Flavius Ardelean

Der Heilige mit der roten Schnur


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du mich?«, fragte der Reisende.

       »Wie sollte ich nicht, werter Reisender, wie nicht?«

      Und hätte er unter seiner Kapuze nur ein Fleckchen Haut auf den Knochen gehabt, hätte sie sich in Falten gelegt, um ein Lächeln auf sein Gesicht zu zeichnen.

      »Und was verlangst du als Lohn, guter Kutscher?«, fragte der Reisende, und das Skelett antwortete, es wäre hier und jetzt nicht an der Zeit für dergleichen, er sollte nur aufsteigen, bevor die Ebene noch schwieriger würde, und bis zu den Toren von Alrauna würden sie sich auch wegen des Lohns noch besprechen.

       »Aber dass du mich nicht belügst, Kutscherlein, und dass du nicht mehr von mir verlangst, als ich geben kann.«

      Das Skelett versicherte dem Reisenden, dass es nie mehr verlange, als ein Mensch zu geben hätte, und was es verlange, das hätte jeder Mensch.

       »Es sind fünf Tage, die Pausen mitgerechnet, wenn wir uns hinlegen und schlafen«, sagte das Skelett, »aber wisse denn, lieber Reisender, ich bin ein Erzähler und ich lasse es mir gefallen, die langen Wege mit erfundenen und wahren Geschichten zu befrieden, und meine Erfindungen können die Wahrheit für einen anderen sein und umgekehrt, sodass du dich nicht ängstigen sollst, wenn du nicht mehr weißt, was was ist und wer wer, denn es ist nichts weiter als wahre Erfindung und erfundene Wahrheit.«

      »Eine kleine Geschichte tut niemandem weh«, sagte der Reisende und hörte das Skelett mit den zahnfleischlosen Zähnen klappern, aber nicht vor Kälte, sondern vermutlich vor Freude. So schwieg er und lauschte ihm.

      Er stieg auf den Karren neben das Skelett, warf einen Blick nach hinten und erkannte etwas in dem Haufen unter der Plane.

       »Was bringst du den Brüdern in Alrauna?«, fragte er, aber das Skelett antwortete:

       »Das, werter Reisender, ist nicht mehr deine Sache. Zurückzusehen ist nicht gut«, sagte es, »nichts Gutes gibt es für den Menschen hinter ihm. Halte deine Augen, oder dein eines Auge – es sei mir verziehen, ich bemerke es erst jetzt – besser auf den Weg gerichtet, und die Ohren richte auf mich, denn ich habe vor, dir eine der wichtigsten Geschichten dieser Ebene zu erzählen.«

      »Welche, Kutscher?«, fragte der Reisende mit dem einen Auge.

       »Ich werde dir von Alrauna erzählen, dem früheren Mandragora, damit du die Geschichte kennst, bevor du an seine Tore gelangst; wie es durch die Mühsal Derer-die-von-der-Tollkirschestammen entstand, und über den Heiligen Taush, den Schutzherren von Mandragora – wie er geboren wurde, wie er aufwuchs und wie er in die WELT hinausging, um Städte zu gründen, und bis wir die Mauern von Ferne sehen, so will ich meinen, dass du die ganze geheime und auch die sichtbare Geschichte von Mandragora und seinem Heiligen kennst. Aber vergiss nicht, lieber Reisender, die Klügeleien des einen sind die Wahrheiten des anderen und umgekehrt, und so du nicht weißt, was was ist und wer wer, so fürchte dich nicht, denn es ist nur Klügelei – also wahrhaftige Wahrheit.«

      »Und der Lohn?«, fragte der Reisende wieder und bekam eine Antwort.

       »Den Lohn werden wir heute Abend am Feuer aushandeln, wenn die Nacht hereinbricht. Bis dahin schweig und höre meine Geschichte.«

       »Ich höre, Kutscherlein, ich höre, aber sag mir noch eine Sache, damit ich sie weiß: Woher kennst du das Leben und den Tod von Taush und die Geschichte seines Mandragora?«

       »Ich kenne sie, denn mein Name ist Bartholomäus Knochenfaust, der gefürchtete Erzähler, und ich war dort. Also höre!«

      Und da hub das Skelett mit der Erzählung an.

      ERSTER TEIL

      IN WELCHEM MAN AHNT

       KAPITEL EINS

      IN DEM WIR VON DER GEBURT TAUSHS IN DER STADT DER GEISTER ERFAHREN UND ALLES DANACH AUSSIEHT, ALS WÜRDE EIN BEDEUTENDER MANN AUS IHM; VON DEN DREI ZEICHEN SEINER GEBURT

      Taush wurde in Gaisterştat geboren und kam zur WELT in jener Stunde zwischen Tag und Nacht, die zugleich erscheint und entschwindet, gerade noch siehst du sie und spürst sie, und im nächsten Augenblick ist sie dahin – und nur einen Moment der Leichtfertigkeit hätte es seine Mutter gekostet, ihn in diesem Augenblick zu verlieren, ihn zwischen den Schenkeln auszulassen, sodass das Kind in die Luft ringsumher ausgetreten wäre, und unsere Geschichte hätte geendet, bevor sie begonnen hätte, und aus. Aber die Ammen, antike und weise Weiber, sie wussten das Kind zu halten und was sie sagen mussten, um die Leere um sie zu vertreiben. Und der Augenblick verging und Taush blieb.

      Sehr glücklich waren seine Mutter und sein Vater, denn, weißt du, er war das erste und würde ihr einziges Kind bleiben, und eine große Freude kam über ihr Haus, als sie von den Ammen erfuhren, dass der kleine Taush mit einem Glückshäubchen geboren war, zum Zeichen, dass ein bedeutender Mann aus ihm würde, und nicht nur für Gaisterştat. Nachdem sie die Stunden ihrer Plackerei verflucht hatte – denn gar schwer war Taush herausgekommen, als wäre die Welt, in der er das Leben vor dem Leben verbracht hatte, die allerbeste, und jene draußen nur ein Abgrund zum Fürchten –, sah sie all die guten Zeichen an ihm und um ihn herum, und sie bat ihn flüsternd um Vergebung und das ganze Haus vergoss Tränen um ihn, Tränen der Freude.

      Welche Zeichen, fragst du? Nun, er war noch nicht ganz heraus, die Hälfte seines kleinen Körpers war noch in der Mitte der Frau, als das erste Zeichen sich offenbarte. Die Schreie der schmerzerfüllten Mutter und die anfeuernden Rufe der Ammen, alles verstummte, als Taush seinen Kopf hinaus auf die WELT streckte, und die, welche dort auf den Straßen, in den Häusern und auf den Plätzen waren, alle konnten später bezeugen, dass alles auf der WELT innehielt – nicht einmal der Wind wehte mehr, nicht einmal die Tiere wühlten mehr im Boden, nicht einmal die Kinder spielten, nicht einmal die Menschen sprachen mehr miteinander, nicht einmal die Käfer krochen mehr umher, weder war der Himmel wechselhaft noch jagten einander die Gedanken. Es wurde ruhig in ganz Gaisterştat und ringsum hub ein Schweigen an und alles stand still, bis Taush aus dem Körper der Frau gezogen und in ihre Arme gelegt wurde. Und alle fürchteten sich, als sie erwachten, weil sie in diese Welt zurückkehren mussten, denn es war, als wäre die Welt der Stille, in die der kleine Taush sie geworfen hatte, die wahrlich süßeste. Manche entschlossen sich, für immer zu schweigen und brachten kein Wort mehr hervor, ihre Bewegungen wurden seltener und klein, sie waren erfüllt von Sehnsucht nach den Augenblicken damals, als Taush den Kopf aus dem Bauch seiner Mutter streckte und voll Bitternis entschied, es sei ihm zu viel Lärm auf der Welt.

      Und es gab wenige Tage nach der Geburt ein weiteres Zeichen, als alle in Gaisterştat morgens erwachten und sich ein paar Stunden den Kopf darüber zerbrachen, dass etwas nicht war, wie es für gewöhnlich war. Wie war es? Ich weiß nicht, aber es war und war nicht so. Erst gegen Abend begriffen sie, was war, und sie machten sich auf die Suche nach den kriechenden und fliegenden Insekten und Käferchen, in Kellern und Kammern, auf Dachböden und in Gärten, aber sie stießen in ganz Gaisterştat auf kein einziges. Niemand wurde mehr von Mücken gestochen, kein Floh biss mehr, die Bienen hörten auf zu summen, der Mistkäfer rollte keine Kugeln mehr. Einen ganzen Tag lang waren die Menschen in der Stadt ohne Summen und Brummen gewesen, bis sie verstanden, dass es die Stille war, die in ihren Schädeln lauter summte und brummte als jedwedes Insekt auf dem Erdball. Viele ergriff wohl die Furcht, sagt man, denn man wusste, das Insekt war schon lange vor dem Menschen auf der Erde, und man sagt, dass das Insekt noch lange nach dem Menschen der Herr der Erde sein und sich Schlösser und Gänge aus der Asche unserer Leiber bauen würde. Aber nun hatte in Gaisterştat scheinbar jede Art von Fliege dem Menschen den Rücken gekehrt und war verschwunden, sie hatten den Menschen schwach und verwaist zurückgelassen, und dies, so sagte man wohl, konnte nichts anderes bedeuten als das Ende von allem und jedem und von allem, was noch zwischen allem und jedem übrig blieb.

      Aber die Furcht, von der wir sprechen,