Johanna Vocht

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion


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provide a space of ‚freedom‘.“237 Dabei ist das Leben als Tänzerin auch stark an Aspekte der Physis geknüpft, denn, wie Archettis Zitat zeigt, ist dieser Weg jungen und schönen Frauen vorbehalten. Mit zunehmendem Alter verliert deren Körperkapital an Wert und führt in die Einsamkeit der Verlassenen. Denn die oberflächlichen, materialistischen Geschenke, die ihnen reiche Männer, Archetti bezeichnet sie als „bacanes“238, bieten, erhalten sie nur, solange sie dem reichen Mann einen körperlichen Gegenwert in Form von Jugend und Schönheit bieten können.

      Der reiche bacán, der seinen Wohlstand zur Verführung junger milonguitas einsetzt, repräsentiert eine Männlichkeit, die innerhalb des Tango-Diskurses als hegemonial wahrgenommen wird. Sie verweist den romantischen Liebhaber auf eine untergeordnete Position. Ökonomische Potenz gilt demnach als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit. Der prototypische Macho nach Stevens bietet demnach einen Brückenschlag zwischen den unterschiedlichen Männlichkeiten an – insofern Archetti den bacán allein in Relation zur milonguita schildert. Dessen soziokulturellen Hintergrund, z.B. den entscheidenden Umstand, ob er verheiratet ist oder Kinder hat, erwähnt Archetti nicht – auch nicht in der Negation. Er schildert ihn allein in seinen sozialen Interaktionen im öffentlichen Raum, d.h. dem Tango-Milieu.

      Neben den Archetypen des romantic lover und des bacán arbeitet Archetti jedoch noch eine dritte wichtige männliche Figur innerhalb des Tango-Diskurses heraus, die, wie das nächste Zitat verdeutlichen soll, vor allem in seiner Körperlichkeit und seinem Überlegenheitsstreben auf ‚den Macho‘ nach Stevens verweist. Der compadrito repräsentiert den Typus des ‚eleganten Verführers‘ (im Gegensatz zu dem hauptsächlich als reich dargestellten bacán). Archetti beschreibt ihn als jemanden

      whom no woman is able to resist, and is admired because of his courage, physical strength, and capacity to cheat where necessary. [He] has a defiant and hostile attitude toward other men. In the code of honor defended by the compadrito, violence and fighting establish and reproduce social hierarchies. […] He is very concerned with women’s loyalty but in a context where men expect obedience and submission from their women. He is a character from the outskirts, not the center, of the city. […] In this context male honor is very dependent on female sexual behavior. In some cases the betrayal by the women is punished by death, but in most, the woman is described as weak, unable to resist temptation. The ‚other man‘ takes advantage of her moral fragility, and, consequently, is punished.239

      Seine soziale Stellung erreiche und verteidige der compadrito mittels Gewalt. Interaktionen mit anderen Männern seien von Feindseligkeit und Konkurrenzkampf geprägt. Durch Mut, körperliche Stärke und, wenn nötig Betrug, verschaffe er sich Respekt innerhalb homosozialer Kontexte. Seine männliche Ehre sei von der Treue seiner Geliebten abhängig. Das heißt im Umkehrschluss, er fordert ihre Treue als Beweis seiner Männlichkeit ein – in der romantischen Liebe beruhte diese, wie bereits erläutert, auf der freien Selbstbestimmung der Frau. Der compadrito hingegen ahnde den Betrug, sofern seine Geliebte es überhaupt wagt, ihn zu betrügen, mit körperlicher Bestrafung, die auch den Tod der Frau bedeuten könne. Außerdem räche er sich an dem Konkurrenten, der die weibliche Schwäche ausgenutzt und die Ehre des compadrito verletzt hat. Dass Frauen dieser Art von Männlichkeit nicht nur machtlos gegenüberstehen, sondern ihr auch nicht widerstehen können, wird im Tango-Diskurs auf ihren schwachen Charakter zurückgeführt. Hauptmerkmale dieser spezifischen Weiblichkeit seien Abhängigkeit von der brutalen Männlichkeit des compadrito sowie Verschlagenheit.

      Allerdings befinde sich der compadrito in vielen Tango-Texten in der Krise. Als Ausdruck dieser Krisenhaftigkeit führt Archetti die Tatsache an, dass der compadrito seine verletzte Ehre in einigen Fällen nicht mehr durch Tötung der untreuen Geliebten wiederherzustellen, sondern den Ehrverlust tränenreich betrauere und die Frau zu vergessen versuche:

      Many tangos between 1917 and 1930 present the figure of the compadrito in a deep identity crisis. In ‚La he visto con otro‘ (I have seen her with another man) the betrayed man will not kill her: while crying, he will try to forget her.240

      In anderen Narrativen erfahre der betrogene compadrito vermittels der ‚transformativen Kraft der Liebe‘ Läuterung. Anstatt sein Leben durch die kontinuierliche Konkurrenz und körperliche Auseinandersetzung mit anderen Männern aufs Spiel zu setzen, nehme er den potentiellen Ehrverlust hin.241 Das heißt, der Betrug kann für den compadrito nicht nur bedeuten, durch die Rache an seinem Konkurrenten das eigene Leben riskieren zu müssen, sondern er kann die Ehrverletzung gleichsam als Katharsis nutzen.

      Die letzte archetypische heterosoziale Konstellation, die Archetti anführt, ist die von Mutter und Sohn. Dabei werde, so Archetti, der männliche Protagonist der Tango-Narrative niemals als Vater, sondern immer als Sohn dargestellt. Das Bild der idealisierten Mutter werde mit Begriffen wie „purity, suffering, sincerity, generosity, and fidelity“ assoziiert: „The idealized mother is the source of boundless love and absolute self-sacrifice.“242 Reinheit, Leiden und Selbstaufopferung spielen wieder deutlich auf das weibliche Idealbild im Marianismo an, während Aufrichtigkeit, Großzügigkeit, Fröhlichkeit und grenzenlose Liebe eher auf charakterliche Aspekte und Verhaltensweisen deuten, die mit der spezifischen Weiblichkeit der unabhängigen Geliebten korrespondieren.

      Zwei Weiblichkeiten schlössen sich in Archettis Analyse jedoch aus. So besitze die klassische Mutterfigur zwar durchaus Charakteristika der unabhängigen Geliebten, mit der spezifischen Weiblichkeit der Tänzerin sowie dem freiheitlichen Ideal einer romantischen Liebe sei sie jedoch komplett inkompatibel. Archetti argumentiert, dass aus einer freiheitsliebenden Tänzerin (und einer unabhängigen Geliebten) keine aufopferungsvolle Mutter werden könne und vice versa:

      The milonguita cannot be transformed into a ‚mother‘, and, conversely, the ‚mother’s‘ world excludes the nightlife of the public sphere. In other words, a milonguita will never be a wife, or a mother of many children. Hence, for the chaste mother, romantic love is impossible, just as motherhood is impossible for the milonguita.243

      Die Inkompatibilität dieser Weiblichkeiten ist nicht zuletzt an die spezifischen Räumlichkeiten gebunden, welche die jeweiligen Figuren besetzen: die Mutter das Haus als private Enklave, die Tänzerin die Cabarets im öffentlichen Raum.244 Während Muttersein an den häuslichen Raum gebunden ist und heteronormativen Zwängen unterliegt, verkörpert die Tänzerin Werte wie absolute Freiheit und Selbstbestimmtheit, die sie nur in der Öffentlichkeit ausleben kann.245

      Nach diesem Überblick über den theoretischen Grundstock dieser Arbeit, beginnt mit dem folgenden Kapitel die Textarbeit an ausgewählten Romanen und einer Kurzgeschichte Onettis. Doch zunächst einmal soll über die Analyse der diskursiven Darstellung Santa Marías das Untersuchungskorpus eingehend vorgestellt werden.

      3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt: Die diskursive Ausgestaltung Santa Marías innerhalb des Analysekorpus

      El profesor preguntó si el nombre de Santamaría

      me era conocido. Le dije que toda América del Sur

      del Centro estaba salpicada de ciudades

      o pueblos que llevaban ese nombre.

      -Ya lo sé. Pero nuestra Santamaría es cosa distinta.246

      Juan Carlos Onetti (1993)

      Mit La vida breve (1950) entsteht auch Santa María als einer der prägendsten imaginären Orte der lateinamerikanischen Literatur. Denn, wenngleich dieses scheinbar so vertraute und gleichzeitig so schwer greifbare fiktive Territorium stets mit den weitaus berühmter gewordenen Topographien Comala von Juan Rulfo oder Gabriel García Márquez’ weltbekanntem Macondo verglichen wird, so gerät dabei oftmals eines in Vergessenheit: Am Beginn dieser modernen literarischen Entwicklung Lateinamerikas, einen spezifischen Ort ins Zentrum einer oder mehrerer Erzählungen zu stellen, steht Santa María. Der Roman, in dem Juan María Brausen Santa María erstmals imaginierte, erschien 1950, von Comala erfuhren die Leser*innen 1955, von Macondo 1967.

      Santa María geht auf eine Drehbuchidee der Romanfigur Juan María Brausen in La vida breve (1950) zurück.