Johanna Vocht

Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion


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Männlichkeit nicht (zwingend) auf Gewalt beruhe, diese jedoch strukturell begünstige.192

      Wie Connell weiter schreibt, besteht einer der wichtigsten Aspekte hegemonialer Männlichkeit in ihrer Fluidität und damit ihrer historischen Gebundenheit. Für die vorliegende Arbeit bedeutet das, Connells Begriff konzeptuell zu verwenden, d.h. nicht nach den von ihr für die australische Gesellschaft erforschten Ausprägungen hegemonialer Männlichkeit zu suchen, sondern vielmehr herauszuarbeiten, inwiefern in Onettis Texte ein spezifischer hegemonialer Männlichkeitsdiskurs eingeschrieben ist. Dass dennoch eine australische Theoretikerin, die sich grundlegend auf eine angloamerikanisch-französische Forschungstradition (Michel Foucault, Judith Butler et al.) beruft, zur Untersuchung lateinamerikanischer Männlichkeiten ins Feld geführt wird, ist der Tatsache geschuldet, dass sich auch lateinamerikanische Wissenschaftler*innen auf diese Theorien berufen und den möglichen Vorwurf einer neokolonialen, okkzidental-zentrierten Forschungsperspektive somit obsolet werden lassen.193

      In Auseinandersetzung mit bereits existierenden Forschungsarbeiten zu lateinamerikanischen Männlich- und Weiblichkeiten versucht die vorliegende Arbeit also zu bestimmen, welche Verhaltensweisen, Mimik, Gestik, welches sexuelle Begehren, welche soziale Stellung, welche körperreflexiven Praxen im kulturellen Kontext der La-Plata-Region, in dem Onetti seine Erzählungen verortet, als hegemonial dargestellt werden und wie sich davon ausgehend die Geschlechterverhältnisse innerhalb des Analysekorpus lesen lassen. Die Hauptuntersuchungsachse verläuft dabei über das Feld der Reproduktion, männliche Disziplinierungsmaßnahmen über den weiblichen Körper sowie widerständige weibliche Sexualität. Die Frage, an welche Räumlichkeiten diese Mechanismen gebunden sind, schlägt den Bogen zurück zu Foucaults Machtbegriff.

      2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten

      Eine Arbeit, die sich mit lateinamerikanischen Männlich- und Weiblichkeiten in Verbindung mit machträumlichen Aspekten befasst, kommt nicht umhin, sich mit den Phänomenen Machismo und Marianismo auseinanderzusetzen, insofern deren Komplementarität auf einer klaren räumlichen Dichotomie und entsprechenden genderspezifischen Machtzuschreibungen beruht. Oder anders gewendet: Machismo beschreibt eine Männlichkeit, die auf die Sphäre des Öffentlichen gerichtet ist, Marianismo eine Weiblichkeit, welche die Frau in ihrer sozialen Funktion als Mutter fasst und exklusiv im Inneren des Hauses verortet. Die daraus resultierende machträumliche Ordnung weist der Frau die Herrschaft über den häuslichen, dem Mann über den öffentlichen Bereich zu. „Entsprechend“, so Barbara Potthast, „verkündet die lateinamerikanische Frau: ‚la reina del hogar soy yo‘ […] oder ‚en la casa, mando yo‘ […].“194 Diese räumliche Segregation, die auch Foucault, Beard, Massey und Lorey als grundlegend für Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis konstatieren respektive kritisieren, bildet den Kern des Verhältnisses zwischen Machismo und Marianismo. Inwieweit dieses reziproke Verhältnis auch in Onettis Texte eingeschrieben ist und für die Analyse genderbezogener machträumlicher Zusammenhänge innerhalb des Diskursraums Santa María fruchtbar gemacht werden kann, soll in den Kapiteln 4 und 5 diskutiert werden.

      In einem ersten Schritt sollen nun die Implikationen dieser beiden Konzepte sowie deren wissenschaftliche Einbettung erläutert werden, in einem weiteren Schritt die soziologische Engführung auf die Darstellung spezifischer Geschlechterverhältnisse innerhalb des Tangodiskurses, insofern ein Teil des Onetti‘schen Figurenkabinetts im Tango-Milieu verortet ist und dieses somit als außerliterarische Referenz für die Textanalyse herangezogen werden soll.195 Während Machismo keine exklusiv lateinamerikanische Männlichkeit beschreibt und auch innerhalb des Kontinents in seiner Ausprägung variiert, wird Marianismo ausschließlich zur Beschreibung einer spezifisch lateinamerikanischen Weiblichkeit verwendet. In den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde der Terminus Anfang der 1970er Jahre von der US-amerikanischen Anthropologin Evelyn Stevens.196 „Marianismo“, schreibt sie, „is the cult of feminine spiritual superiority, which teaches that women are semidivine, morally superior to and spiritually stronger than men.“197 In Analogie zur heiligen Maria verstehe sich die Frau im Marianismo als dem Mann moralisch und spirituell überlegen – und wird auch so wahrgenommen. Sie gelte als das Abbild der Muttergottes, deren passive Geschlechterrolle durch die unbefleckte Empfängnis festgeschrieben ist:

      In the patriarchal Catholic culture – where God was the father and only men could become priests – the Virgin Mary stood as the most prominent image of what an ideal woman should be.198

      Die ‚echte Frau‘ ist laut Stevens‘ Untersuchungen moralisch unfehlbar, bleibt keusch bis zur Ehe und betrachtet Geschlechtsverkehr als exklusiv eheliche Pflicht im Dienste Gottes.199 Sie bete für die Vergebung der Sünden ihrer männlichen Verwandten, vor allem die des Ehemannes und der Söhne – wohlwissend, dass diese Gebete ob der grundsätzlichen männlichen Fehlbarkeit und deren kindlicher Unreife200 weitestgehend wirkungslos blieben. Die wichtigste Fähigkeit dieser idealisierten Frauenfigur sei indes die Mutterschaft. Als solche erlange ‚die Frau‘ einen halbheiligen (semidivine) Status innerhalb der Familie. Das Erdulden der Geburtsschmerzen und das Wissen um die moralischen Fehlbarkeiten des Ehemannes spiegle sich, wie Stevens fortfährt, im Bild der mater dolorosa201 wider: Es steht für mütterliche Leidensfähigkeit, die Erduldung von Trauer und Schmerz.202

      Indem Stevens Marianismo in Abhängigkeit zum Begriff des Machismo setzt, argumentiert sie gegen ein als ungleich wahrgenommenes Machtverhältnis zwischen lateinamerikanischen Männern und Frauen: „It is time to set the record straight: from the Rio Bravo south to Patagonia it is at least 50 percent a woman’s world, even though the men don’t know it.“203 Machismo sei demnach kein Phänomen rein männlicher Alleinherrschaft, sondern könne seine Suprematie über die Frau erst im Zusammenspiel mit dem weiblichen Analogon, dem Marianismo, entfalten: „Our historical perspective enables us to see that far from being an oppressive norm dictated by tyrannical males, marianismo has received considerable impetus from women themselves.“204 Sie betont damit die Reziprozität beider Phänomene oder anders gewendet: ‚Die marianistische Frau‘ begehre nicht gegen ihre Unterordnung auf, sondern stütze und reproduziere die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern – da sie selbst, so Stevens weiter, innerhalb eines großfamiliären Verbundes von diesem Arrangement profitiere. Zugespitzt spricht Stevens in diesem Zusammenhang auch von „female chauvinism“205, denn Frauen seien innerhalb dieser stark christlich heteronormativ geprägten Geschlechterordnung keineswegs machtlos. Ihre gesellschaftliche Machtposition finde ihre Ausprägung insbesondere in der Erziehung (männlicher) Kinder. Als Manifestationen der Muttergottes profitierten sie von der moralischen und spirituellen Erhöhung, die ihnen durch die kulturelle Hegemonie des christlichen Glaubens in Lateinamerika zukomme – solange sie sich an die ihnen zugewiesene passive sexuelle Rolle hielten:

      For women do enjoy great power in Latin America, based on their acknowledged spiritual superiority. In the hierarchy of values of Latin American culture, matters of the spirit stand undisputedly above all others. […] A married woman can be lazy, bad tempered, improvident, but as long as she is not found to be sexually promiscuous, she will be regarded as a good wife and mother.206

      Entscheidend für eine positive gesellschaftliche Reputation seien demnach ihr Status als verheiratete Frau, sowie ihre Mutterfunktion. Das heißt, das marianistische Bild der ‚guten Frau‘ ist sowohl an eine erfüllte Reproduktion als auch an den rechtlichen Rahmen der Ehe gebunden, woraus sich wiederum eine Limitierung weiblicher Sexualität auf eben diese Institution, oder wie Foucault schreibt, eine exklusive räumliche Verortung im ehelichen Bett ergibt.

      Machismo definiert Stevens als ‚Männlichkeits-‘ oder ‚Virilitätskult‘, welcher tief im gesamten lateinamerikanischen Kulturraum verwurzelt, und je nach historischen Kulturkontakten der Bevölkerung stärker oder schwächer ausgeprägt sei:

      [T]he term Machismo will be used to designate a way of orientation which can be most succinctly described as the cult of virility. The chief characteristics of this cult are exaggerated aggressiveness and intransigence in male-to-male interpersonal relationships and arrogance and sexual aggression in male-to-female relationships.207

      Machismo zeichne sich demnach vor allem über einen hohen Grad an Aggression