Karl Philipp Moritz

Anton Reiser. Ein psychologischer Roman


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Knaben, der zur Zeit der Verfolgung die christliche Religion nicht verleugnen wollte, sondern sich lieber auf das entsetzlichste peinigen, und nebst seiner Mutter, als ein Märtyrer für die Religion sein Leben ließ; die andre von einem bösen Buben, der sich im zwanzigsten Jahre seines Lebens bekehrte, und bald darauf starb.

      Nun kam auch das andre kleine Buch an die Reihe, worin die Abhandlung gegen das Buchstabieren stand, und er zu seiner großen Verwunderung las, dass es schädlich, ja seelenverderblich sei, die Kinder durch Buchstabieren lesen zu lehren.

      In diesem Buche fand er auch eine Anweisung für Lehrer, die Kinder lesen zu lehren, und eine Abhandlung über die Hervorbringung der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge: so trocken ihm dieses schien, so las er es doch aus Mangel an etwas Besserm, mit der größten Standhaftigkeit, nach der Reihe durch.

      Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuss er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche.

      So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können.

      [20]Schon im achten Jahre bekam er eine Art von auszehrender Krankheit. Man gab ihn völlig auf, und er hörte beständig von sich, wie von einem, der schon wie ein Toter beobachtet wird, reden. Dies war ihm immer lächerlich, oder vielmehr war ihm das Sterben selbst, wie er sich damals vorstellte, mehr etwas Lächerliches, als etwas Ernsthaftes. Seine Base, der er doch etwas lieber, wie seinen Eltern zu sein schien, ging endlich mit ihm zu einem Arzt, und eine Kur von einigen Monaten stellte ihn wieder her.

      Kaum war er einige Wochen gesund, als ihn gerade bei einem Spaziergange mit seinen Eltern auf das Feld, der ihm sehr etwas Seltnes, und eben daher desto reizender war, der linke Fuß an zu schmerzen fing. Dies war nach überstandner Krankheit sein erster und sollte auf lange Zeit sein letzter Spaziergang sein.

      Am dritten Tage war die Geschwulst und Entzündung am Fuße schon so gefährlich geworden, dass man am vierten zur Amputation schreiten wollte. Antons Mutter saß und weinte, und sein Vater gab ihm zwei Pfennige. Dies waren die ersten Äußerungen des Mitleids gegen ihn, deren er sich von seinen Eltern erinnert, und die wegen der Seltenheit einen desto stärkern Eindruck auf ihn machten.

      An dem Tage vor der beschlossnen Amputation kam ein mitleidiger Schuster zu Antons Mutter, und brachte ihr eine Salbe, durch deren Gebrauch sich die Geschwulst und Entzündung im Fuße, während wenigen Stunden legte. Zum Fußabnehmen kam es nun nicht, aber der Schaden dauerte demohngeachtet vier Jahre lang, ehe er geheilt werden konnte, in welcher Zeit unser Anton wiederum unter oft unsäglichen Schmerzen alle Freuden der Kindheit entbehren musste.

      [21]Bei diesem Schaden konnte er zuweilen ein ganzes Vierteljahr nicht aus dem Hause gehen, nachdem er eine Weile zuheilte, und immer wieder aufbrach.

      Oft musste er ganze Nächte hindurch wimmern und klagen, und die abscheulichsten Schmerzen fast alle Tage beim Verbinden erdulden. Dies entfernte ihn natürlicherweise noch mehr aus der Welt und von dem Umgange mit seinesgleichen, und fesselte ihn immer mehr an das Lesen und an die Bücher. Am häufigsten las er, wenn er seinen jüngern Bruder wiegte, und wann es ihm damals an einem Buche fehlte, so war es, als wenn es ihm itzt an einem Freunde fehlt: denn das Buch musste ihm Freund, und Tröster, und alles sein.

      Im neunten Jahre las er alles, was Geschichte in der Bibel ist, vom Anfange bis zu Ende durch; und wenn einer von den Hauptpersonen, als Moses, Samuel, oder David, gestorben war, so konnte er sich tagelang darüber betrüben, und es war ihm dabei zumute, als sei ihm ein Freund abgestorben, so lieb wurden ihm immer die Personen, die viel in der Welt getan, und sich einen Namen gemacht hatten.

      So war Joab sein Held, und es schmerzte ihn, sooft er schlecht von ihm denken musste. Insbesondre haben ihn oft die Züge der Großmut in Davids Geschichte, wenn er seines ärgsten Feindes schonte, da er ihn doch in seiner Gewalt hatte, bis zu Tränen gerührt.

      Nun fiel ihm das Leben der Altväter in die Hände, welches sein Vater sehr hochschätzte, und diese Altväter bei jeder Gelegenheit als Autoritäten anführte. So fingen sich gemeiniglich seine moralischen Reden an: die Madam Guion spricht, oder der heilige Makarius oder Antonius sagt usw.

      [22]Die Altväter, so abgeschmackt und abenteuerlich oft ihre Geschichte sein mochte, waren für Anton die würdigsten Muster zur Nachahmung, und er kannte eine Zeitlang keinen höhern Wunsch, als seinem großen Namensgenossen, dem heiligen Antonius, ähnlich zu werden, und wie dieser Vater und Mutter zu verlassen und in eine Wüste zu fliehen, die er nicht weit vom Tore zu finden hoffte, und wohin er einmal wirklich eine Reise antrat, indem er sich über hundert Schritte weit von der Wohnung seiner Eltern entfernte, und vielleicht noch weiter gegangen wäre, wenn die Schmerzen an seinem Fuße ihn nicht genötiget hätten, wieder zurückzukehren. Auch fing er wirklich zuweilen an, sich mit Nadeln zu pricken, und sonst zu peinigen, um dadurch den heiligen Altvätern einigermaßen ähnlich zu werden, da es ihm doch ohnedem an Schmerzen nicht fehlte.

      Während dieser Lektüre ward ihm ein kleines Buch geschenkt, dessen eigentlichen Titel er sich nicht erinnert, das aber von einer frühen Gottesfurcht handelte, und Anweisung gab, wie man schon vom sechsten bis zum vierzehnten Jahre in der Frömmigkeit wachsen könne. Die Abhandlungen in diesem Büchelchen hießen also: für Kinder von sechs Jahren, für Kinder von sieben Jahren usw. Anton las also den Abschnitt für Kinder von neun Jahren, und fand, dass es noch Zeit sei, ein frommer Mensch zu werden, dass er aber schon drei Jahre versäumt habe.

      Dies erschütterte seine ganze Seele, und er fasste einen so festen Vorsatz sich zu bekehren, wie ihn wohl selten Erwachsene fassen mögen. Von der Stunde an befolgte er alles, was von Gebet, Gehorsam, Geduld, Ordnung usw. in dem Buche stand, auf das pünktlichste, und machte sich nun beinahe jeden zu schnellen Schritt zur Sünde. Wie [23]weit, dachte er, werde ich nun nicht schon in fünf Jahren sein, wenn ich hierbei bleibe. Denn in dem kleinen Buche war das Fortrücken in der Frömmigkeit gleichsam zu einer Sache des Ehrgeizes gemacht, wie man etwa sich freuet, aus einer Klasse in die andere immer höher gestiegen zu sein.

      Wenn er, wie natürlich, sich zuweilen vergaß, und einmal, wenn er Linderung an seinem Fuße fühlte, umhersprang oder -lief, so fühlte er darüber die heftigsten Gewissensbisse, und es war ihm immer, als sei er nun schon einige Stufen wieder zurückgekommen.

      Dieses kleine Buch hatte lange einen starken Einfluss auf seine Handlungen und Gesinnungen: Denn was er las, das suchte er auch gleich auszuüben. Daher las er auf jeden Tag in der Woche sehr gewissenhaft den Abend- und Morgensegen, weil im Katechismus stand, man müsse ihn lesen; auch vergaß er nicht, das Kreuz dabei zu machen, und das walte zu sagen, wie es im Katechismus befohlen war.

      Sonst sahe er nicht viel von Frömmigkeit, ob er gleich immer viel davon reden hörte, und seine Mutter ihn alle Abend einsegnete, und niemals vergaß, ehe er einschlief, das Zeichen des Kreuzes über ihn zu machen.

      Der Herr von F[leischbein] hatte unter andern die geistlichen Lieder der Madam Guion ins Deutsche übersetzt, und Antons Vater, der musikalisch war, passte ihnen Melodien an, die größtenteils einen raschen, fröhlichen Gang hatten.

      Wenn es sich nun fügte, dass er etwa einmal nach einer langen Trennung wieder zu Hause kam, so ließ sich denn doch die Ehegattin überreden, einige dieser Lieder mitzusingen, wozu er die Zither spielte. Dies geschahe gemeiniglich kurz nach der ersten Freude des Wiedersehens, und [24]diese Stunden mochten wohl noch die glücklichsten in ihrem Ehestande sein.

      Anton war dann am frohesten, und stimmte oft, so gut er konnte, in diese Lieder ein, die ein Zeichen der so seltnen wechselseitigen Harmonie und Übereinstimmung bei seinen Eltern waren.

      Diese Lieder gab ihm nun sein Vater, da er ihn für reif genug zu dieser Lektüre hielt, in die Hände, und ließ sie ihn zum Teil auswendig lernen.

      Wirklich hatten diese Gesänge, ohngeachtet der steifen Übersetzung, immer noch so viel Seelenschmelzendes, eine so unnachahmliche