Karl Philipp Moritz

Anton Reiser. Ein psychologischer Roman


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Acerra philologica war ihm zur Lektüre des Telemach eine schöne Vorbereitung gewesen, weil er dadurch mit der Götterlehre ziemlich bekannt geworden war, und sich schon für die meisten Helden interessierte, die er im Telemach wiederfand.

      Diese Bücher wurden verschiedne Male nacheinander mit der größten Begierde und mit wahrem Entzücken von ihm durchgelesen, insbesondere der Telemach, worin er [30]zum ersten Male die Reize einer schönen zusammenhängenden Erzählung schmeckte.

      Die Stelle, welche ihn im ganzen Telemach am lebhaftesten gerührt hat, war die rührende Anrede des alten Mentors an den jungen Telemach, als dieser auf der Insel Zypern die Tugend mit dem Laster zu vertauschen im Begriff war, und ihm nun sein getreuer lange von ihm für verloren gehaltener Mentor plötzlich wieder erschien, dessen traurender Anblick ihn bis in das Innerste seiner Seele erschütterte.

      Dies hatte nun freilich für Antons Seele weit mehr Anziehendes, als die biblische Geschichte, und alles, was er vorher in dem Leben der Altväter, oder in den Guionschen Schriften gelesen hatte; und da ihm nie eigentlich gesagt worden war, dass jenes wahr, und dieses falsch sei, so fand er sich gar nicht ungeneigt, die heidnische Göttergeschichte mit allem, was da hineinschlug, wirklich zu glauben.

      Ebenso wenig konnte er aber auch, was in der Bibel stand, verwerfen; um so viel mehr, da dies die ersten Eindrücke auf seine Seele gewesen waren. Er suchte also, welches ihm allein übrigblieb, die verschiedenen Systeme, so gut er konnte, in seinem Kopfe zu vereinigen, und auf die Weise die Bibel mit dem Telemach, das Leben der Altväter mit der Acerra philologica, und die heidnische Welt mit der christlichen zusammenzuschmelzen.

      Die erste Person in der Gottheit und Jupiter, Calypso und die Madam Guion, der Himmel und Elysium, die Hölle und der Tartarus, Pluto und der Teufel, machten bei ihm die sonderbarste Ideenkombination, die wohl je in einem menschlichen Gehirn mag existiert haben.

      Dies machte einen so starken Eindruck auf sein Gemüt, [31]dass er noch lange nachher eine gewisse Ehrfurcht gegen die heidnischen Gottheiten behalten hat.

      Von dem Hause, wo Antons Vater logierte, bis nach dem Gesundbrunnen und der Allee dabei, war ein ziemlich weiter Weg. Anton schleppte sich demohngeachtet mit seinem schmerzenden Fuße, das Buch unterm Arm, hinaus, und setzte sich auf eine Bank in der Allee, wo er im Lesen nach und nach seinen Schmerz vergaß, und bald nicht nur auf der Bank in P[yrmont] sondern auf irgendeiner Insel mit hohen Schlössern und Türmen, oder mitten im wilden Kriegsgetümmel sich befand.

      Mit einer Art von wehmütiger Freude las er nun, wenn Helden fielen, es schmerzte ihn zwar, aber doch deuchte ihm, sie mussten fallen.

      Dies mochte auch wohl einen großen Einfluss auf seine kindischen Spiele haben. Ein Fleck voll hochgewachsener Nesseln oder Disteln waren ihm so viele feindliche Köpfe, unter denen er manchmal grausam wütete, und sie mit seinem Stabe einen nach dem andern herunterhieb.

      Wenn er auf der Wiese ging, so machte er eine Scheidung, und ließ in seinen Gedanken zwei Heere gelber oder weißer Blumen gegeneinander anrücken. Den größten unter ihnen gab er Namen von seinen Helden, und eine benannte er auch wohl von sich selber. Dann stellte er eine Art von blindem Fatum vor, und mit zugemachten Augen hieb er mit seinem Stabe, wohin er traf.

      Wenn er dann seine Augen wieder eröffnete, so sah er die schreckliche Zerstörung, hier lag ein Held und dort einer auf den Boden hingestreckt, und oft erblickte er mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen.

      [32]Er betrauerte dann eine Weile seine Helden, und verließ das fürchterliche Schlachtfeld. Zu Hause, nicht weit von der Wohnung seiner Eltern, war ein Kirchhof, auf welchem er eine ganze Generation von Blumen und Pflanzen mit eisernem Szepter beherrschte, und keinen Tag hingehen ließ, wo er nicht mit ihnen eine Art von Musterung hielt.

      Als er von P[yrmont] wieder nach Hause gereist war, schnitzte er sich alle Helden aus dem Telemach von Papier, bemalte sie nach den Kupferstichen mit Helm und Panzer, und ließ sie einige Tage lang in Schlachtordnung stehen, bis er endlich ihr Schicksal entschied, und mit grausamen Messerhieben unter ihnen wütete, diesem den Helm, jenem den Schädel zerspaltete, und rund um sich her nichts als Tod und Verderben sahe.

      So liefen alle seine Spiele auch mit Kirsch- und Pflaumkernen auf Verderben und Zerstörung hinaus. Auch über diese musste ein blindes Schicksal walten, indem er zwei verschiedne Arten als Heere gegeneinander anrücken, und nun mit zugemachten Augen den eisernen Hammer auf sie herabfallen ließ, und wen es traf, den traf’s.

      Wenn er Fliegen mit der Klappe totschlug, so tat er dieses mit einer Art von Feierlichkeit, indem er einer jeden mit einem Stücke Messing, das er in der Hand hatte, vorher die Totenglocke läutete. Das allergrößte Vergnügen machte es ihm, wenn er eine aus kleinen papiernen Häusern erbauete Stadt verbrennen, und dann nachher mit feierlichem Ernst und Wehmut den zurückgebliebenen Aschenhaufen betrachten konnte.

      Ja als in der Stadt, wo seine Eltern wohnten, einmal wirklich in der Nacht ein Haus abbrannte, so empfand er [33]bei allem Schreck eine Art von geheimem Wunsche, dass das Feuer nicht so bald gelöscht werden möchte.

      Dieser Wunsch hatte nichts weniger als Schadenfreude zum Grunde, sondern entstand aus einer dunklen Ahndung von großen Veränderungen, Auswanderungen und Revolutionen, wo alle Dinge eine ganz andre Gestalt bekommen, und die bisherige Einförmigkeit aufhören würde.

      Selbst der Gedanke an seine eigne Zerstörung war ihm nicht nur angenehm, sondern verursachte ihm sogar eine Art von wollüstiger Empfindung, wenn er oft des Abends, ehe er einschlief, sich die Auflösung und das Auseinanderfallen seines Körpers lebhaft dachte.

      Antons dreimonatlicher Aufenthalt in P[yrmont] war ihm in vieler Rücksicht sehr vorteilhaft, weil er fast immer sich selbst überlassen war, und das Glück hatte, diese kurze Zeit wieder von seinen Eltern entfernt zu sein, indem seine Mutter zu Hause geblieben war, und sein Vater andre Geschäfte in P[yrmont] hatte, und sich nicht viel um ihn bekümmerte; doch aber sich hier, wenn er ihn zuweilen sahe, weit gütiger, als zu Hause, gegen ihn betrug.

      Auch logierte mit Antons Vater in demselben Hause ein Engländer, der gut deutsch sprach, und sich mit Anton mehr abgab, wie irgendeiner vor ihm getan hatte, indem er anfing, ihn durch bloßes Sprechen Englisch zu lehren, und sich über seine Progressen freute. Er unterredete sich mit ihm, ging mit ihm spazieren, und konnte am Ende fast gar nicht mehr ohne ihn sein.

      Dies war der erste Freund, den Anton auf Erden fand: mit Wehmut nahm er von ihm Abschied. Der Engländer drückte ihm bei seiner Abreise ein silbern Schaustück in die Hand, das sollte er ihm zum Andenken aufbewahren, bis er [34]einmal nach England käme, wo ihm sein Haus offen stände: nach funfzehn Jahren kam Anton wirklich nach England, und hatte noch sein Schaustück bei sich, aber der erste Freund seiner Jugend war tot.

      Anton sollte einmal diesen Engländer gegen einen Fremden, der ihn besuchen wollte, verleugnen, und sagen, er sei nicht zu Hause. Man konnte ihn auf keine Weise dazu bringen, weil er keine Lüge begehen wollte.

      Dies wurde ihm damals sehr hoch angerechnet, und war just einer der Fälle, wo er tugendhafter scheinen wollte, als er wirklich war, denn er hatte sich sonst eben aus einer Notlüge nicht so sehr viel gemacht; aber seinen wahren innern Kampf, wo er oft seine unschuldigsten Wünsche einem eingebildeten Missfallen des göttlichen Wesens aufopferte, bemerkte niemand.

      Indes war ihm das liebreiche Betragen, das man in P[yrmont] gegen ihn bewies, sehr aufmunternd, und erhob seinen niedergedrückten Geist ein wenig. Wegen seiner Schmerzen am Fuße bezeugte man ihm Mitleid, im von F[leischbein]schen Hause begegnete man ihm leutselig, und der Herr von F[leischbein] küsste ihn auf die Stirne, sooft er ihm auf der Straße begegnete. Dergleichen Begegnungen waren ihm ganz etwas Ungewohntes und Rührendes, das seine Stirne wieder freier, sein Auge offner, und seine Seele heitrer machte.

      Er fing nun auch an, sich auf die Poesie zu legen, und besang, was er sah und hörte. Er hatte zwei Stiefbrüder, die beide in P[yrmont] das Schneiderhandwerk lernten, und deren Meister ebenfalls Anhänger der Lehre des Herrn von F[leischbein] waren. Von diesen nahm er in Versen, die er selbst gemacht und auswendig gelernt hatte, sehr rührend [35]Abschied, so wie auch von dem von F[leischbein]schen Hause.

      Freilich