiziert werden. Einzelne Diskurse können sich palimpsestartig überlagern, bestärken oder unterlaufen.109 Das heißt auch, dass ein bestimmter Diskurs als hegemonial betrachtet werden kann, er also eine bestimmte Dominanz über andere Diskurse ausübt. Diskurse bilden damit auch ein bestimmtes Machtgefüge ab, das sich wiederum auch räumlich verorten lässt. Foucault verwendet dafür den Begriff der Heterotopie.

      Heterotopie

      Die Heterotopie bezeichnet nach Foucault eine Raumfigur, welche die Strukturen von gesellschaftlichen Normen und insbesondere deren Grenzziehungen sichtbar mache, und wenn Sarasin in seiner Foucault-Einführung auf die „Parallelität von Diskursstrukturen und Raumstrukturen“ hinweist, dementsprechend die Heterotopie „ebenso die Ordnung bzw. eben Un-Ordnung eines Wissens bezeichnet wie auch eine räumliche Struktur, eine architektonische, eine topologische Anordnung“110, spielt er damit auf die doppelte Verwendung des Heterotopie-Begriffs bei Foucault an. Dieser sei einerseits aus der Literatur abgeleitet, wie Foucault mit Rückgriff auf Jorge Luis Borges‘ „Chinesische Enzyklopädie“ in der Einleitung zu Die Ordnung der Dinge (2016 [1966 franz.]) schreibt, und andererseits aus einem fundamental räumlich-soziologischen Denken, wie in seinem Aufsatz Von anderen Räumen (2006 [1984 franz.]) deutlich wird. Ausgangsfrage für die Konzeption des Heterotopie-Begriffs sei die Frage nach der „zugrunde liegenden Ordnungsstruktur, d.h. d[er] Art und Weise, wie mögliche Elemente von Wissen klassifiziert, gruppiert, aufgereiht und miteinander in Beziehung gesetzt werden.“111 Am Beispiel der „Chinesischen Enzyklopädie“ von Borges weist Foucault einer Ordnung, die außerhalb unseres Wissens bzw. unserer Erfahrung liegt, einen Ort zu. Er schreibt:

      Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich, weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im voraus die ‚Syntax‘ zerstören und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) ‚zusammenhalten‘ läßt.112

      Dieser Grundgedanke der Nebeneinander-Reihung, der in obigem Zitat verbalisiert wird, ist für die vorliegende Arbeit von immenser Bedeutung. Denn Onettis Texte verweisen, wenn auch nicht in gleichem Maße offensichtlich wie Borges‘ fiktive Enzyklopädie, so doch kontinuierlich auf eine spezifische (in diesem Fall patriarchale) Ordnungsstruktur, die in Kapitel 4 noch ausführlich erläutert und deren narrative Syntax nur im Kontext des Onetti’schen Gesamtwerks begreiflich wird. Innerhalb dieser Struktur wirken weibliche Widerständigkeiten als syntaktische ‚Störerinnen‘.

      Einige Jahre später transferiert Foucault seinen Heterotopie-Begriff in einen urbanistischen Kontext und weist diesen ‚Störerinnen‘ bzw. Störungen eigene Orte zu: In seinem programmatischen Aufsatz „Von anderen Räumen“113 definiert er Heterotopien als

      reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte […] zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.114

      Das heißt, Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm lassen sich im realen Raum verorten. Dies geschieht durch, je nach kulturellem Kontext verschiedene Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung. Im fünften Kapitel dieser Arbeit wird daher nicht nur zu untersuchen sein, in welcher Form sich weibliche Figuren bei Onetti dem patriarchalen System widersetzen, sondern auch, an welchen Orten diese Handlungen lokalisiert – und in diesem Sinne dort (und nur dort!) auch gesellschaftlich geduldet – sind. Die Heterotopie beschreibt damit eine Raumfigur, die eine gesellschaftliche Abweichung vom Inneren des Diskurses durch Abgrenzung in ein ‚Außen‘ verlagert.

      Je nachdem, unter welchen kulturellen Prämissen diese Grenzziehung vollzogen wird, unterscheidet Foucault Krisen- und Abweichungsheterotopien. Erstere seien vor allem in Kulturen zu finden, die Raum dichotomisch organisieren, etwa über die Zuschreibungen ‚heilig‘ und ‚profan‘ oder ‚privilegiert‘ und ‚verboten‘ – oder, wie sich hinzufügen ließe, ‚privat‘ und ‚öffentlich‘.115 In modernen Gesellschaften, so Foucault weiter, seien diese Formen der Raumaufteilung und damit die Krisenheterotopien jedoch „im Verschwinden begriffen“.116 Abgelöst würden sie von Abweichungsheterotopien. Diese bezeichneten „Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht“117.

      Insgesamt führt Foucaults sechs Punkte an, um die Merkmale und Modalitäten, die eine Heterotopie konstituieren, zu beschreiben.118 Zunächst bezeichnet er das Hervorbringen von Heterotopien als „eine Konstante aller menschlichen Gruppen“.119 Deren potentielle Veränderlichkeit bezüglich ihrer Funktions- und Bedeutungsweise im Laufe der Zeit bilde den zweiten Grundsatz.120 Für die vorliegende Arbeit bedeutet das, zu zeigen, welche Orte in Onettis Texten überhaupt als ‚Gegenorte‘ wirksam werden. Der dritte Grundsatz handelt von der räumlichen Vereinbarkeit eigentlich nicht vereinbarer Orte an einem einzigen Ort.121 Ein viertes Charakteristikum stellt die zeitliche Komponente in Form einer Heterochronie dar. Jede Heterotopie funktioniere demnach über „einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit“122. Foucault unterscheidet dabei zwischen „ewigkeitsorientierten“ Heterotopien, wie etwa dem Friedhof oder der Bibliothek einerseits, und „zeitweiligen“, d.h. temporär begrenzten bzw. repetitiven Heterotopien, wie etwa dem Jahrmarkt oder dem Theater andererseits.123 In Kapitel 5.3 dieser Arbeit wird es jedoch weniger um die damit beschriebene ‚Akkumulation‘ von Zeit gehen, sondern vielmehr um die Frage, über welche Zeitspanne genderspezifische Heterotopien bei Onetti wirksam sind bzw. ob sich überhaupt ein entsprechender ‚Wirkungszeitraum‘ definieren lässt. Der fünfte Grundsatz handelt von den praktischen Zugangsmodalitäten einer Heterotopie. Er setzt „ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie [die Heterotopie, eig. Anmk.] isoliert und zugleich den Zugang […] ermöglicht“124. Mit anderen Worten: Eine Heterotopie ist kein willkürlich wählbarer Ort, sondern bestimmten gesellschaftlichen Mechanismen und Gesetzen der Abgrenzung unterworfen, die den Zugang reglementieren – die Modalitäten dieser ‚Einlassbeschränkungen‘ sind wiederum abhängig von der jeweiligen Bedeutungszuschreibung