Johanna Vocht

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion


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aufgeschrieben, geschweige denn verfilmt wird, gilt Santa María – zumindest als Drehort im Roman – als gescheitert:

      Yo ya había aceptado la muerte del argumento de cine, me burlaba de la posibilidad de conseguir dinero escribiéndolo; estaba seguro de que las vicisitudes que había proyectado con precisión y frialdad para Elena Sala, Díaz Grey y el marido no se cumplirían nunca. (VB 533)

      Als – von dem realen Autor Onetti zu Papier gebrachter – literarischer Diskursraum verbindet Santa María jedoch fast alle Texte, die Onetti nach La vida breve (1950) verfasst hat. La vida breve (1950) wird damit zum Gründungstext innerhalb des Gesamtwerks. Wie in der Einleitung bereits dargestellt, widmet sich vorliegende Arbeit insbesondere den Santa-Maria-Texten Onettis, die das Verhältnis von künstlerischer Produktion und biologischer Reproduktion abbilden. In editionschronologischer Reihenfolge sind dies: La vida breve (1950), Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968), La muerte y la niña (1973) sowie Dejemos hablar al viento (1979). Die fünf ausgewählten Erzählungen sind damit nicht nur durch Santa María als Diskursraum verbunden, sondern auch durch einen thematischen Schwerpunkt: Sie verhandeln allesamt Elternschaft und Reproduktion als dysfunktionale Systeme.247 Dieser Dysfunktionalität steht die Darstellung künstlerische Produktion als herausgehobener Selbstzweck entgegen, wie im vierten Kapitel anhand männlicher Erzähler und männlich konnotierter Erzählkunst herausgearbeitet werden soll. Inwieweit die Problematisierung von Elternschaft als Strategie weiblicher Selbstermächtigung gelesen werden kann, soll im fünften Kapitel untersucht werden. In diesem Kapitel soll jedoch zunächst einmal Santa María vermessen werden, einerseits als alle Erzählungen umspannender Diskursraum, andererseits aber auch als Stadtraum, dessen räumliche Ausgestaltung wiederum in Wechselwirkung zur Darstellung genderabhängiger Machtverhältnisse innerhalb der Texte tritt. Gleichzeitig stellt dieses Kapitel einen inhaltlichen Überblick über die einzelnen untersuchten Texte sowie deren Verknüpfung innerhalb des Analysekorpus dar.

      Im Sinne einer narrativen Rahmung können die beiden Romane La vida breve (1950) und Dejemos hablar al viento (1979) als Anfang und Endes eines möglichen Lebenszyklus‘ namens Santa Marías gelesen werden.248 So schildert La vida breve (1950) die Erfindung Santa Marías sowie dessen metafiktionale Verortung im Gesamtwerk. Dejemos hablar al viento (1979) deutet im letzten Kapitel die physische Zerstörung Santa Marías an und wird gemeinhin als Replik auf alle vorangegangenen Romane, insbesondere La vida breve (1950), interpretiert.249 Die Handlungen von Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968) und La muerte y la niña (1973) schreiben sich jeweils intratextuell in diesen Zyklus ein.

      Monographisch gelesen entwickelt sich das anfänglich als Drehort ersonnene Santa María in nachfolgenden Romanen zu einem eigenen metafiktiven Diskursuniversum, das, wie in Kapitel 4.1 zu zeigen sein wird, in unterschiedlich starker Ausprägung von seinem fiktiven Schöpfer Brausen dominiert wird. Topographisch entzieht sich Santa María dabei jedoch jedweder Eindeutigkeit. Eva Erdmann veranschaulicht dies an folgenden Beispielen:

      Santa María ist kaum ein topographisch fassbarer Ort, da er aus der Beziehung, Nähe oder Ferne zu anderen Orten beschrieben wird. Er ist von Buenos Aires mit dem Zug erreichbar, dagegen liegt er unerreichbar zu ‚Esbjerg, en la costa’, dann ist die Strecke ein anderes Mal wieder auf einem Fußweg von der ‚Colonia Suiza’ aus zu bewältigen […].250

      Buchstäblich zum Scheitern verurteilt ist so der Versuch, eine Karte zu zeichnen, welche die wiederkehrenden Orte innerhalb Santa Marías (Kirche, diverse Hotels und Bordelle) und auch dessen Außentopographie (in Bezug auf Buenos Aires, Montevideo oder in späteren Werken Monte, Enduro oder Rosario sowie die Werft oder die Schweizer Kolonie) konzise abzubilden vermag.251 Gleichwohl lässt sich mithilfe strukturalistischer Kriterien die diskursive Darstellung Santa Marías in den verschiedenen Texten nachzeichnen, die, so die These, im Laufe des Gesamtwerks veränderlich ist. Dieses Kapitel soll daher zunächst anhand der diskursiven Darstellung Santa Marías die (stadt-)räumlichen Strukturen, Konfliktfelder und gesellschaftlichen Diskurse beleuchten, innerhalb derer sich die Problematiken dysfunktionaler Elternschaft und Reproduktion bei Onetti verorten lassen. Die folgende Analyse soll somit zeigen, dass Santa María in Onettis Texten nicht als starre räumliche Kulisse konstituiert ist, sondern vielmehr eine veränderliche, mitunter kontingente Raumfigur darstellt, über welche die einzelnen Texte miteinander verbunden sind und vermittels derer gesellschaftliche Diskurse abgebildet werden. Für die entsprechende Analyse der Darstellung Santa Marías in diesem Kapitel werden Andreas Mahlers Kriterien zur Untersuchung von „Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“252 herangezogen.

      „Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“ nach Andreas Mahler

      In seinem Aufsatz „Stadttexte – Textstädte“ (1999) verwendet Mahler den Begriff Stadttext als Kategorie des Ausdrucks, als „Kette der Signifikanten“, den Begriff „‘Textstadt‘ als dazugehörige Seite des Inhalts, […] als […] die Seite des Signifikats.“ Um einen Stadttext und die dazugehörige Textstadt handelt es sich dann, wenn eine „thematische Gebundenheit“ an den Untersuchungsgegenstand Stadt klar erkennbar ist. Die sanmarianischen Texte Onettis fallen klar in diese Kategorie, insofern Santa María darin nicht allein als Hintergrund oder Schauplatz dient, sondern „unkürzbarer Bestandteil des Textes“ ist.253 Mahlers Systematisierung zielt darauf, erstens „die Formen diskursiver Stadtkonstitution“, zweitens „die Gründe für die Produktion von Textstädten“ und drittens deren Funktion zu analysieren.254

      Die diskursive Darstellung einer Textstadt erfolgte laut Mahler über unterschiedliche Konstitutionstechniken. Möglich sei dabei entweder eine direkte Referentialisierung, d.h. ein denominativer Verweis auf außerliterarisch verortbare Städte oder Stadtteile, oder eine indirekte Referentialisierung bzw. semantische Stadtkonstitution. 255 Letzteres sei der Fall, wenn eine Textstadt über bestimmte semantische Verweise, d.h. über die Bildung von Isotopien als städtisches Diskursuniversum erkennbar werde. Dabei sei zwischen Konstitutions- und Spezifikationsisotopien zu unterscheiden. Während sich Konstitutionsisotopien aus einzelnen Semantiken zusammensetzten, die den Begriff Stadt konstituieren, fächere die Verwendung spezifischer Semantiken den Begriff Stadt weiter auf bzw. verleihe ihm eine spezifische Qualität.256 So etwa die namenlose Stadt in Para esta noche (1943): Die dichte Beschreibung der Geschehnisse einer einzigen Nacht sind dort in einer Stadt verortet, deren isotope Beschreibung einen urbanen Kriegsschauplatz evoziert, wie er im 20. Jahrhundert in vielen westlichen Städten zu finden war.257

      Bezüglich der Perspektive, aus der heraus die Stadt im Text artikuliert wird, unterscheidet Mahler zwischen interner (mit Bindung an eine Figur) und externer Fokalisierung (ohne Bindung an eine Figur) der Wahrnehmungsinstanz. Darüber hinaus zeige die Distanz zwischen dem beschriebenen Objekt und der Wahrnehmungsinstanz (etwa Vogel- oder Froschperspektive) die „Lokalisierung des wahrnehmenden Subjekts“258 an. Die „Mobilität der Wahrnehmungsinstanz“259 zeige sich hingegen in der Statik respektive Dynamik einer Perspektive. Ein dritter Aspekt der Modalisierung sei der „Grad [der] mentalen Synthesefähigkeit“260, d.h. handelt es sich um eine unkommentierte oder eine kommentierte Darstellung. Je nach Ausschlag der einzelnen Modalisierungstechniken unterscheidet Mahler zwischen einem „verfügungsmächtige[n] panoramatische[n] Blick auf die Stadt oder eine[r] zunehmend eingeschränkte[n], subjektgebundene[n] Stadtsicht“.261

      In einem nächsten Schritt erläutert Mahler textinterne und textexterne Funktionen diskursiver Stadtgestaltung. Erstere diene dazu, eine Erzählung und die zugehörigen Figuren an einem bestimmten Ort zu situieren. Für die Besonderheit der Verortung in einem urbanen Szenario schlägt Mahler eine Skalierung der beschriebenen konstitutiven und modalisierenden Kriterien vor. Konkret differenziert er „den Grad der Universalität der Konstitutionsisotopie“, d.h. ruft ein Text semantisch eine ganze Stadt auf, handelt es sich um einen „globale[n] Typ“. Adressiert er eher Teilelemente davon, spricht Mahler von einem „partiale[n] Typ“. Der partiale Typ könne weiter hinsichtlich seiner Lage und seiner Reichweite systematisiert werden. So sei zu untersuchen, inwiefern der Text eine Stadt nur über ein bestimmtes Viertel, das Zentrum oder das Industriegebiet abbildet und wie groß der dargestellte Ausschnitt ist, d.h. handelt es sich bei dem Ausschnitt um den gesamten Stadtraum oder etwa nur