Nami Korevko

Lumine


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konnte man nur? Er hätte es ahnen sollen. Innerlich schüttelte er den Kopf. Es war geschehen und somit auch unwiderruflich. Mit dem mussten sie nun leben. Langsam näherte sich der treu Ergebene und entnahm ihr das Band, um es ihr wieder umzubinden. Sie ließ es zu. Nachdem er sein Tun beendet hatte, erhob er seine Stimme: „Bitte begebt Euch nun wieder in die Kutsche und versucht zu schlafen. Ihr müsst Euch ausruhen. Und bis wir den Wald vollständig durchquert haben, wird es noch eine Weile dauern!“ Nachgebend folgte Luna seiner Bitte und schritt auf die schwarze Kutsche zu, die auf dem breiten, leicht unebenen Waldweg stand. Dankbar lächelte sie Benedict zu, als er, wie schon so oft, die Tür aufhielt und ihr half einzusteigen. Erschöpft ließ sie sich auf die Sitzbank fallen, schlief nach kurzer Zeit ein und wurde, wie jede Nacht, von alten, bedrückenden Bildern ihrer Vergangenheit in ihren Träumen heimgesucht.

      Mit eisernem Griff hielt der treue Butler die Zügel in seinen Händen und beobachtete während der Fahrt die finstere Umgebung. Verärgert musste er feststellen, dass auch seine Kräfte langsam verschwanden.

      Die Müdigkeit drohte ihn wie eine riesige Welle mit in die Tiefe zu reißen. Wann hatte er das letzte Mal ausgiebig geschlafen? Selbst wenn es ihm schwerfiel, so musste er ebenfalls an seine Gesundheit denken. Denn sein Leichnam würde Lady Luna nichts bringen. Für ihn hatte ihre Sicherheit stets höchste Priorität. Nichts, aber auch gar nichts würde ihn davon abhalten können, sie zu beschützen.

      Lumine – Kapitel 2

      Der kleine Hügel unter dessen Baum das Mädchen schlief, wurde von einem kegelförmigen Sonnenstrahl erhellt. Ein neuer Tag war angebrochen. Ein Neubeginn. Unter dem Rascheln der Blätter war es das flatternde Flügelschlagen, das Lumine erwachen ließ. Ihr trüber Blick klärte sich und sie erblickte vor sich eine weiße Taube, die auf einem Stein saß und sie musterte. „Wie du wohl heißen magst?“, erhob sie ihre Stimme und beschloss daraufhin, den Vogel auf den Namen Kuro zu taufen. Ab diesem Zeitpunkt wich Kuro ihr nicht mehr von der Seite.

      Kapitel 2 – Die Perfektion in Person

      Wer war schon perfekt? Das Aussehen entsprechend einer in Stein gemeißelten Schönheit. Helle und reine Haut, die im Scheine des Mondlichtes zu strahlen begann, gepaart mit roten, wohlgeformten Lippen, die schneeweiße Zähne beherbergten. Kräftiges, schimmerndes Haar und leuchtende Augen, die jeden in ihren Bann ziehen konnten. Eine makellose und unvergleichbare Statur, die in jedem den Ehrgeiz erweckte, ebenfalls so auszusehen. Einen besonnenen Charakter, eine reine Seele mit einem Herz aus Gold. Tadellose Verhaltensgewohnheiten wie eine gerade Haltung, dem einer Linie entsprechend, und eine überaus gewandte Wortwahl sowie Ausdrucksweise, die den Verdacht erwecken ließ, dass dies einem zuvor verfassten Text, der lediglich auswendig gelernt wurde, gleichkam. Die Fähigkeiten besitzen, ein Instrument oder im Idealfall mehrere spielen zu können, wie auch die Tanzkunst zu beherrschen und allen Fehlern und Makeln vorzubeugen.

      Man durfte keine negativen Eigenschaften aufweisen. Nicht sie. Die Adligen der Gesellschaft.

      Aber all diesen strengen Vorschriften musste eine Person im Stillen widersprechen. Tonlos, aufgrund der Angst, verstoßen, verachtet und allein gelassen zu werden. Die Tochter einer Adelsfamilie musste perfekt sein. Erst recht die Tochter der Familie De Menciums.

      Allerdings fragte sie sich: War sie denn nicht bereits, wenn nicht seit Jahren, allein? Es fühlte sich zumindest so an. Das wohlhabende Leben war kalt und nur begleitet von langweiligen und oberflächlichen Gesprächen, die keinerlei Farben beinhalteten. Deren Privileg war Quantität, nicht Qualität. Wie traurig dies doch war. Jedoch schienen diese verkorksten Leute tatsächlich glücklich damit zu sein. Am liebsten wollte das Mädchen aus dem goldenen Käfig entfliehen. Doch wie? Wahrscheinlich würde ihm das niemals gelingen, außer es würde einen äußerst beängstigenden Entschluss fassen, vor dem es sich mehr als nur fürchtete. Allerdings wäre sie nicht die Erste, die in ihrer Familie Suizid begehen würde. Ihre Tante Sherry wurde vor knapp fünf Jahren in ihrem Gemach erschossen aufgefunden, so wurde ihr erzählt. Da war Luna gerade mal sieben Jahre alt gewesen, zu jung, um sowas verstehen zu können. Nun war diese Tat ihr eher ein Begriff. Traurigerweise hatte sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen, um wenigstens erahnen zu können, was die rotblonde Frau dazu veranlasst hatte, die Waffe ihres Mannes zu greifen, sich auf das Bett zu setzen, ihre Hand mit der zuvor entsicherten Pistole an ihren Kopf zu führen und den Abzug zu drücken. Ihr Make-up war komplett verwischt. Sie musste offensichtlich geweint haben.

      Um das schreckliche Kopfkino zu beenden, schüttelte das zwölfjährige Albino-Mädchen verzweifelt den Kopf. Den Tränen nahe, schloss sie ihren feuerroten Seelenspiegel. Sie sollte nicht mehr allzu oft darüber nachdenken. Schliesslich konnte man es nicht mehr rückgängig machen. Der Kummer aufgrund des Verlustes saß wahrlich tief. Überraschenderweise jedoch nicht nur Trauer, sondern zusätzliche Wut war spürbar. Wut deswegen, weil sie sich im Stich gelassen fühlte. Ihre Tante war der einzige Halt gewesen. Sie war die einzige Person, die sich ihr gegenüber nicht entfremdet benahm, als wäre Luna nur ein Vorzeigeprodukt, aufgrund ihres sonderbaren Aussehens. Ihre Eltern mochten von außen hin als wunderschön und charmant betrachtet werden, allerdings richtige Liebe konnte sie von ihnen nie erwarten. Vielleicht, als sie noch ein Baby und Kleinkind war. Aber nun?

      Mittlerweile hatte sie immer wieder das Gefühl, dass ihre Familie sich immerzu verändert hatte in den letzten Jahren, an die sie sich zumindest erinnern konnte. Besuch bekamen sie auch immer seltener und falls dies mal der Fall war, dann ausschließlich nachts. Aus dem Büro ihres Vaters Earl Edwin De Mencium schien nahezu noch bis zum Morgengrauen Licht. Bekam er denn noch genug Schlaf? Selbst wenn Luna noch so wenig das Gefühl übermittelt bekam, Liebe von ihren Eltern zu erhalten, so machte sie sich dennoch Sorgen um ihren geliebten Vater. Geliebt? Natürlich. Die eigenen Eltern musste man doch lieben. Sie musste doch dafür dankbar sein, in solch einem Luxus leben zu dürfen, und das nur dank ihnen. Dank dem, was ihr Vater aufgebaut hatte. Ja, aber was denn? Ihr wurde nie erklärt, woher der Ruhm und Reichtum kam. Wahrscheinlich war sie noch zu jung, um das richtig zu verstehen, wurde ihr gesagt – oder eingeredet?

      Seufzend schloss die Weißhaarige ihr über alles geliebtes Buch, das ihre Tante ihr einst zu Weihnachten geschenkt hatte und in dem sie bis eben noch gelesen hatte.

      Es war in dunkelbraunes Leder gebunden und besaß goldene Verschnörkelungen, die die Ecken unterstrichen. Der Titel des Märchenbuches war ebenfalls in goldener und gebundener Schrift geschrieben. Das Buch wurde nach dem Namen des Hauptcharakters der Geschichte benannt. Es hieß Lumine. Ein sehr schöner Name. Er gefiel der Adelstochter sehr, und sie mochte die erfundene Person. Sie konnte sich mit ihr irgendwie identifizieren. Wie sie selbst besaß Lumine ein ungewöhnliches Aussehen.

      Mit Sicherheit wäre Luna dazu in der Lage gewesen, jeden Satz des Märchens zu rezitieren, da sie es nach so häufigem Lesen auswendig kannte. Sie liebte ihr Geschenk wirklich. Aber es war nun nicht bloß ein Geschenk, sondern auch ein Andenken.

      Langsam erhob sich die Weißhaarige aus ihrem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, um aus dem Fenster blicken zu können und lief an dem Bett vorbei, um vor ihrem Regal, das sich neben ihrem riesigen Schrank befand, stehen zu bleiben. Sanft strich Luna verträumt mit ihren bleichen Fingerkuppen der Schrift entlang. Ein kleines Lächeln von einer Mischung aus Freude und Trauer setzte sie auf. Ein paar Minuten verharrte sie in dieser Position, bevor sie sich aus ihrer Starre wieder löste und sich auf die Zehenspitzen stellend, die Lektüre zurück ins hölzerne Gestell verfrachtete. Neben den Büchern saßen ihre zwei alten Stoffpuppen mit Zierkleidchen, deren Wert womöglich mit dem eines echten, maßgeschneiderten Kleides vergleichbar war. Ihre glänzenden schwarzen Knopfaugen starrten ins Nichts. Diese kalten und leblosen Augen, bei denen man das Gefühl hatte, sie würden einen beobachten. Unheimlich.

      Schnellen Schrittes näherte das kleine Mädchen sich wieder dem Fenster und nahm wieder Platz auf ihrem Stuhl. Neugierig folgte sie dem Tun des Gärtners. Draussen schien die Sonne und die Blumen begannen zur Frühlingszeit zu blühen. Es herrschte ein überaus herrliches Wetter. Keine einzige Wolke konnte man oben am hellblauen Himmel entdecken. Am liebsten wäre die Kleine zum Angestellten nach Draußen gefolgt und hätte ihm geholfen. Allerdings: Ohne Erlaubnis war es ihr nicht gewährt, das Anwesen zu verlassen, aufgrund ihres geschwächten Immunsystems. Selten