Kunstwissenschaften breit gefächert; sie werden bis heute intensiv geführt. Wir beschränken uns in der Darstellung auf die einschlägigen theaterwissenschaftlichen Arbeiten von Erika Fischer-Lichte (vgl. 2001; 2002; 2012). Fischer-Lichte richtet ihr Erkenntnisinteresse auf eine theoretische Klärung des Begriffs der Performativität im Kontext ästhetischer Erfahrung und verschiedener Kunstformen. Weiterführend stellt sie auch Überlegungen dazu an, welche lebensweltlichen (Kommunikations-)Situationen(Kommunikations-)Situation bzw. welche von Menschen hervorgebrachten Prozesse und Produkte ebenfalls performativen Charakter haben können. Performativität wird in diesem Sinne in ihrer Relevanz für Kultur und Gesellschaft allgemein interpretiert. Das Theater, dessen performative Funktion sich „auf den Vollzug von HandlungenVollzug von Handlung – durch die Akteure und zum Teil auch durch die Zuschauer“ richtet (Fischer-Lichte 2002: 279), erfasst Fischer-Lichte dabei „als performative Kunst par excellence“ (ebd.: 288).
Was ist damit gemeint? Wenn wir uns überlegen, bei welchen Kunstformen der Vollzug von Handlungen für das Kunstwerk an sich von zentraler Bedeutung ist, dann gilt das offensichtlich in besonderem Maße für das Theater. Das Kunstwerk beim Theater – das theatrale Kunstwerktheatrales Kunstwerk – entsteht ja in der Regel erst im Moment seiner Aufführung und durch das Miteinander-Handeln von Personen auf und vor der Bühne und es existiert nur in dieser Flüchtigkeit. Ästhetische Wirklichkeit und Bedeutung konstituieren sich derart notwendig im Rahmen von dynamischen Prozessen und in der körperlich verankerten Kopräsenz von Agierenden und Zuschauenden (vgl. auch Paule 2017: 43f.).
Weitergedacht trifft das Gleiche sehr wohl auf alle darstellenden Künstedarstellende Künste zu: neben Theaterschauspiel, Musiktheater und Kleinkunst auch auf Tanz, Filmkunst, Kunst im Kontext von (neuen) Medien etc. Denn die darstellenden Künste werden klassisch darüber definiert, dass sich das Kunstwerk in der Präsentation, der Darbietung vor Publikum – und somit auch im Zuge der damit verbundenen Handlungen – ereignet.
In der Klassifizierung der verschiedenen Kunstformen und Kunstgattungen grenzt man die darstellenden Künste in der Regel von den bildenden Künstenbildende Künste ab. D. h., man stellt ihnen die Kunstgattungen Malerei, Zeichnung, Bildhauerei, Fotografie etc. gegenüber, bei denen das Kunstwerk visuell gestaltet und als solches in einem Handlungsprodukt fixiert ist. Ähnliches gilt für die Literatur als sprachlich gestaltete Kunst, wenn man bei Literatur ausschließlich an das in Schrift und Text fixierte Kunstwerk denkt. Fehlt dann den bildenden Künsten und der Literatur die performative Funktion, die den darstellenden Künsten inhärent ist?
Mitnichten: Gerade der letztgenannte ‚Gegensatz‘ – darstellende Kunst vs. Literatur – weicht in seinen Konturen auf, wenn man erkennt, dass die Übergänge fließend sind und dass Performativität bzw. der Vollzug von Handlungen im Literaturkontext ebenso wesentlich werden kann. Denken Sie z. B. an Lyrik und an ein Gedicht, das sich als Kunstwerk erst in der sprechenden, stimmlichen Gestaltung und Präsentation und dem damit verbundenen Handeln realisiert. Ähnliches gilt für das Drama bzw. alle Texte mit verteilten Rollen. Oder was ist mit Erzähltexten, die in der mündlichen Präsentation unter Einsatz des gesamten Körpers der Erzählerin/des Erzählers (Mimik, Gestik, Bewegung) und unter Einbezug der Zuschauer:innen und Zuhörer:innen zu (neuem) Leben erweckt werden? Fischer-Lichte (2002: 285) macht auf die heute immer häufiger entstehenden performativen „Grenzgänge zwischen den Künsten“ aufmerksam, bei denen neben Film, Tanz, Dichtung und Musik auch Malerei u.a. beteiligt sind, bei denen z. B. ein Bild auf der Bühne entsteht/gemalt wird usw.
Auch die noch weiter generalisierende Auffassung von Fischer-Lichte, dass nicht nur Kunstwerke, sondern auch andere von Menschen hervorgebrachte Prozesse und Produkte performativen Charakter haben können, ist aus einer lehr-lern-bezogenen Perspektive nicht unerheblich (siehe auch Abschnitt 1.5). Im Prinzip muss z. B. ein einfacher Text an sich kein großartiges ‚Kunstwerk‘ sein und doch kann eine gekonnte mündliche Präsentation ebendies entstehen lassen oder sich diesem zumindest stärker annähern. Je nach Präsentationsgeschick gelingt dies sogar mit einem Sachtext oder einem Auszug aus dem Telefonbuch. Dabei bedeutet, eine performative Perspektive auf Literatur und sprachlich gestaltete Kunst bzw. allgemeiner auf Schrift, Text und Sprechen einzunehmen, keineswegs eine Senkung des Anspruchs, im Gegenteil. Es bedeutet eine Verschiebung des Fokus von den HandlungsproduktenHandlungsprodukt auf die HandlungsprozesseHandlungsprozess und allgemeiner auf alle Handlungen, die die Entwicklung, die Konstitution und die Wahrnehmung, die ästhetische Erfahrung der Produkte formen und unterstützen können.
Aber noch einmal zurück zum Theater als der performativen Kunst par excellence: Der enge Bezug zwischen den Begriffen Performativität und TheatralitätTheatralität ergibt sich für Fischer-Lichte (2002) im Zuge einer Systematisierung auf der Grundlage von vier Aspekten: InszenierungInszenierung, KorporalitätKorporalität, WahrnehmungWahrnehmung und Aufführung/PerformanceAufführung/Performance. Alle vier Aspekte gemeinsam definieren Theatralität. D. h. immer da, wo sich Theatralität ereignet, wo ein theatrales Kunstwerk realisiert wird, kommen alle vier Aspekte zusammen: Es gibt eine Aufführung, es wird etwas inszeniert, handelnde Körper sind ganzheitlich einbezogen und Wahrnehmung (von Zuschauenden/Zuhörenden) spielt eine zentrale Rolle. Jeder einzelne Aspekt kann dagegen allein oder in Kombination mit den anderen darauf hinweisen, dass ein (künstlerischer) Prozess/ein KunstwerkKunstwerk performativen Charakter hat; Fischer-Lichte spricht hier von „Begriffsabschattung[en]“ (ebd.: 300) von Performativität, je nachdem, welchen theoretischen Kontext man anlegt.
Wir interpretieren Fischer-Lichtes Grundgedanken zu den vier Aspekten im Folgenden auf der Basis möglichst einfacher Beispiele (vgl. ebd.: 299):
1 Zum Aspekt der Inszenierung: Beim Theater betrifft die Inszenierung die Art und Weise, wie ein Stück in Szene gesetzt wird. Denken Sie z. B. an ein bekanntes Drama wie Goethes Faust, das Sie eventuell selbst bereits in verschiedenen Inszenierungen auf der Bühne erlebt haben. Durch eine spezifische Rollen- und Raumgestaltung, zeitliche Verortung etc. kann ein Stück grundsätzlich sehr unterschiedlich inszeniert werden. Ein Kunstwerk/ein von Menschen im Alltag hervorgebrachtes Produkt ist performativ, wenn seine Entstehung inszenierte Handlungen involviert.
2 Zum Aspekt der Korporalität: Ein theatrales Kunstwerk wird von handelnden Menschen hervorgebracht, die die Handlungen mit ihrem Körper (ihrer Stimme, ihrer Mimik und Gestik, ihrer Körperhaltung und Bewegung, ihren Emotionsausdrücken etc.) gestalten. Ein Kunstwerk/ein von Menschen hervorgebrachtes Produkt ist performativ, wenn seine Entstehung körperlich (= korporal) vollzogene Handlungenkörperlich (= korporal) vollzogene Handlungen integriert.Abb. 1.9:Theatralität und Performativität
3 Zum Aspekt der Wahrnehmung: Das theatrale Kunstwerk braucht für seine Entstehung zwingend auch Publikum, das das Entstehende wahrnimmt und durch seine Reaktionen, ggf. auch durch ein Eingreifen den Handlungsvollzug mit beeinflusst. Ein Kunstwerk/ein von Menschen hervorgebrachtes Produkt ist performativ, wenn es für Zuschauende/Zuhörende realisiert wird, so dass sich die Bedeutung u.a. in (zeitlich gebundener) Wahrnehmung konstituiert.
4 Zum Aspekt der Aufführung/Performance: Ein Theaterstück wird ‚auf die Bühne‘ gebracht und existiert nur in diesem räumlichen und/oder zeitlichen Miteinander von handelnden Schauspielenden und körperlich anwesenden Zuschauenden/Zuhörenden bzw. in der Präsentation auf der Bühne. ‚Bühne‘ ist dabei im weitesten Sinne zu verstehen und kann auch eine spontan improvisierte Form haben. Ein Kunstwerk/ein von Menschen hervorgebrachtes Produkt ist performativ, wenn es handelnd vollzogen und die Handlungen aufgeführt/präsentiert werden.
Alles in allem zeigt die skizzierte kunsttheoretische Perspektive auf den Begriff der Performativität eine Bezugnahme auf Handlungsvollzüge, die die Handlung und das Miteinander-Handeln als zentrale Bedingungen für das Hervorbringen von Kunst und Kultur erfasst. Generell wird ein ganzheitliches – kognitive und körperlich-sinnliche sowie ästhetische Dimensionen mit einbeziehendes – Verständnis von Handeln, Miteinander-Handeln und dann auch von Sprechen und Sprachgebrauch vorausgesetzt. Es ist diese Perspektive, die sich auch in verschiedenen pädagogischen und fachdidaktischen Diskursen finden lässt. Dort wird sie in ihrer Relevanz für Lernprozesse, im Besonderen auch sprachliche Lernprozesse,