Johanna Vocht

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion


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Mütter bestimmen in Lateinamerika nicht nur über die Küche und das Haus [sic] sondern auch über die Erziehung der Kinder. […] Die Frauen erhalten somit eine starke Stellung innerhalb bestimmter Räume, und zwar in Familie und Haus. Dies bedeutet, dass keine Konkurrenz zu den männlichen Machtansprüchen entsteht. Die Geschlechterrollen und -sphären sind derart deutlich voneinander abgegrenzt, dass sie einander kaum tangieren, zumal der weibliche Bereich als privat deklariert wurde und eine eventuelle Einschränkung männlicher Dominanz hier für die Männer nicht ehrenrüchig ist.224

      Doch was, wenn diese genderspezifische Dichotomie nicht eingehalten wird? Oder was bedeutet es für das geschlechterspezifische Machtgeflecht, wenn Frauen zwar als mütterlich dargestellt werden, tatsächlich jedoch kinderlos, sprich keine Mütter sind? Beide Fälle bilden in Onettis Texten mehr die Regel denn die Ausnahme. Dementsprechend soll im fünften Kapitel dieser Arbeit auch der Frage nachgegangen werden, welche Macht- und Raumzuschreibungen mit kinderlosen Frauen verbunden sind – insofern durch die Kinderlosigkeit ja das christlich heteronormative Raum-Geschlechter-Verhältnis unterlaufen wird. Ebenfalls zu untersuchen sein werden die Männerfiguren, mit denen es sich ähnlich verhält: Denn auch sie werden bei Onetti überwiegend als kinderlos dargestellt – oder als solche, die kompensatorische Formen der biologischen Vaterschaft praktizieren, wie im vierten Kapitel noch ausführlich zu erläutern sein wird. Daraus wiederum lässt sich die Vermutung ableiten, dass ein Großteil der männlichen Figuren bei Onetti zwar Komplizen der hegemonialen Männlichkeit, wie sie Fuller expliziert, sind, zu dieser jedoch im Verhältnis als Marginalisierte oder Untergeordnete stehen. Eine Untersuchung, die sich diesen untergeordnetten Männlichkeiten im soziokulturellen Kontext des La-Plata-Raums und insbesondere in dem von Onetti vornehmlich dargestellten Milieu der Nachtclubs und Cabarets widmet, stammt von Eduardo P. Archetti und soll im Folgenden vorgestellt werden.225 Ein detaillierter Abgleich dieser Männlichkeiten mit jenen in Onettis Texten erfolgt in Kapitel 4.3.

      Im Unterschied zu Stevens‘ anthropologischer und Ramírez‘ ethnographischer Herangehensweise basieren Archettis Untersuchungen auf der narrativen Analyse klassischer Tango-Texte: „The analysis of tango lyrics is rooted in the classical period of the tango-canción (tango-song) from 1917 to 1935. Most significant tango narratives were produced in that period […].”226 Archetti setzt eine stereotypisierte, heterosexuelle Männlichkeit, die vor allem auf einer Unterordnung der Frau basiert, als hegemonial für den rioplatensischen Kontext. In Abgrenzung (Unterordnung oder Subversion) dazu, arbeitet er mehrere plurale Männlichkeiten innerhalb des Tango-Diskurses heraus:

      The comparative masculinities depicted in the universes of tango […] appear as fluid, ambiguous, on occasion contradictory, perhaps subversive of a dominant and hegemonic heterosexual Argentine masculinity based on the institutionalization of men’s dominance over women. The active men in the ritual arenas of […] tango are dispossessed of social power and wealth, and, therefore, less concerned with the reproduction of the image of a dominating middle-class ‚pure‘ heterosexual male.227

      Wenngleich Archetti in seinen Ausführungen den Terminus Machismo vermeidet, ist anzunehmen, dass er auf eben dieses Phänomen anspielt, wenn er in obigem Zitat die Schlüsselbegriffe ‚heterosexuell‘, ‚Ehe‘ (die er als institutionalisierte Herrschaft der Männer über die Frauen paraphrasiert) und ‚dominant‘ aufruft. Außerdem stellt er die verschiedenen Männlichkeiten in einen Klassenkontext, indem er auf die Aspekte von sozialem und ökonomischem Kapital (social power and wealth) eingeht. Ein weiterer Punkt, den obiges Zitat addressiert, ist die Fluidität der untersuchten Männlichkeiten. Sie stehen damit in einem mitunter gegensätzlichen, ambivalenten und konkurrierenden Verhältnis zueinander, da es laut Archetti mitnichten das eine gültige Tango-Narrativ gibt, sondern auch hier wieder von einer Pluralität, diesmal innerhalb der verschiedenen Texte ausgegangen werden muss.

      Eines der Hauptmotive, das Archetti innerhalb dieser heterogenen Narrative untersucht, ist das der unerfüllten, romantischen Liebe. Heterosexuelle, kinderlose Paare ohne Trauschein konstituierten diese Form des ‚romantischen‘ Zusammenlebens, wobei üblicherweise ‚die Männer‘ von ‚den Frauen‘ verlassen würden. Der Trennungsschmerz und der ob des Verlassen-Werdens erlittene Kontrollverlust stürze ‚die Männer‘ in eine Identitätskrise.228 Anders als in den Konzepten von Machismo und Marianismo, in deren Zentrum Reproduktion und Familie stehen, fokussiert der Tango-Diskurs damit die freie, heterosexuelle Liebe als Gegenentwurf zur bürgerlichen, institutionalisierten Form von Ehe und Familie:

      [T]he basic elements in the cultural construction of romantic love are intimacy, companionship or friendship, the existence of mutual empathy, and the search for sexual pleasure. […] they are perceived as ‚subversive‘ to family life and ordered biological reproduction.229

      Der archetypische „‚man of the tango‘ is middle-aged, single, middle-class“ und auf der Suche nach ‚der Liebe‘ – und nicht nach einer devoten Ehefrau samt zugehörigem, konventionellem Familienleben, wie im Machismo/Marianismo dargestellt. Gegenseitige Liebe, Loyalität und Freundschaft bestimmen die Beziehung, welche dieser so genannte „romantic lover“230 laut Archetti zum Idealbild erhebt. Die zugehörige ‚ideale Frau‘ ordne sich ihm nicht mehr unter und verkörpere auch nicht mehr die für den zeitgenössischen Liebesroman prototypischen Tugenden wie Jungfräulichkeit und Keuschheit, sondern agiere frei und selbstbestimmt. Treue basiere für den romantischen Liebhaber auf wahrer, ‚authentischer‘ Liebe und nicht auf ehelicher Übereinkunft oder als Folge autoritären männlichen Verhaltens. Das heißt, er erwartet, dass seine Geliebte ihm aus freien Stücken treu ist und nicht unter dem Druck gesellschaftlicher Konventionen und männlicher Autorität agiert. Männliche Sexualität richte sich demnach nicht auf Reproduktion, sondern auf sexuelle Erfüllung und die wiederum unerfüllbare Sehnsucht nach der ‚wahren‘, romantischen Liebe. Die spezifische Weiblichkeit, die auf der Suche nach der unerreichbaren ‚wahren‘ Liebe adressiert wird, sieht Archetti daher in der Figur der unabhängigen, selbstbestimmten Liebhaberin verwirklicht: „In the discourse of romantic love women can decide for themselves whom to love. In such cases the chosen man is responsible only for himself and not for her decisions and feelings.“231 Frauen erreichten damit einen Grad an Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit, die jegliche bürgerliche, heteronormative Vorstellung von Weiblichkeiten, die immer in Bezug auf oder in Abhängigkeit von einem Mann konstruiert seien, unterliefen.232 Das Dilemma dieser Beziehung liege in deren Umsetzung, wie der Terminus ‚romantisch‘, sofern er in seinem eurozentrischen Ursprungssinn erfasst wird, bereits impliziere. Denn Beständigkeit habe nach wie vor nur die gesellschaftlich anerkannte Form der Ehe und damit die Erfüllung christlich-bürgerlicher Rollenanforderungen an die Eheleute. Die ‚wahre‘ Liebe bleibe damit nur als Utopie oder unerreichbares kulturelles Konstrukt bestehen. Sobald die Liebenden zueinander gefunden haben, trete, wie Archetti fortfährt, die paradoxe Situation ein, dass die romantische Liebe durch den Weggang der Frau entweder unglücklich ende oder sich in die bürgerlichen Rollenbilder, die sie unterlaufen wollte, fügen müsse.

      Im Gegensatz dazu sei das materialistische Denken der „milonguita“233 innerhalb des Narrativs der romantischen Liebe als oberflächlich und letztlich zerstörerisch markiert – gleichwohl sei sie immer wieder ebenfalls Adressatin des romantischen Liebhabers. Allerdings nur in Form eines unerreichbaren Objekts der Begierde, da dem romantic lover meist die finanziellen Mittel (wealth) fehlten, um ihr das bieten zu können, wonach sie strebe: nämlich einer Verbesserung ihrer sozialen und materiellen Situation. Archetti beschreibt die Tango- bzw. Cabaret-Tänzerin als „sensual and egoistic“; außerdem verfüge sie über „self-confidence that emanates from their beauty and elegance“:234

      The milonguita escapes from the barrio, from poverty perhaps, and from a future as a housewife, to the center […], to the excitement, luxury, and pleasure that the best cabarets offer to young, ambitious, and beautiful women.235

      Die Tango-Tänzerin versuche durch Weggehen aus dem eigenen, meist ärmlichen Viertel den sozialen Aufstieg und einen Ausbruch aus dem gesellschaftlich vorgezeichneten Weg als Mutter und Hausfrau – oder, wie im Falle Miriams in La vida breve (1950), aus der elenden körperlichen Ausbeutung als prekäre Prostituierte.236 Der Aufbruch der Tänzerin sei mit einem Streben nach ökonomischer