weiche Seele, dass der Eindruck, den sie auf Antons Herz machten, bei ihm unauslöschlich geblieben ist.
Oft tröstete er sich in einsamen Stunden, wo er sich von aller Welt verlassen glaubte, durch ein solches Lied vom seligen Ausgehen aus sich selber, und der süßen Vernichtung vor dem Urquelle des Daseins.
So gewährten ihm schon damals seine kindischen Vorstellungen oft eine Art von himmlischer Beruhigung.
Einmal waren seine Eltern bei dem Wirt des Hauses, wo sie wohnten, des Abends zu einem kleinen Familienfeste gebeten. Anton musste es aus dem Fenster mit ansehen, wie die Kinder der Nachbarn schön geputzt zu diesem Feste kamen, indes er allein auf der Stube zurückbleiben musste, weil seine Eltern sich seines schlechten Aufzuges schämten. Es wurde Abend, und ihn fing an zu hungern; und nicht einmal ein Stückchen Brot hatten ihm seine Eltern zurückgelassen.
[25]Indes er oben einsam saß und weinte, schallte das fröhliche Getümmel von unten zu ihm herauf. – Verlassen von allem, fühlte er erst eine Art von bitterer Verachtung gegen sich selbst, die sich aber plötzlich in eine unaussprechliche Wehmut verwandelte, da er zufälligerweise die Lieder der Madam Guion aufschlug, und eins fand, das gerade auf seinen Zustand zu passen schien. – Eine solche Vernichtung, wie er in diesem Augenblick fühlte, musste nach dem Liede der Mad. Guion vorhergehen, um sich in dem Abgrunde der ewigen Liebe, wie ein Tropfen im Ozean, zu verlieren. – – Allein, da nun der Hunger anfing, ihm unausstehlich zu werden, so wollten auch die Tröstungen der Madam Guion nichts mehr helfen, und er wagte es, hinunterzugehen, wo seine Eltern in großer Gesellschaft schmauseten, öffnete ein klein wenig die Türe, und bat seine Mutter um den Schlüssel zum Speiseschranke, und um die Erlaubnis, sich ein wenig Brot nehmen zu dürfen, weil ihn sehr hungere.
Dies erweckte erst das Gelächter und nachher das Mitleid der Gesellschaft, nebst einigem Unwillen gegen seine Eltern.
Er ward mit an den Tisch gezogen, und ihm von dem Besten vorgelegt, welches ihm denn freilich eine ganz andre Art von Freude, als vorher die Guionschen Trostlieder, gewährte.
Allein auch jene schwermutsvolle tränenreiche Freude behielt immer etwas Anziehendes für ihn, und er überließ sich ihr, indem er die Guionschen Lieder las, sooft ihm ein Wunsch fehlgeschlagen war, oder ihm etwas Trauriges bevorstand, als wenn er z. B. vorher wusste, dass sein Fuß verbunden, und die Wunde mit Höllenstein bestrichen werden sollte.
[26]Das zweite Buch, was ihn sein Vater nebst den Guionschen Liedern lesen ließ, war eine Anweisung zum innern Gebet von ebendieser Verfasserin.
Hierin ward gezeigt, wie man nach und nach dahin kommen könne, sich im eigentlichen Verstande mit Gott zu unterreden, und seine Stimme im Herzen, oder das eigentliche innre Wort, deutlich zu vernehmen; indem man sich nämlich zuerst so viel wie möglich von den Sinnen loszumachen, und sich mit sich selbst und seinen eignen Gedanken zu beschäftigen suchte, oder meditieren lernte, welches aber auch erst aufhören, und man sich selbst sogar erst vergessen müsse, ehe man fähig sei, die Stimme Gottes in sich zu vernehmen.
Dies ward von Anton mit dem größten Eifer befolgt, weil er wirklich begierig war, so etwas Wunderbares, als die Stimme Gottes, in sich zu hören.
Er saß daher halbe Stunden lang mit verschlossnen Augen, um sich von der Sinnlichkeit abzuziehen. Sein Vater tat dieses zum größten Leidwesen seiner Mutter ebenfalls. Auf Anton aber achtete sie nicht, weil sie ihn zu keiner Absicht fähig hielt, die er dabei haben könne.
Anton kam bald so weit, dass er glaubte, von den Sinnen ziemlich abgezogen zu sein, und nun fing er an, sich wirklich mit Gott zu unterreden, mit dem er bald auf einem ziemlich vertraulichen Fuß umging. Den ganzen Tag über, bei seinen einsamen Spaziergängen, bei seinen Arbeiten, und sogar bei seinem Spiele sprach er mit Gott, zwar immer mit einer Art von Liebe und Zutrauen, aber doch so, wie man ohngefähr mit einem seinesgleichen spricht, mit dem man eben nicht viel Umstände macht, und ihm war es denn wirklich immer, als ob Gott dieses oder jenes antwortete.
[27]Freilich ging es nicht so ab, dass es nicht zuweilen einige Unzufriedenheit sollte gesetzt haben, wenn etwa ein unschuldiges Spielwerk, oder sonst ein Wunsch vereitelt ward. Dann hieß es oft: »Aber mir auch diese Kleinigkeit nicht einmal zu gewähren!« oder, »Das hättest du doch wohl können geschehen lassen, wenn’s irgend möglich gewesen wäre!« und so nahm es sich denn Anton nicht übel, zuweilen ein wenig mit Gott nach seiner Art böse zu tun; denn obgleich davon nichts in der Madam Guion Schriften stand, so glaubte er doch, es gehöre mit zum vertraulichen Umgange.
Alle diese Veränderungen gingen mit ihm vom neunten bis zum zehnten Jahre vor. Während dieser Zeit nahm ihn auch sein Vater, wegen des Schadens am Fuße, mit nach dem Gesundbrunnen in P[yrmont]. Wie freute er sich nun, den Herrn von F[leischbein] persönlich kennenzulernen, von dem sein Vater beständig mit solcher Ehrfurcht, wie von einem übermenschlichen Wesen geredet hatte, und wie freute er sich, dort von seinen großen Fortschritten in der innern Gottseligkeit Rechenschaft ablegen zu können: seine Einbildungskraft malte ihm dort eine Art von Tempel, worin er auch als Priester eingeweiht, und als ein solcher zur Verwunderung aller, die ihn kannten, zurückkehren würde.
Er machte nun mit seinem Vater die erste Reise, und während derselben war dieser auch etwas gütiger gegen ihn, und gab sich mehr mit ihm ab, als zu Hause. Anton sahe hier die Natur in unaussprechlicher Schönheit. Die Berge rund umher in der Ferne und in der Nähe und die lieblichen Täler entzückten seine Seele, und schmolzen sie in Wehmut, die teils aus der Erwartung der großen Dinge entstand, die hier mit ihm vorgehen sollten.
[28]Der erste Gang mit seinem Vater war in das Haus des Herrn von F[leischbein], wo dieser den Verwalter, Herrn H., zuerst sprach, ihn umarmte und küßte, und auf das freundschaftlichste von ihm bewillkommt wurde.
Ohngeachtet der großen Schmerzen, die Anton durch die Reise an seinem Fuße empfand, war er doch beim Eintritt in das Haus des Herrn von F[leischbein] vor Freuden außer sich. Anton blieb diesen Tag in der Stube des Herrn H., mit dem er künftig alle Abend speisen musste. Übrigens bekümmerte man sich doch im Hause lange nicht so viel um ihn, wie er erwartet hatte.
Seine Übungen im innern Gebet setzte er nun sehr fleißig fort; allein es konnte denn freilich nicht fehlen, dass sie nicht zuweilen eine sehr kindische Wendung nehmen mussten. Hinter dem Hause, wo sein Vater in P[yrmont] logierte, war ein großer Baumgarten: hier fand er zufälligerweise einen Schiebkarrn, und machte sich das Vergnügen, damit im ganzen Garten herumzuschieben.
Um dies nun aber zu rechtfertigen, weil er anfing, es für Sünde zu halten, bildete er sich eine ganz sonderbare Grille. Er hatte nämlich in den Guionschen Schriften und anderwärts viel von dem Jesulein gelesen, von welchem gesagt wurde, dass es allenthalben sei, und man beständig und an allen Orten mit ihm umgehen könne.
Das Diminutivum machte, dass er sich einen Knaben, noch etwas kleiner wie er, darunter vorstellte, und da er nun mit Gott selber schon so vertraut umging, warum nicht noch viel mehr mit diesem seinem Sohne, dem er zutraute, dass er sich nicht weigern werde, mit ihm zu spielen, und also auch nichts dawider haben werde, wenn er ihn ein wenig auf dem Schiebkarrn herumfahren wollte.
[29]Nun schätzte er es sich aber doch für ein sehr großes Glück, eine so hohe Person auf dem Schiebkarren herumfahren zu können, und ihr dadurch ein Vergnügen zu machen; und da diese Person nun ein Geschöpf seiner Einbildungskraft war, so machte er auch mit ihr, was er wollte, und ließ sie oft kürzer, oft länger an dem Fahren Gefallen finden, sagte auch wohl zuweilen mit der größten Ehrerbietigkeit, wenn er vom Fahren müde war: »So gern ich wollte, ist es mir doch jetzt unmöglich, dich noch länger zu fahren.«
So sahe er dies am Ende für eine Art von Gottesdienst an, und hielt es nun für keine Sünde mehr, wenn er sich auch halbe Tage mit dem Schiebkarren beschäftigte.
Nun aber bekam er selbst mit Bewilligung des Herrn von F[leischbein] ein Buch in die Hand, das ihn wieder in eine ganz andre und neue Welt führte. Es war die Acerra philologica. Hier las er nun die Geschichte von Troja, vom Ulysses, von der Circe, vom Tartarus und Elysium, und war sehr bald mit allen Göttern und Göttinnen des Heidentums bekannt. Bald darauf gab man ihm auch den Telemach, ebenfalls mit Bewilligung des Herrn von F[leischbein] zu lesen, vielleicht weil der Verfasser