Karl Philipp Moritz

Anton Reiser. Ein psychologischer Roman


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      Karl Philipp Moritz

      Anton Reiser

      Ein psychologischer Roman

      Auf der Textgrundlage von Wolfgang Martens herausgegeben von Alexander Košenina

      Reclam

      1972, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2022

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961943-9

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014223-3

       www.reclam.de

      [5]Anton Reiser

Das Deckblatt der ersten Teils der Ausgabe von 1785 zeigt zwei ins Gespräch vertiefte Männer

      [7]Erster Teil

      [9]Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. – Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt, und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen, und den Blick der Seele in sich selber schärfen. – Freilich ist dies nun keine so leichte Sache, dass gerade jeder Versuch darin glücken muss – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht, das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften, und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.

      [10]In P[yrmont], einem Orte, der wegen seines Gesundbrunnens berühmt ist, lebte noch im Jahr 1756 ein Edelmann auf seinem Gute, der das Haupt einer Sekte in Deutschland war, die unter dem Namen der Quietisten oder Separatisten bekannt ist, und deren Lehren vorzüglich in den Schriften der Mad. Guion, einer bekannten Schwärmerin, enthalten sind, die zu Fenelons Zeiten, mit dem sie auch Umgang hatte, in Frankreich lebte.

      Der Herr von F[leischbein], so hieß dieser Edelmann, wohnte hier von allen übrigen Einwohnern des Orts, und ihrer Religion, Sitten, und Gebräuchen, ebenso abgesondert, wie sein Haus von den ihrigen durch eine hohe Mauer geschieden war, die es von allen Seiten umgab.

      Dies Haus nun machte für sich eine kleine Republik aus, worin gewiss eine ganz andre Verfassung, als rund umher im ganzen Lande herrschte. Das ganze Hauswesen bis auf den geringsten Dienstboten bestand aus lauter solchen Personen, deren Bestreben nur dahin ging, oder zu gehen schien, in ihr Nichts (wie es die Mad. Guion nennt) wieder einzugehen, alle Leidenschaften zu ertöten, und alle Eigenheit auszurotten.

      Alle diese Personen mussten sich täglich einmal in einem großen Zimmer des Hauses zu einer Art von Gottesdienst versammlen, den der Herr von F[leischbein] selbst eingerichtet hatte, und welcher darin bestand, dass sie sich alle um einen Tisch setzten, und mit zugeschlossnen Augen, den Kopf auf den Tisch gelegt, eine halbe Stunde warteten, ob sie etwa die Stimme Gottes oder das innre Wort, in sich vernehmen würden. Wer dann etwas vernahm, der machte es den Übrigen bekannt.

      Der Herr von F[leischbein] bestimmte auch die Lektüre [11]seiner Leute, und wer von den Knechten oder Mägden eine müßige Viertelstunde hatte, den sahe man nicht anders, als mit einer von der Mad. Guion Schriften, vom innern Gebet, oder dergleichen, in der Hand, in einer nachdenkenden Stellung sitzen und lesen.

      Alles, bis auf die kleinsten häuslichen Beschäftigungen, hatte in diesem Hause ein ernstes, strenges, und feierliches Ansehn. In allen Mienen glaubte man Ertötung und Verleugnung, und in allen Handlungen Ausgehen aus sich selbst und Eingehen ins Nichts zu lesen.

      Der Herr von F[leischbein] hatte sich nach dem Tode seiner ersten Gemahlin nicht wieder verheiratet, sondern lebte mit seiner Schwester, der Frau von P[rüschenk], in dieser Eingezogenheit, um sich dem großen Geschäfte, die Lehren der Mad. Guion auszubreiten, ganz und ungestört widmen zu können.

      Ein Verwalter, namens H., und eine Haushälterin mit ihrer Tochter, machten gleichsam den mittlern Stand des Hauses aus, und dann folgte das niedrige Gesinde. – Diese Leute schlossen sich wirklich fest aneinander, und alles hatte eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen den Herrn von F[leischbein], der wirklich einen unsträflichen Lebenswandel führte, obgleich die Einwohner des Orts sich mit den ärgerlichsten Geschichten von ihm trugen.

      Er stand jede Nacht dreimal zu bestimmten Stunden auf, um zu beten, und bei Tage brachte er seine meiste Zeit damit zu, dass er die Schriften der Mad. Guion, deren eine große Anzahl von Bänden ist, aus dem Französischen übersetzte, die er denn auf seine Kosten drucken ließ, und sie umsonst unter seine Anhänger austeilte.

      Die Lehren, welche in diesen Schriften enthalten sind, [12]betreffen größtenteils jenes schon erwähnte völlige Ausgehen aus sich selbst, und Eingehen in ein seliges Nichts, jene gänzliche Ertötung aller sogenannten Eigenheit oder Eigenliebe, und eine völlig uninteressierte Liebe zu Gott, worin sich auch kein Fünkchen Selbstliebe mehr mischen darf, wenn sie rein sein soll, woraus denn am Ende eine vollkommne, selige Ruhe entsteht, die das höchste Ziel aller dieser Bestrebungen ist.

      Weil nun die Mad. Guion sich fast ihr ganzes Leben hindurch, mit nichts als mit Bücherschreiben beschäftigt hat, so sind ihrer Schriften eine so erstaunliche Menge, dass selbst Martin Luther schwerlich mehr geschrieben haben kann. Unter andern macht allein eine mystische Erklärung der ganzen Bibel wohl an zwanzig Bände aus.

      Diese Mad. Guion musste viel Verfolgung leiden, und wurde endlich, weil man ihre Lehrsätze für gefährlich hielt, in die Bastille gesetzt, wo sie nach einer zehnjährigen Gefangenschaft starb. Als man nach ihrem Tode ihren Kopf öffnete, fand man ihr Gehirn fast wie ausgetrocknet. Sie wird übrigens noch itzt von ihren Anhängern, als eine Heilige der ersten Größe, beinahe göttlich verehrt, und ihre Aussprüche werden den Aussprüchen der Bibel gleich geschätzt; weil man annimmt, dass sie durch gänzliche Ertötung aller Eigenheit, so gewiss mit Gott sei vereinigt worden, dass alle ihre Gedanken auch notwendig göttliche Gedanken werden mussten.

      Der Herr von F[leischbein] hatte die Schriften der Mad. Guion auf seinen Reisen in Frankreich kennengelernt, und die trockne, metaphysische Schwärmerei, welche darin herrscht, hatte für seine Gemütsbeschaffenheit so viel Anziehendes, dass er sich ihr mit ebendem Eifer ergab, [13]womit er sich wahrscheinlich, unter andern Umständen, dem höchsten Stoizismus würde ergeben haben, womit die Lehren der Mad. Guion, in Ansehung der gänzlichen Ertötung aller Begierden usw. oft eine auffallende Ähnlichkeit haben.

      Er wurde nun auch von seinen Anhängern ebenfalls wie ein Heiliger verehrt, und ihm wirklich zugetrauet, dass er, beim ersten Anblick, das Innerste der Seele eines Menschen durchschauen könne.

      Zu seinem Hause geschahen Wallfahrten von allen Seiten, und unter denen, die jährlich, wenigstens einmal, dieses Haus besuchten, war auch Antons Vater.

      Dieser, ohne eigentliche Erziehung aufgewachsen, hatte seine erste Frau sehr früh geheiratet, immer ein ziemlich wildes herumirrendes Leben geführt, wohl zuweilen einige fromme Rührungen gehabt, aber nicht viel darauf geachtet. Bis er nach dem Tode seiner ersten Frau plötzlich in sich geht, auf einmal tiefsinnig, und wie man sagt, ein ganz andrer Mensch wird, und bei seinem Aufenthalt in P[yrmont] zufälligerweise erstlich den Verwalter des Herrn von F[leischbein] und nachher durch diesen den Herrn von F[leischbein] selber kennenlernte.

      Dieser gibt ihm denn nach und nach die Guionschen Schriften zu lesen, er findet Geschmack daran, und wird bald