Nami Korevko

Lumine


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einmal ab. Nach Luft ringend wand Alester sich auf dem kalten Steinboden. Verängstigt schaute er nach oben in das Gesicht des Fremden. Sein Lächeln war nichts weiter als verabscheuenswert. Ein eiskaltes und skrupelloses Lächeln, das selbst die Hölle zu Eis gefrieren konnte. Um dem Anblick zu entfliehen, schloss er seine braunen Augen, die keinen noch so winzigen Teil von Lebensfreude ausstrahlten. Und trotzdem fürchtete der Obdachlose um sein Leben.

      Welch eine Ironie, dachte er sich. Nun befand er sich in genau derselben Position wie der Rabe, den er zuvor zertreten hatte. „Erbärmliche Made!“, zischte der Stehende abfällig und entfernte sich von Frow. Ließ er ihn etwa am Leben? Noch traute er sich nicht, sich zu rühren. Schwer atmend betrachtete er den Himmel. Wie es wohl dort oben war? Vielleicht viel angenehmer als hier in seinem trostlosen Leben.

      Endlich von all den Sorgen befreit sein und die Menschen hinter sich lassen. Alles und jeden vergessen. Ein Neuanfang. Es gab nichts, nach dem er sich mehr sehnte.

      Nach einer Weile stützte Alester sich erschöpft auf seinen Armen ab, um sich aufzurichten. Was war das eben? Einfach nur verrückt. Ein verständnisloses Seufzen entfloh seiner Kehle.

      Der Klang einer gelösten Sicherung ließ ihn zu Eis erstarren. Wie naiv es doch war zu glauben, der Verrückte wäre tatsächlich verschwunden und hätte ihn verschont. Wie in Zeitlupe wagte er es, sich umzudrehen und blickte einem Pistolenlauf entgegen. Der Bewaffnete nahm seinen Hut vom Kopf und hielt ihn sich demonstrativ entschuldigend auf die Brust. Alesters Augen weiteten sich. Dieses Gesicht kannte er doch von irgendwo her. „Es tut mir wirklich leid, Ihnen das mitteilen zu müssen. Aber schließlich kennt der Fluch der schneeweißen Hexe keine Gnade. Wenn Sie also gestatten. Ich empfehle mich!“, grinste er und drückte ab.

      Lumine – Kapitel 1

      Licht und Dunkel waren von Grund auf verschieden. Dies wusste ein jeder. Am Tage erhellte die Sonne jedermanns Pfad, und in der Nacht wiesen die funkelnden Sterne den Weg, aber nur die Wenigen wussten die Richtung rauszulesen. Man glaubte, das reine Herz ließ die Punkte am Himmel erstrahlen. Und eben jener, der Böses beabsichtigte, würde von der Finsternis verschlungen werden. So geschah es, dass ein kleines Dorf ein paar Jahre nach der Geburt eines bestimmten Kindes von der Bildfläche verschwand. Dieses Kind, von dem Fluch des Geistes des Mondes betroffen, welcher ihre Haare silbern färbte und dessen Augen beinah durchsichtig waren, trug den Namen Lumine. Die Bewohner spielten ein trauriges Theater mit ihr, bis sie eines Tages verstand. Furcht und Abscheu wurde ihr hinterrücks entgegengebracht. Von außen aber schienen die anderen freundlich zu sein. Töricht war es, dem Glauben zu schenken. Die erhobenen Mundwinkel wurden mit feinen Pinselstrichen aufgemalt. Sogar ihr Vater stellte sich gegen sie. Hinter ihm die Meute als Anhänger. Die Mutter konnte nichts für sie tun, da ihre Seele bereits lange Zeit zuvor für immer und ewig eingeschlafen war. Trotzdem, so war sie immer noch wunderschön, wie eine Puppe. Zutiefst verletzt, gepeinigt vom inneren Schmerz, rannte Lumine davon. Weit, weit weg. Ohne einen einzigen Blick zurück. Die heißen Tränen versiegten immer mehr, je weiter sie sich entfernte, und die Erinnerungen verschwanden im schwarzen Nebel, wie das Dörflein selbst.

      Kapitel 1 – Hilflos

      Ihr bewundernder Blick folgte dem wunderschönen Naturschauspiel, wie die Sonne den Horizont küsste, um dann langsam von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Die Seelenspiegel trieften vor Faszination. Ihre schmalen Lippen formten tonlos das Wort: „Wunderschön!“ und bildeten ein wohliges Lächeln. Ein leichter Wind spielte mit ihren schneeweißen Haaren und ließen sie, wie die farbigen Blätter, wild in der Luft umher- tanzen. Auch der Saum des weißen Kleides regte sich verspielt.

      Der Herbst war angebrochen. Die schönste aller Jahreszeiten. Die Tage werden kürzer, die Nächte wiederum länger sein. Der Himmel leuchtete in einem saftigen Orange, und der Übergang wurde immer dunkler. Nur noch zur Hälfte war der Feuerball präsent. Es würde nicht mehr lange dauern, bis man die Sterne funkeln sah. Für einen kurzen Moment schloss sie verträumt die Augen. Schwärze. Das Licht und Farbenspiel waren auf einmal komplett erloschen. Erinnerungsstücke tauchten auf. Traurig stimmende Bilder zeigten sich nach einer Ewigkeit wieder, die sie zuvor so stark verdrängt hatte.

      Ihre Mundwinkel zogen sich automatisch wieder nach unten. Diese Szenarien würden sich bestimmt nicht schnell vergessen lassen. Wie von fremder Hand gesteuert, griff die Frau sich an den Hals und zog an der Schlaufe des weißen Bandes, das vorhin noch ihre grässliche Narbe verdeckt hatte. Vorsichtig berührten die Fingerkuppen der anderen Hand die verheilten Schnitte, die ihr zugefügt wurden und ihre sanfte Stimme raubten, um sie auf ewig zum Schweigen zu bringen. Das Gesicht des damaligen Täters war verschwommen. Ihn wiederkennen zu können, wäre ziemlich unwahrscheinlich gewesen. Allerdings gab es mit Abstand viel mehr Dinge, die ihr lieber gewesen wären, als diesem Monster erneut zu begegnen. Nie wieder. Bitte.

      Dafür würde sie alles tun. Fröstelnd verschränkte die zierliche, kleine Frau die Arme. Ein Schluchzen. Erneut richtete die weißhaarige Schönheit ihren Blick gen Horizont, der immer dunkler wurde. Das Gras um sie herum begann ebenfalls langsam an Schwärze zu gewinnen, so wie der See vor ihr. Das klare Blau wurde immer mehr von der Finsternis verschlungen und erinnerte an ein riesiges Loch, ein Tor zur Hölle. Verschwunden. Nun war die Sonne vollständig untergegangen und würde sich in den nächsten Stunden nicht zeigen. Das Spiegelbild ihrer Gestalt im Wasser war nur noch an leichten Umrissen zu erkennen, aufgrund des Mondscheins hinter ihr.

      Leicht erschrocken zuckte ihr Körper zusammen, als sie plötzlich zwei Hände auf ihren Schultern spürte. „Lady Luna, Ihr solltet euch des Wetters angemessener kleiden. Nicht, dass ihr noch krank werdet!“, vernahm sie die fürsorglich klingende, tiefe Stimme ihres Butlers Benedict, der ihr die Kapuze des schwarzen Mantels behutsam über ihr Haupt zog. Die eben Angesprochene wendete sich von dem See ab und drehte sich vollends zu dem Schwarzhaarigen um. Freudestrahlend schaute sie in die blauen Augen des Mannes, dem sie so viel zu verdanken hatte. Ohne ihn hätte sie wahrscheinlich ihre restliche Kindheit nicht überstanden. Ohne ihn hätte sie ihre Lebensfreude verloren. Ohne ihn wäre sie vermutlich bereits tot. Ohne ihn wäre sie einfach nur hilflos. Immerhin war er der Einzige, den Luna noch hatte. Seine Hand fand seinen Platz auf der Wange seiner Herrin, um die heißen Tränen wegzuwischen.

      Unschlüssig, jedoch darauf bedacht, sich nichts davon anmerken zu lassen, musterte er seine Herrin. So wehrlos und verloren. Wahrlich Mitleid erregend.

      Als der Butler kurz davor war, es zu wagen, sie in den Arm zu nehmen, um ihr Trost spenden zu wollen, hielt sie ihn davon ab und distanzierte sich von ihm, dabei signalisierend, dass es ihr gut ging. „Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht? Ich wage es, mir zu erlauben, Euch zu sagen, dass ich anderer Ansicht bin. Ihr braucht keinesfalls Euch zu verstellen und Euren Schmerz zu leugnen. Vergesst nicht mein Versprechen, dass ich Euch damals gab!“ Betroffen nickte Luna und ballte ihre Hände zu Fäusten. Die seelischen Verletzungen waren anscheinend noch zu frisch. Wie auch immer. Aber sie war kein kleines Mädchen mehr, auf das ständig Rücksicht genommen werden und den ganzen Tag über betreut werden musste. Sie war stark. Musste es jedenfalls sein. Schließlich wollte sie Benedict unter keinen Umständen zur Last fallen. Die Vergangenheit ließ sich nicht ungeschehen machen. Man musste sich immer den Umständen anpassen.

      Tief atmete das feenhafte Wesen ein und aus. Ihre Lungen füllten sich gierig mit Sauerstoff und schieden den giftigen Kohlendioxidgehalt wieder aus. Erneut wagte sie, den Augenkontakt mit dem Mann vor ihr zu halten. Nie war es ihr jemals möglich gewesen, seinen Blick zu deuten. Aber sie glaubte, in diesem Moment einen Hauch von Sorge zu erkennen und noch etwas, das allerdings nicht einzuordnen war. Was war es? Mitleid? Trauer? Zuneigung? Ein Rätsel und viel zu irrelevant, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wahrscheinlich würde sie niemals dazu in der Lage sein, hinter seine Fassade blicken zu können. Doch war dies bei Weitem nicht nötig, da Luna ganz genau wusste, dass er das Herz am rechten Fleck besaß, selbst wenn er nicht den Anschein erweckte, der darauf hindeuten mochte. Da war sich die junge Herrin absolut sicher.

      Das weiße Band immer noch fest in ihrem Griff. Wieder wurde der Augenkontakt unterbrochen. Diesmal war es ihr Butler, der sein Augenmerk auf die entblößte Verunstaltung des sonst makellosen Körpers der Frau richtete. Wut keimte in ihm auf. Wut auf sich und auf IHN. Er hätte es verhindern können.