Johanna Vocht

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion


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die er gegenüber Díaz Grey und den anderen Figuren anwendet, eben gerade nicht darin, sie zu töten. Besonders ausgeprägt tritt diese Technologie in einem kategorischen Verbot von Abtreibungen zutage. Dies soll in Kapitel 4.3 näher ausgeführt werden. So gilt Selbstmord in Brausens moralischem Koordinatensystem als Todsünde und ‚Desertation‘, wie Díaz Grey in La muerte y la niña (1973) erläutert: „No le hablo de una destrucción total porque también eso sería pecado mortal. Y Brausen no perdona las deserciones.“ (MN 587)

      Ein Regierungssystem, das laut Foucault auf Bevölkerung als strategische (oder, bezogen auf das Analysekorpus, wie Brausen als poetologische) Ressource baut, zielt also einerseits auf das Hervorbringen, Vermehren und die Pflege dieses Gesellschaftskörpers. Andererseits versucht es, dessen Produktion durch Regeln und Normen zu kontrollieren, d.h. staatlich zu lenken. Diesen Wechsel von einem Machtverständnis ‚von unten‘, d.h. der grundsätzlichen Negierung einer staatlichen Macht und der Betonung des anarchischen Moments von Macht, zu einer leitenden, führenden Staatsmacht, vollzieht Foucault in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität in den 1970er Jahren, wie Brigitte Bargetz, Gundula Ludwig und Brigit Sauer konstatieren. Sie stellen dar, dass Foucaults Verständnis von Macht in seinen frühen Schriften vor allem als Gegenentwurf zu einem rein staatlichen, juridischen Machtverständnis konzipiert war. Dieses sei vor allem durch eine umfassende Relationalität gekennzeichnet, die eine Herrscherinstanz ausschließe. Macht durchdringe damit bei Foucault sowohl gesellschaftliche als auch private Kontexte und sei unabhängig von einer übergeordneten Distanz, welche die Macht ‚innehalte‘.156 Diese allumfassende Relationalität wurde teilweise als Beliebigkeit, im Sinne eines „Kampfes ‚jeder gegen jeden‘“157, interpretiert und bildet damit auch einen der drängendsten Kritikpunkte an Foucaults Machttheorie. Bargetz, Ludwig und Sauer arbeiten jedoch heraus, dass Foucaults Machtkonzeption das Dilemma der vorgeblich fehlenden Herrscherinstanz (welche sich aus einer Negierung staatlicher Hegemonie ergibt) mit der Einführung des Begriffs der Gouvernementalität löst.158 So definiere der moderne Staat beispielsweise, welches Leben grundsätzlich als schützens- und vermehrenswert anzusehen ist. Daraus ergebe sich, so Foucault, auch das Problem des Rassismus als Grundlage für eine Bevölkerungspolitik, die nicht mehr genealogisch, sondern genetisch argumentiert.159 Das heißt, Foucaults Rassismus-Verständnis zielt auf eine Biopolitik, die innerhalb des biologischen Gesellschaftskörpers ansetzt und in ihren Disziplinierungsmaßnahmen ‚das Gesunde‘ vom ‚Kranken‘ scheidet und diese Grenzen auch nach außen hin, d.h. im Krieg mit anderen, verteidigt.160 Innergesellschaftlich manifestieren sich diese Unterscheidungen zwischen krank und gesund wiederum räumlich – etwa in den bereits angesprochenen Disziplinierungsarchitekturen, die er als Heterotopien beschreibt. Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird zu zeigen sein, inwieweit die dichotomische Unterscheidung in ‚krank‘ und ‚gesund‘, ‚schmutzig‘ und ‚sauber‘ den Machtdiskurs innerhalb Santa Marías prägt und welche Auswirkungen dies auf den Reproduktionsdiskurs hat.

      2.3 Gendertheoretische Anschlüsse an Foucaults Gouvernementalitätsansatz

      Entgegen einer allgemeinen Kritik an Foucaults ‚Genderblindheit‘ skizzieren Bargetz, Ludwig und Sauer mehrere feministische Anschlussmöglichkeiten an Foucaults Macht- und Gouvernementalitätsverständnis:161

      Foucaults Theorem des Staates als Effekt von Praxen evoziert aus einer feministischen Perspektive die Frage, wie hegemoniale Konstruktionen von Geschlecht diese Praxen mitformen. Und das Theorem kann dazu dienen, Erklärungen für den androzentrischen, weißen, heteronormativen, ability-zentrierten, bürgerlichen Charakter des modernen westlichen Staates jenseits von essentialistischen Setzungen zu Geschlecht zu finden. Die androzentrische Ausgestaltung des Staates ist somit nicht Ausdruck von Männerherrschaft oder ein Spiegel des ideellen Gesamtpatriarchen, wie dies in frühen feministischen staatstheoretischen Arbeiten argumentiert wurde. Vielmehr wird die historisch-spezifische Rationalität des Staates durch in Praxen gelebte androzentrische, heteronormative, rassisierende, kapitalistische und ability-zentrierte Gouvernementalität begründbar. Nicht zuletzt lassen sich darüber Debatten um (heteronormative) Familien- und Reproduktionspolitiken sowie (vergeschlechtlichte) Sicherheitsdiskurse neu fassen, wenn diese mit Foucault als staatliche Praxen und Teil von Bevölkerungspolitik ausgewiesen werden […].162

      Das Zitat adressiert zunächst die Bedeutung, die sozial konstruierte plurale Männlich- und Weiblichkeiten in Bezug auf Foucaults Machtbegriff haben, auch wenn er selbst dieses theoretische Potential nicht ausgeschöpft hat. Die Autor*innen verweisen auf die Möglichkeit, über Foucaults Gouvernementalitätsverständnis geschlechtsspezifische Akkumulationen von Macht, wie sie insbesondere patriarchale Strukturen aufweisen, aufzuschlüsseln. Ihr Anschlussvorschlag richtet sich damit gegen feministische Patriarchatstheorien, die eine bestimmte Männlichkeit als eindimensional und alleinursächlich für die Unterdrückung der Frau gelesen haben.163 Mit Foucault, so ihre Argumentation, ließen sich spezifisch androzentrische, heteronormative, rassisierende, kapitalistische und ability-zentrierte Strukturen und Verhaltensweisen als Effekte von Macht und nicht als konstitutiv für eine moderne westliche Regierungsform herausarbeiten. Der zweite Punkt, auf den das obige Zitat verweist, ist die geschlechterspezifische Adressierung, die Bio- oder Bevölkerungspolitik beinhaltet und die über eine gendersensible Perspektive sichtbar gemacht werden kann. Das heißt, mit Foucaults deskriptiver Methode, Machtstrukturen offenzulegen, lassen sich genderspezifische Ungleichheiten und Asymmetrien ablesen. Ausführlich erläutert wird dieser Anschluss von Isabell Lorey in ihrem Beitrag "Das Gefüge der Macht" (2015). Nach der Analyse der konzeptuellen Veränderungen, die der Begriff der Macht innerhalb des Foucault’schen Gesamtwerks erfahren hat, fokussiert Lorey genderabhängige Strategien von Gouvernementalität und insbesondere solche, die sich auf die Lenkung weiblicher Sexualität sowie weiblicher Gebär- und Erziehungsfähigkeit beziehen. Sie macht Foucaults Machtbegriff damit für die Untersuchung weiblicher Widerständigkeit und Selbstbehauptung innerhalb eines, so eine der initialen Thesen dieser Arbeit, männlich dominierten Diskursraums Santa María fruchtbar. Als Hauptanknüpfungspunkt für ihre feministische Re-Lektüre der Foucault’schen Machtgefüge nennt Lorey die Verwendung des Wortes „sexe“. Sie übersetzt „sexe“, anders als die bei Suhrkamp erschienene deutsche Übersetzung seines Gesamtwerks, als ‚Geschlecht‘ und leitet daraus eine bei Foucault zwar nicht explizit ausgeführte, jedoch grundsätzliche Offenheit bezüglich gendertheoretischer Zugänge ab. Sie schreibt:

      Mit Geschlecht bezeichne ich im Folgenden jene identitäre Materialisierung biopolitischer Machtverhältnisse, die Foucault im Französischen als sexe bezeichnet und die in den deutschen Übersetzungen seiner Texte in der Regel missverständlich mit dem Wort ‚Sex‘ angegeben ist. Sexe/‚Geschlecht‘ umfasst hier die Konstruktion eines vereindeutigten und vereinheitlichten biologischen und sozialen Geschlechts mitsamt einer heteronormativen Sexualität.164

      Diese heteronormative Sexualität, die Lorey anspricht, thematisiert Foucault vor allem über ihre Normierung innerhalb der bürgerlichen Familie. Diese fungiere als „Element innerhalb der Bevölkerung und als grundlegendes Relais zu deren Regierung.“165 In seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität erläutere Foucault die Transformation der bürgerlichen Familien von einem „Modell zum Instrument der Regierung“166 folgendermaßen:

      [D]ie Regierungskunst konnte bis zum Aufkommen der Bevölkerungsproblematik nur vom Modell der Familie, von der als Verwaltung der Familie verstandenen Ökonomie her gedacht werden. Von dem Moment an, wo die Bevölkerung im Gegenteil als etwas auftaucht, das sich durchaus nicht auf die Familie reduzieren läßt, wechselt die Familie im Verhältnis zur Bevölkerung folglich auf eine niedrigere Ebene; […] Sie ist also kein Modell mehr, sie ist ein Segment, ein einfach deshalb privilegiertes Segment, weil man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, hinsichtlich der Demographie, der Kinderzahl, hinsichtlich der Konsumtion etwas erreichen will, sich an die Familie wenden muß.167

      Die bürgerliche Familie als symbolischer Ort biologischer Reproduktion, Erziehung und privater Fürsorge wurde somit zum wichtigsten Hebel biopolitischer Strategien. Über die Steuerung der bürgerlichen Familie ließen sich etwa medizinische Erkenntnisse zur Vermeidung von Kindersterblichkeit in den Gesellschaftskörper einspeisen. Familienpolitik wurde damit zum Schlüsselelement der Biopolitik