Nancy Salchow

Der Bastard, mein Herz und ich


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      Hannes. Meine erste Liebe.

      Und meine bisher längste, mit der keine der nachfolgenden Beziehungen konkurrieren konnte.

      Was er wohl inzwischen macht? Ob er die Fesseln der Provinzlangeweile, wie er sie immer so abfällig nannte, inzwischen abgelegt hat und in Berlin glücklicher geworden ist? Und ob er mich und unsere vier Jahre inzwischen vergessen hat?

      „Wissen Sie, dass ich mir ziemlich dämlich vorkomme?“, ruft er mir zu.

      „Dämlich?“ Ich komme ein paar Schritte aus dem Wasser heraus auf ihn zu. „Aber warum denn?“

      „Weil nichts unnatürlicher ist als ein gestelltes Foto“, antwortet er, während er die Arme sinken lässt. „Es wäre mir wesentlich lieber, wenn Sie mich bei der Arbeit fotografieren. Am besten so, dass ich es nicht mitbekomme.“

      „Sie arbeiten aber nun mal am Meer“, verteidige ich meine Strategie. „Da müssen wir zumindest ein wenig Flair in die Sache bringen. Langweilige Schreibtisch-Fotos kann doch jeder. Ich bin auf der Suche nach dem ganz besonderen Schnappschuss.“

      „Trotzdem muss eine kleine Fotopause erlaubt sein.“ Er entfernt sich vom Boot und kommt auf mich zu. „Wie wäre es, wenn wir zurück zum Hotel gehen? Ich erwarte einen wichtigen Anruf aus München. Es wäre mir lieb, wenn ich dabei in meinem Büro wäre.“

      „Natürlich.“ Ich stecke meine Kamera zurück in die Tasche. „Das Ziel ist ja, Sie bei einem ganz normalen Arbeitstag zu begleiten.“

      „Eben.“ Er neigt den Kopf zur Seite und betrachtet mich, als würde er in meinen Augen die Antwort auf eine bestimmte Frage suchen. „Wer weiß, vielleicht erfahren Sie auf diese Weise ja etwas Interessantes für Ihren Bericht?“

      „Was mich viel mehr interessieren würde“, entgegne ich, während wir langsam zurück zur Strandpromenade gehen, „ist Ihr Werdegang, Herr Teschner.“

      „Mein Werdegang?“

      „Ja. Wir sind Sie überhaupt zu Ihrem ersten Hotel gekommen? Sie sind doch noch so jung, wenn ich das so sagen darf.“

      „Danke. Aber mein erstes Hotel hat weniger mit Erfolgsgespür zu tun als mit Glück. Mein Vater ist vor sieben Jahren in den Ruhestand gegangen und hat mich in seine Fußstapfen treten lassen, nachdem ich eine Ausbildung zum Hotelfachmann in ebendiesem Ursprung all meiner Hotels absolviert hatte.“

      „Im Möwenzauber?“

      Er nickt. „Dort fing alles an. Und von da an haben wir alles getan, um das Hotel zu dem zu machen, was es heute ist.“

      „Wir?“

      „Mein Bruder und ich.“

      „Sie haben einen Bruder?“

      „Clemens. Wobei er sich mehr auf Restaurants spezialisiert hat. In unseren Hotels, aber auch darüber hinaus. Das ist sein Steckenpferd. Er ist der beste Koch, den Sie sich vorstellen können. Die Gemüselasagne, die Sie heute gegessen haben, verdanken Sie ihm.“

      „Tatsächlich? Sie war großartig.“

      „Clemens hat es einfach drauf. Das Geschäftliche hingegen überlässt er lieber mir.“ Ein geheimnisvolles Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. „So wie einige andere Dinge.“

      „Verstehe.“

      „Na ja, und die anderen beiden Hotels in Wismar“, fährt er fort, „das hat sich einfach durch Zufall ergeben. Eines stand zum Verkauf, weil die Besucherzahlen im Sturzflug waren. Das andere war das Opfer einer bösen Scheidung. Die Besitzer waren verheiratet – bis sie ihn mit einem Zimmermädchen in flagranti erwischt hat. Und dann ging es um alles oder nichts. Sie wissen schon: Kann ich das Hotel nicht haben, kriegst du es auch nicht.“

      „Beängstigend, wie schnell sich Liebe doch wandeln kann.“

      „Beängstigend, ja.“ Er stupst mir mit dem Ellenbogen in die Hüfte. „Das mit dem Zimmermädchen behalten Sie aber bitte für sich, ja? Es soll mich ja niemand für eine männliche Tratschtante halten.“

      „Natürlich. Das sind ohnehin nicht die Details, die mich interessieren. Ich bin ja keine Klatschreporterin.“

      Alwin schiebt die Hände in seine Hosentaschen. Wie ruhig er wirkt, während wir nebeneinander den Strand entlanggehen. So ruhig und ausgeglichen. Und dann, wie aus dem Nichts, blitzt wieder dieser jugendliche Charme auf, wann immer sich unsere Blicke treffen.

      „Es ist sehr ruhig heute“, stellt er beim Blick über das Meer fest. „So kurz nach dem Regen ist mir der Strand am liebsten. Keine Touristen. Nur hier und da ein melancholischer Spaziergänger. Der perfekte Zeitpunkt, um seine Gedanken zu ordnen.“

      Nicht weit von uns, direkt im feuchten Sand neben einem Steg, sitzen mehrere Möwen.

      Durch eine sanfte Berührung bringt er mich zum Stehen und zieht mich langsam zu sich in die Hocke.

      „Schauen Sie“, sagt er leise. „Sind das nicht faszinierende Tiere?“

      Schweigend folge ich seinem Blick zu den Vögeln im Sand.

      „Ich könnte ihnen stundenlang zusehen“, sagt er. „Wussten Sie, dass Möwen ganz furchtbare Taucher sind? Hin und wieder werden sie deshalb sogar zu Mundräubern und stehlen anderen Vogelarten die Beute aus dem Schnabel, die sie selbst niemals fangen könnten.“

      „Nein, das wusste ich nicht.“ Eine Erinnerung wird in mir wach. „Mein Bruder und ich haben früher immer am Strand gespielt und den Möwen Namen gegeben. Ich weiß noch wie heute, dass bei mir jede Möwe Elwira hieß.“

      „Tatsächlich? Das ist witzig. Mich haben diese Tiere auch schon von Kindesbeinen an begeistert.“

      Ich weiß nicht, ob ich unbewusst eine Bewegung mache, die in seinen Augen zu hektisch ist. Irgendetwas jedoch bringt ihn dazu, meine Hand mit sanftem Druck festzuhalten, sodass ich neben ihm regungslos innehalte, um den Vögeln zu zuzuschauen.

      „Schon als Kind“, sagt er, „gab es für mich nichts Beruhigenderes, als die Möwen zu beobachten. Sie sind so im Einklang mit sich selbst und ihrer Umgebung. Finden Sie nicht auch?“

      „Um ehrlich zu sein, habe ich als junges Mädchen nie so genau darüber nachgedacht. Ich fand sie einfach nur niedlich. Aber jetzt, wo Sie es erwähnen … Möwen sind vermutlich irgendwie … na ja … so etwas wie ein Symbol. Ein Symbol des Meeres und der damit verbundenen Freiheit.“

      „Der Freiheit“, antwortet er, ohne den Blick von den Vögeln abzuwenden „aber auch der Melancholie.“

      „Melancholie“, wiederhole ich beinahe lautlos.

      „Faszinierende Tiere“, sagt er. „Immer noch und immer wieder aufs Neue.“

      Langsam wendet er sich von den Vögeln ab und schaut mich erneut mit diesem seltsam suchenden Blick an. Erst jetzt wird mir bewusst, dass meine Hand noch immer in seiner liegt.

      Irgendetwas scheint in der Luft zu schweben. Für einen Moment schauen wir einander wortlos an. Niemand von uns wagt ein Wort, geschweige denn eine Bewegung.

      Täusche ich mich oder liegt irgendetwas Ungreifbares zwischen uns? Kein anzügliches Lächeln, keine fragwürdigen Blicke – einfach nur eine unerklärliche Atmosphäre, die sich nicht in Worte fassen lässt.

      Plötzlich durchschneidet ein hartnäckiges Vibrieren die Stille.

      „Verdammt.“ Er zieht sein Handy aus der Hosentasche. „Der Anruf aus München. Und ich habe die Unterlagen nicht dabei.“

      Doch die Art, wie er auf sein Display schaut, macht deutlich, dass es doch nicht der erwartete Anruf ist.

      Nach einem kurzen Zögern nimmt er schließlich ab.

      „Susanna … Nein. Es ist gerade etwas …“, er schaut mich an, „ungünstig.“

      Ich erhebe mich aus der Hocke und tue so, als hätte ich etwas