Flavius Ardelean

Der Heilige mit der roten Schnur


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worden wäre, ein solches Gekrabbel und Gewimmel, dass die Wände wackelten und die Fenster zitterten. Jeder lief, so schnell er konnte, durch die Straßen, und die ganze Stadt versammelte sich um das Haus des kleinen Taush und drängte sich hin, wo andere sich nicht hindrängten, und lauschte auf das Gelärm im Haus der armen Leute, die auf der Treppe standen und die Schultern zuckten und den Nachbarn sagten, das Kind hätte die ganze Nacht geweint, aber jetzt, da alle Käferchen bei ihm im Zimmer wären, würde es schlafen wie ein Engel. Und siehe, dies war das zweite Wunder zur Geburt des kleinen Taush, des Heiligen von Mandragora. Woher ich das weiß, fragst du, werter Reisender? Von meinem Vater, einem guten Erzähler, denn in meiner Familie fällt der Apfel nicht weit vom Stamm und der Knochen nicht weit vom Knochen.

      Und das dritte, fragst du mich? Willst du das dritte Wunder hören? Ein drittes gab es auch, das hast du gut erraten, und es werden wohl noch andere gewesen sein, die der ein oder andere noch weiß – verflucht seien die Erzähler, die hören und nichts erzählen! Bevor ich dir vom dritten Wunder berichte, ist es nötig, dass du das ein oder andere vom Rat der Ältesten von Gaisterştat erfährst und was ihn damals in aller Munde sein ließ. Wie du weißt, mein lieber Weggefährte, ist es in diesen Teilen der Talpa lui Tapal üblich, dass jede Stadt ihren Ältestenrat hat, der die Tage ordnet und sie nächtens schützt, so wirst du es auch in Alrauna sehen, wohin wir gerade unterwegs sind, denn wissen kannst du es noch nicht; dort gibt es heutzutage auch einen Stadtrat, was immer das sei, aber mit dem, habe ich sagen hören, leg dich besser nicht an, und in seine Angelegenheiten steckst du besser nicht deine Nase. Folgendes sollst du nun über den Rat von Gaisterştat wissen, um das dritte Wunder zu begreifen, dass nämlich niemand ihn je gesehen hatte, denn er bestand nicht aus den Ältesten der Stadt, sondern aus den Allerältesten, älter ging es nicht mehr, sie waren so alt, dass sie tot waren. Ja, du hast dich nicht verhört – tot. Und nicht nur tot, sondern seit Langem tot, nicht seit gestern oder vorgestern – tot und verfault, die Asche verstreut und die Knochen zermalmt. Der Ältestenrat von Gaisterştat war insgesamt eine uralte Geisterversammlung.

      He, starr mich nicht so an mit deinem Auge, ich sage nur, was ich gehört habe! Man sagt, hin und wieder wäre im Haus des Rates eine Geisterversammlung abgehalten worden und mal dies, mal das beschlossen worden, danach wäre eines von den Oberhäuptern der Stadt – kein Mitglied des Rates, aber in dessen Dienste stehend – auf den Platz hinausgetreten und hätte die Stadt über all das unterrichtet, was die Geister da in die Wege geleitet hätten, denn von ihren kühlen oder warmen Schatten, von ihrer Welt aus, die niemand kennt, führten sie Gaisterştat.

      Warum ich dir das alles erzählt habe? Damit du verstehst, welch erhabener Tag es war, als sich auf den steinernen Stufen vor dem Haus des kleinen Taush das Oberhaupt der Stadt zeigte, von dem ich dir erzählt habe, und an die beiden Eltern gedrängt, die für ein paar Stunden aus dem Haus geschickt worden waren, zu der gaffenden Menge sprach, die sich vor ihnen versammelt hatte, dass sich zur selben Stunde die Geister von Gaisterştat zusammengefunden hätten und rings um das Körbchen Rat hielten, in dem das Kind Taush friedlich gurrte. Und der Rat tagte lang, denn erst am Abend verließ das Oberhaupt die Vortreppe, ohne an die Menge auch nur ein Wort zu richten, und er ruderte mit den Armen, um die Meute zu verscheuchen, als machte er Platz für seine unsichtbare Gefolgschaft, dann trat er ins Haus des Rates und schloss wenige Augenblicke später die Tür, als wohl all die abgeordneten Geister auch eingetreten waren. Was nun dort besprochen wurde in diesem seltsamen Rat, das wird niemand je sagen können, vielleicht nur die Käfer, aber wer fragt die schon?

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      Und sieh da, so verging das erste Jahr Taushs in Gaisterştat, und die Menschen begannen, sich einer nach dem anderen und nach und nach an die Ruhe und Reglosigkeit zu gewöhnen, die langsam über die Stadt gekommen war und wohl über die ganze WELT, auch an die Käfer, die manchmal ein paar Tage verschwanden und sich ins Zimmer des kleinen Taush begaben, wenn er nicht schlafen konnte oder wenn ihm das Bäuchlein wehtat, wie einem jeden Kind, oder daran, dass das Haus des Rates einen ganzen Tag leer stand und die Menschen das Oberhaupt auf den Steinstufen des Hauses sahen, in dem der kleine Taush gurrte und Rat mit der Luft ringsum zu halten schien.

       KAPITEL ZWEI

      IN DEM WIR VON DER KINDHEIT TAUSHS ERFAHREN, IN DER ER DREIMAL VON DER WELT VERSCHWINDET UND IMMER WEISER ZURÜCKKEHRT. ABER AUCH IMMER TRAURIGER; TAUSH SPINNT SEINE SCHNUR

      Nun, da ich dir alle wunderlichen Begebenheiten um Taushs Geburt erzählt habe, glaube nur nicht, dass die Wunder damit aufgehört hätten; nein, denn nur kurze Zeit nachdem unser Taush drei Jahre alt wurde, der bis dahin, wie ich schon sagte, bei seinem Gebrabbel (denn Taush begann erst spät zu sprechen) von Krabbeltieren begleitet worden war und von den Geistern des Ältestenrats und von jener merkwürdigen Stille und Reglosigkeit, als wäre heimlich etwas Unausgesprochenes und Unbewegtes nach Gaisterştat zu Besuch bei Taush gekommen – wie gesagt, da er so drei Jahre verbracht hatte, wurde er schließlich sehr einsam und beschloss, ein aufs andere Mal zu verschwinden, und er versteckte sich in wer weiß welchen Winkeln im Haus.

      Was tust du? Du gähnst? Nicht dass dich der Schlaf mir raubt, während ich erzähle, denn keiner meiner Ahnen hat jemals dergleichen geduldet! Wir schlafen und essen bei der Rast, habe ich gesagt, sonst steigst du ab und gehst zu Fuß nach Alrauna. Damit du es weißt, mein Großvater sagte oft: Junge, wenn ich in 87 Jahren etwas über den Menschen gelernt habe, sagte er, dann ist es das, dass der Mensch zu viel isst, trinkt und schläft. Sei nicht wie der Mensch! Und siehst du, ich bin nicht wie der Mensch.

      So höre:

      Und weil Taush nun immerzu verschwand, wenn man es am wenigsten erwartete, so hörte man seine Mutter weinen, o weh, wo ist mein Kindchen, gebt mir mein Kindchen wieder! Dann fand sie ihn unter einer Treppe, im Mehlfass, in der Kühle des Kellers, bei den Tauben auf dem Dachboden, manchmal saß er auf dem Käse in der Speisekammer, schwieg und regte sich nicht, wie nur er so ewig dasitzen konnte, und die Mutter konnte zehnmal, sogar hundertmal an jenem Tag die Kammer öffnen und die Hand hineinstecken, konnte sogar den Kopf nach dem Benötigten strecken, ohne ihn zu sehen. Bis der Junge blinzelte und die arme Frau einen dem Tode verwandten Schrecken bekam und aus den Tränen des Unglücks Freudentränen wurden. Mit der Zeit weinte sie nicht mehr und die Frau fand sich mit dem Gedanken ab, wie jeder Mensch sich mit jederlei Gedanken abfindet, ob gut, ob schlecht, dass ihr kleiner Taush eben so war. Und all das weiß ich von meiner Mutter, die zu jenen Zeiten wie eine Schwester für Taushs Mutter war.

      Aber eines Tages schien die Sache doch gar zu sehr übertrieben, so wie mit Zucker gesüßter Honig gut ist, aber doch zu gut, um noch gut zu sein. Taush kam nicht aus seinem Versteck, selbst als es Nacht in Gaisterştat wurde, und er kam auch nicht ans Licht, als die Morgendämmerung hereinbrach, und dann noch einen Tag so, dann noch einer und noch einer, bis im leeren Haus eine Woche um war und große Trauer herrschte. Manche sagten und behaupteten, die Mutter wäre verrückt geworden und hätte mit ihren eigenen Händen den Wundern des kleinen Taush ein Ende gesetzt (denn damals wusste man nicht, ob Taushs Kräfte der WELT angehörten oder der UN’WELT); andere sagten, das könnte nicht sein, denn die Mutter liebte ihr Kind und viel eher hätte sich das Kind so gut versteckt, dass es sich selbst nicht mehr wiederfand; und wieder andere sagten, ein Tier wäre durch die offen stehende Tür ins Haus gedrungen und hätte ihn gefressen; manche sagten, jemand hätte ihn gestohlen und würde ihn auf dem Jahrmarkt zur Schau stellen (Kommt und seht das wundertätige Kind!); oder die Geister des Rates hätten ihn mitgenommen; oder dass er einfach verschwunden wäre und aus, was gäbe es da zu verstehen?, fragten sie. Wie alles, was der kleine Taush tat: Es war dem menschlichen Verstand nicht zugänglich. Hätten sie die Käfer gefragt, vielleicht hätten sie es erfahren, aber wer kann die Käfer fragen? Taush war der Einzige.

      Ob er zurückkam, fragst du mich? Er kam zurück, denn wäre es nicht so, hätte ich dir nicht fünf Tage lang etwas zu erzählen, und du hättest nicht vier Nächte lang zu träumen, nicht wahr? Nach einer Woche kam er zurück, als wäre nichts geschehen, und seine Mutter fand ihn im Hof, wie er brav mit einer Nachbarkatze spielte. Sie nahm ihn in die Arme, weinte – große Freude! Sie wollte schon den Tisch für die Verwandten und Nachbarn decken, aber