Flavius Ardelean

Der Heilige mit der roten Schnur


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herzubringen und der Frau an seiner Stelle ein Ei dazulassen. Wir kannten die Pläne des Alten nicht und auch wussten wir nicht, was es mit dem Ei auf sich hatte, aber ich hielt es fest an den Bauch gepresst, und sobald die Frau die Türe öffnete, gab ich es ab. Ich weiß auch jetzt noch nicht, was es damit auf sich hatte, aber es ist schon lang verjährt. Und die Frau freute sich, dass ihr Taush seinen Platz gefunden hatte, denn nach all dem Fortlaufen und all dem Stummsein vorher, und jetzt mit all seinen Geschichten, die aus seinem Mund kamen, war Taush doch nie zur Schule geschickt worden. Und die Frau wusste wie alle Mütter von Talpa lui Tapal damals, wenn es der Herrschaft jenseits von Lacrimile lui Tapal je einfiele, mit den Schlachten auch diesseits des Wassers zu beginnen, dann käme ihr Junge nur an der Seite der Brüder davon, dort im Wald.

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      »Der Alte Tace hat von Taushs Gabe erfahren«, sagte einer der Gesellen, »und es ist Platz und Not zu seinen Füßen. Empfangt dieses Ei zum Tausch und zögert nicht.«

      Ich gab ihr das Ei und die Frau begann vor Traurigkeit und zugleich vor Glück zu weinen; Freude darüber, dass Taush einen Platz auf der Welt haben würde wie jeder junge hübsche Mann, Trauer darüber, dass sie als einsame Frau im Haus zurückbleiben würde, und der zerbrochene Körper ihres Mannes erschien wieder vor ihren Augen, als stünde er mit ihnen dort an der Türschwelle, von herabgestürzten Steinen zerschlagen.

      Taush ließ sich fortführen und den ganzen Weg über wiederholte er immerzu, es hätte ziemlich lang gedauert, er hätte die Brüder schon lange erwartet. Aber wir schwiegen und dachten im Chor, was für ein merkwürdiges Kind wir da mit uns führten, eins, das mit den Käfern sprach, Geflügel heilte und die Menschen in den Tod begleitete. Ein kraftvolles Kind. Aber wir wussten, dass der Alte Tace weise war, und wir wussten auch, dass es gut sein würde. Und so war es. Bis es nicht mehr so war.

      Der Alte Tace und seine Gesellen wohnten in der Hölzernen Festung im Wald bei Gaisterştat. Niemand hatte eine Ahnung, wann der Alte in die Wälder gegangen war und was er davor getan hatte. Als Geselle kam man mit zehn Jahren und ging mit achtzehn, um dann in einem bestimmten Auftrag über die Ebene zu ziehen; aber davon später. Immer war es so, immer. Wir waren wenige, nie mehr als dreizehn Jungen, wir bestellten unsere kleine Festung und damit auch die ganze Welt. Ich sehe, wie dir der Schinken zittert vor Ungeduld, dass ich dir vom Leben mit dem Alten Tace erzähle, und ich werde es dir erzählen. Denn so ist unsere Abmachung, werter schwachsichtiger Reisender.

      Es war schwer, Pilger. Die Jungen kamen, wie ich sagte, schon mit zehn Jahren, gerade erst reifende Kinder, und sie gingen als Männer mit breiten Schultern und weise mit ihren achtzehn Jahren, denn sie lernten in diesen acht Jahren, was andere in achtzig Jahren lernen. Sie schliefen in kleinen Holzhütten, aber erst ab dem dreizehnten Lebensjahr, denn bis dahin schliefen sie, so lang es ging, ein paar Stunden während des Morgengrauens in kleinen ausgehobenen Erdgruben, die mit Gestrüpp und Laub ausgelegt waren, mit Moos und mit Dung. Dort schliefen sie von sechs Uhr morgens bis um neun. Stell dir vor, Reisender, wie teuer einer zehnjährigen Rotznase der Schlaf ist, wenn man nur drei Stunden hat, in denen man seinen Kopf irgendwo niederlegen kann, und sonst nichts als Arbeit. Zu Anfang, im ersten Jahr, schlief jeder, wie er konnte, im Wald, in der Küche; wenn es einen überkam, fiel man nieder, wo die Müdigkeit einen erwischte, und das war es. Sofort kam einer der Größeren und zog einem mit dem Knüppel eins über den Rücken und über die Beine, und selbst wenn er es zugelassen hätte, wäre man vor Schmerzen nicht mehr fähig gewesen, sich hinzulegen. Aber nach einer Weile gewöhnte man sich daran, wie der Mensch sich an alles Gute und Schlechte gewöhnt.

      Denn es war nicht nur schlimm, und keiner versuchte zu fliehen. Wir waren wie Brüder und hatten unser Vergnügen. Wenn wir um neun aufstanden und um sechs schlafen gingen, waren wir immer zusammen und es gab nichts, was wir taten, ohne es gemeinsam zu tun. Wir wachten auf und teilten uns auf, jeder dorthin, wo er seine Aufgabe und seinen Platz hatte – ein paar zu den Ställen, manche in die Küche, ein paar in den Garten, andere auf den Markt nach Nahrung. Unser Taush wurde in die Ställe geführt, wohin sonst?, dort kümmerte er sich um die Kuh und die Schweine und die paar Hühner der Gesellen. Sein Kamerad war einer, der Danko Ferus hieß, ein Junge aus einer Reiterfamilie, der die Pferde der Bruderschaft pflegte. So sehr hielten die Pferde zu ihm, dass man dachte, er könnte ihre Sprache sprechen, so wie Taush die der Käfer kannte. Die beiden Gesellen befreundeten sich gleich und waren die ganze Zeit über unzertrennlich im Wald: Taush und Danko, die mit den wilden Tieren sprachen.

      Aber wenn der Abend kam und es dunkel ward im Wald, versammelten sich alle Jungen in der Hütte des Alten Tace und machten Feuer und setzten sich ringsherum, dann verfielen sie in müdes Grübeln, in Erinnerungen und Heimweh, in die Unruhe ihres Alters. Die Gesellen saßen schweigend um das Feuer, nur das Holz knackte mit seiner Todessprache, und nach wohl drei Stunden, wenn alles schlief, was tagsüber seinen Geschäften nachgegangen war, und erwacht war, was nachts seinen Geschäften nachging, dann öffnete sich die Tür im hinteren Teil der Hütte und zwei Gesellen kamen herein und zogen die dicken Teppiche von den Wänden und holten die wunderbarste Bibliothek ans Licht der Flammen, die du dir nur vorstellen kannst und die du je gesehen hast. Hörst du: Reihe um Reihe von gebundenen Büchern, die sorgfältig Jahrhundert für Jahrhundert von den kunstfertigen Händen der Gesellen kopiert worden waren. Und hinter den zwei Gesellen trat mit von Zeit und Kümmernissen gebeugtem Gang der Alte Tace herein – glatzköpfig, klein und verdorrt wie eine Pflaume im Keller, eingehüllt in graues Werg bis zum Hals, mit blinden Augen und stummer Zunge.

      Er setzte sich auf seinen Platz, den Ehrenplatz, und ein Geselle kniete sich neben ihn. Wir alle schwiegen und lauschten dem, was kommen würde, obschon wir wussten, dass einer der zwei Gesellen, nicht der Knieende, sondern der andere, nur das eine sagen würde:

      »Schlagt auf und schreibt!«

      Und wir schlugen auf und schrieben, was wir hörten. Der Alte Tace legte seine von den Jahrhunderten zerfurchte Hand auf den kahlen Kopf des knieenden Jungen, und der Geselle begann mit einer Stimme wie rauer Stein, der Stimme des Alten (der Weisheit des Toten) eine neue Geschichte zu erzählen, die erst im Morgengrauen endete, gegen sechs, dann schickten die Gesellen sich an, sie als vollendet zwischen die Buchdeckel zu legen. Der Alte Tace kehrte für einen weiteren Tag zurück in seine Welt. Eins der Bücher wurde in die Regale der Hütte gestellt, der Rest in den Wald hinaus getragen – das war meine Aufgabe, dass du es weißt – und zwar zur Quelle unter dem Felsen, wo ein Kärrner, es war immer derselbe, darauf wartete, die Geschichten des Alten Tace und seiner Gesellen in die weite Welt hinauszutragen, in alle sichtbaren und unsichtbaren Himmelsrichtungen.

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      Und so vergingen die Jahre und Taush wurde dreizehn Jahre alt und musste nicht mehr in einer Grube schlafen, sondern ihm wurde ein weiches Bett bereitet und es wurde ihm erlaubt, bis zum Mittag zu schlafen, während die anderen, Neueren und Kleineren, um ihn herum ihre Arbeit verrichteten. Aber nicht nur einmal wurde das Bett leer vorgefunden und war Taush in der alten Grube, denn nur sehr schwer konnte er sich vom Schlafen an der Brust der feuchten Erde trennen, im Geflüster der Würmer, in den Armen der Wurzeln. Er wurde ein-, zwei-, dreimal tüchtig ausgeklopft, bis unser Taush begann, das Bett aus Holz und die Kissen mit Stroh darin gernzuhaben.

      Die Brüder liebten ihn, aber sie fürchteten ihn auch, hörst du, wir fürchteten uns, weil wir seine Kräfte und Gaben kannten, und wir hatten auch gehört, dass er dreimal von dieser Welt verschwunden gewesen war, aber wohin, das wusste keiner, und obwohl er jetzt sprechen konnte und er das kraftvoll und mit angenehmer Stimme tat, teilte Taush sein Geheimnis nie mit seinen Brüdern – wo er gewesen war, als er nicht mehr da war. Oft baten sie ihn um Hilfe, damit er ihnen auf den Flügeln eines Insekts eine Nachricht von zu Hause brächte, von weit fort, oder dass er sich um einen Welpen kümmerte, dessen sie sich heimlich angenommen hatten, und damals, als der kleine Hanske vom höchsten Baum des Waldes gefallen war, nahmen sie Taush auf die Schultern und zeigten ihm den Sterbenden. Und Taush zog sein Hemd aus und spann zum ersten Mal, seit er von seiner Mutter fortgegangen war, also seit vier Jahren, die Schnur aus dem Nabel. Und Hanske starb, aber wenigstens starb er nicht allein.

      Manchmal, wenn er früher mit