Johanna Vocht

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion


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Konzept der analogen Stadt des italienischen Architekten Aldo Rossi.66 Die Idee, die hinter Rossis Überlegungen stand, war, modernen Städtebau nicht nur an infrastrukturellen und ökonomischen Funktionen auszurichten, sondern kulturelle Analogien und Verweise zwischen Architektur und Stadt herauszuarbeiten, um dementsprechend zukunftsweisend zu bauen. Komi transferiert diese originär urbanistische Betrachtungsweise für ihre Studie in die Literaturwissenschaft:

      La expresión señala el punto de encuentro entre los componentes materiales del espacio, la memoria y los elementos imaginativos que forjan, también a su manera, este espacio.67

      El lenguaje de la ficción percibe, representa e inventa la ciudad y sus lenguajes.68

      Sie beschreibt zunächst die Besonderheiten, die das Buenos Aires (bzw. die rioplatensische Großstadt) der Zwischenkriegsjahre von europäischen Metropolen wie Paris oder London unterscheiden. Da ist einerseits die immense Zahl an europäischen Migranten zu nennen, die Buenos Aires zu Beginn des 20. Jahrhunderts in zwei mehr oder weniger parallel existierende Gesellschaften (die Norm-Gesellschaft sowie die davon abgespaltene randständige Gesellschaft der Einwanderer) teilt und andererseits die relative historische Unbeschriebenheit der rioplatensischen Gesellschaft („un tipo de tabula rasa“69). Die industrialisierungsbedingte Verstädterung tut ihr übriges, um die rioplatensische Großstadt der Zwischenkriegsjahre zu dem zu machen, was Komi als reale Vorlage für deren literarischen Repräsentationen bei Arlt und Onetti beschreibt:

      La Buenos Aires de los años veinte surge como una ciudad de cemento que crece y se extiende a un ritmo desenfrenado, amenazando no sólo las tradiciones locales sino, más profundamente, la integridad psicológica del individuo que transforma de repente en hombre de masas dentro de una ciudad masificada, en una fracción de la sociedad o en pieza de máquina.70

      Der rapide Anstieg der urbanen Bevölkerung sowie die zunehmende Ökonomisierung und Prekarisierung des städtischen Lebens befeuern die Entfremdung des Individuums, wie Komi fortfährt. Das ungebremste physische Wachstum der Stadt bedroht laut Komi nicht nur die ursprünglichen Traditionen, sondern vor allem auch die menschliche Psyche. So leidet das moderne Individuum sowohl in den Texten Arlts als auch in denen Onettis unter gesellschaftlicher Randständigkeit und Vereinsamung. Weiter verhandelt wird der Gegensatz zwischen einem Leben in Gesellschaft (Stadt) und einem Leben in Gemeinschaft (Peripherie, Land). Traum, Exzess und Gewalt sind laut Komi Strategien der städtischen Individuen, um den alltäglichen Entbehrungen und Feindseligkeit der Großstadt zu entfliehen bzw. um sich ihnen entgegenzustellen:

      Tanto en Arlt como en Onetti, la ciudad se vive como un mundo atroz, difícilmente tolerable y, a menudo, asociado a la marginación, deliberada o casual. La realidad de la megalópoli aplasta a los individuos y es urgente buscar alternativas. En este contexto, la fabulación, el fraude y el ensueño son mecanismos que introducen en lo real partes de mundos alternativos, con el objeto de restituir lo que falta.71

      Während Arlts Protagonist*innen die Großstadt als hypertrophes Gebilde wahrnehmen und sich vornehmlich in (sinnlose) Gewalt gegen sich selbst und andere stürzen, erfahren die Protagonist*innen in El pozo (1939) und Tierra de nadie (1941) die Stadt als fragmentierte Wirklichkeit, der sie sich nicht entgegenstellen, sondern der sie versuchen zu entkommen: Onettis Protagonist*innen ziehen sich in die Privatheit schäbiger Pensionszimmer und Tagträume zurück. Ihre Beziehung zur feindseligen Außenwelt ist weniger durch subjektive Konfrontation (wie etwa Erdosains Selbstmord bei Arlt) als vielmehr durch Kommunikationslosigkeit und Anonymität (sprechend ist in diesem Kontext bereits der Romantitel Tierra de nadie) gekennzeichnet.72

      Rocío Antúnez‘ Monographie Caprichos con ciudades (2014) untersucht, wie auch Komi, Texte Onettis vor 1950 (journalistische Arbeiten eingeschlossen) und klammert damit Santa María weitestgehend aus. Anders als Komi fokussiert Antúnez jedoch eine literaturhistorische und biographische Einordnung Onettis in die lateinamerikanische Großstadtliteratur (bezüglich Buenos Aires und Montevideo). Eine weitreichende Beobachtung bezieht sich dabei auf Buenos Aires als ‚Stadt ohne Gedächtnis‘73. Das dadurch fehlende Identifikationspotential (das jede Form von kollektiver Erinnerung eigentlich vermittelt) schlägt sich laut Antúnez auch auf Onettis Protagonisten in Tierra de nadie (1941) nieder und das städtebauliche Äquivalent dieser „ciudad de todos y de nadie“74 findet seine Entsprechung im Mikrokosmos des Hotel- oder Pensionszimmers. Die Dominanz dieser geschichtslosen, nomadischen Wohnform zieht sich leitmotivisch durch Onettis Gesamtwerk. Seine männlichen Protagonisten leben, um Antúnez‘ Überlegungen weiterzuführen, nicht nur in Buenos Aires und Montevideo, sondern auch in Santa María teilweise in Transiträumen, wie etwa Junta Larsen im Hotel Berna (El astillero, 1961).

      Eine weitere Forschungsarbeit, deren Ergebnisse für die vorliegende Untersuchung fruchtbar gemacht werden können, ist Andrea Mahlendorffs komparatistisch angelegte Raumstudie Literarische Geographie Lateinamerikas (2000). Mahlendorffs Analysekorpus ist breiter angelegt als das in Komis oder Capras Arbeiten. In ihrer Lektüre rekurriert sie auf Untersuchungen von Fernando Aínsa sowie auf Héctor Alvarez Murenas Essay El pecado original de América (1954).75 Ziel ihrer Analyse ist das Herausarbeiten eines lateinamerikanischen Raumbewusstseins, d.h. die Repräsentation der Stadt bildet nur eine Form von Räumlichkeit ab, die Mahlendorff untersucht. Ihre Lektüre von Tierra de nadie (1941) und La vida breve (ergänzt durch einen Vergleich mit Julio Cortázars Rayuela, 1963) deckt damit auch ein Forschungsdesiderat ab, das die komparatistischen Großstadtstudien von Campra, Komi und Antúnez bezüglich Santa María offenlassen. So zeichnet Mahlendorff in ihrer Untersuchung eine poetologische Genese anhand räumlicher Parameter auf. Santa María beschreibt in dieser Lesart den „Übertritt vom geographischen in den imaginären Raum“76. Den Roman Tierra de nadie (1941) liest Mahlendorff als „Prolog auf den neun Jahre später erscheinenden Roman La vida breve“77. Ähnlich wie Komi sieht auch Mahlendorff die urbanen Individuen in Tierra de nadie (1941) von Vereinsamung, Anonymität und gesellschaftlicher Ohnmacht geprägt:

      Aus den vereinsamten Individuen, die Onetti in den Blick nimmt, ergibt sich das bedrückende Bild der anonymen Massengesellschaft, in der es dem Einzelnen nicht gelingt, ein persönliches Profil zu entfalten. Die wesentlichen Kennzeichen dieser Gruppe von Personen, die Onetti in seinem Roman vorstellt, sind Einsamkeit und Gleichgültigkeit. Er entwirft in ihnen eine indifferente Generation, die sich ihrem Schicksal machtlos ausgeliefert sieht.78

      Die Entfremdung des modernen Individuums, die Mahlendorff paradigmatisch mit einem Ausspruch Diego Aránzurus79, einem der Protagonisten des Romans Tierra de nadie (1941), belegt, verweist auf das gestörte Verhältnis des vereinsamten Großstädters zu seinen kulturellen Ursprüngen. Ungelöste Identitätskonflikte, die sich in einem Hin- und Hergeworfen-Sein „zwischen Metropole und gran aldea auf der Suche nach dem eigenen Profil“80 artikulieren, dominieren die bruchstückhaften Figuren-Dia- und Monologe, aus denen sich Tierra de nadie (1941) zusammensetzt. Laut Mahlendorff eint alle Figuren das Gefühl persönlicher Schuld und persönlichen Scheiterns. Eine alles umspannende Langeweile beherrsche die gesamte Romanhandlung. Die Stadt werde nicht nur als identitätslos, sondern auch als Gefängnis wahrgenommen, dem es zu entfliehen gelte. „Die Überforderung angesichts einer chaotischen Welt“, so resümiert Mahlendorff die Verfasstheit der Figuren, „macht den Menschen entscheidungs- und handlungsunfähig. Einzige Fluchtburg bleibt die Welt der Imagination.“81 In diesem Sinne deutet Mahlendorff Aránzuru als „Urform Brausens“ und damit als intertextuelle Verbindung zwischen Tierra de nadie (1941) und La vida breve (1950):82

      –En fin … Me voy a dedicar a inventarte. ¿Me entendés? Imaginar quién sos. Pensá un poco. Todos estos días juntos, piel con piel. Pero cada uno está preso en sí mismo y … Todo el resto es ilusión. (TN 221).

      Das laut Mahlendorff zweite offensichtliche Bindeglied zwischen Tierra de nadie (1941) und La vida breve (1950) bildet der Fluss, denn während „el río sucio, quieto, endurecido“ (TN 228) den Text Tierra de nadie (1941) beschließt, bildet der Fluss in La vida breve (1950) eine erste topographische Referenz für die Situierung Santa Marías. Das entsprechende Kapitel ist mit „Díaz Grey, la ciudad y el río“ (VB 428) überschrieben.

      Mahlendorffs