Peter Maier

Schule – quo vadis?


Скачать книгу

      Da ich die Frage des Lehrers nicht beantworten konnte, schickte der mich sogleich während des Unterrichts nach Hause, um meinen Vater zu fragen. Dieser hatte, wie ich erst jetzt erfuhr, einige Tage zuvor bei einem zufälligen Treffen mit meinem Lehrer auf der Straße den Wunsch geäußert, mich aufs Gymnasium zu schicken. Davon hatte ich aber selbst als der eigentlich Betroffene nichts mitbekommen. Mein Vater hatte mir nichts von seinem Ansinnen gesagt.

      Zufällig war mein Vater zu Hause. Er fragte mich Elfjährigen, was ich denn in drei Jahren nach der Schulentlassung beruflich werden wolle – Maurer, Metzger, Bäcker, Zimmermann oder Schreiner?55 Ich war entsetzt. Wieso sollte ich solch einen Handwerksberuf erlernen, wenn ich doch der zukünftige Hoferbe sein würde? Da erst rückte mein Vater mit seiner Wahrheit heraus, die mir Angst machte: Er fühle sich noch viel zu jung und vital und wolle den Hof möglichst lange nicht an einen Nachfolger übergeben. Daher habe er vor, ihn einmal an meinen um fast vier Jahre jüngeren Bruder zu vererben. Damit war ich nach den Plänen meines Vaters aus der Erblinie des Hofes bereits ausgeschieden, bevor ich überhaupt eine Chance hatte, hineinzukommen. Vehement lehnte ich alle Handwerksberufe ab, weil ich mich nicht als zukünftigen Hoferbe so einfach „rauskegeln“ lassen wollte. Daraufhin meinte mein Vater: „Ja wenn du keinen solchen Handwerksberuf ergreifen willst, kannst du ja gleich aufs Gymnasium gehen.“

      Mit dieser Botschaft im Gepäck fuhr ich wieder zur Schule zurück. Daraufhin meldete mich der Lehrer als einzigen meiner Klasse am benachbarten Landkreis-Gymnasium an und vier Wochen später saß ich mit vielen anderen, mir völlig fremden Jungen und Mädchen, in der Aufnahmeprüfung. Drei Tage lang mussten wir jungen Kandidaten die schriftlichen Tests in Mathematik, Deutsch und Sachkunde bestehen und wurden danach auch noch mündlich auf Herz und Nieren geprüft.

      Ich beherrschte nur einen bayerischen Dialekt

      Ich schaffte die Prüfungen und konnte im September 1965 mit der höheren Schule beginnen. Neun Jahre lang war ich nun täglich 62 Kilometer auf der Strecke – je 31 Kilometer hin und zurück mit Fahrrad, Bummelzug und zu Fuß. In meiner Klasse waren zunächst 44 Kinder. Davon waren zwei Drittel Fahrschüler wie ich, nur ein Drittel der Klassenkameraden stammten aus dem Schulort selbst. Diese fühlten sich sicherer, einige von ihnen waren sogar richtig arrogant und begannen uns Jungen aus den entfernteren Bauerndörfern zu mobben. Zudem musste ich feststellen, dass mich der Deutschlehrer beständig kritisierte, weil ich nur Dialekt sprechen konnte – Oberpfälzer Dialekt.56 Der Lehrer, der mich in der fünften Volksschulklasse in meinem Dorf unterrichtet hatte, hatte viel Wert auf Mathematik und Sachkunde, weniger auf das Schriftdeutsch gelegt. Daher hatten wir nie Schriftdeutsch zu sprechen und auch nicht wirklich zu schreiben gelernt. Das rächte sich jetzt furchtbar am Gymnasium und da begann meine große Not...

      Mittwoch, 1. Dezember 1965. Elternsprechtag. Wir hatten schulfrei. Mein Vater hatte sich diesen Tag Zeit genommen, um die Lehrer der Kernfächer zu besuchen. Der Mathematiklehrer berichtete ihm, dass ich in seinem Fach gut mitarbeiten würde. Dann kam mein Vater zum Deutschlehrer. Dieser bat meinen Vater sofort eindringlich, mich umgehend, am besten noch heute, wieder vom Gymnasium zu nehmen, da ich keine Chance hätte. Als Beweis legte der Lehrer meinem Vater die soeben korrigierte erste Deutschschulaufgabe vor – einen Aufsatz, genauer gesagt einen Erlebnisbericht. Darin gab es auf den vier kleinen Seiten keine einzige Zeile, in der nicht mehrere Wörter rot angestrichen waren. 40 (!) Rechtschreibfehler und zusätzlich 20 (!) sogenannte „Ausdrucksfehler“ wies meine Arbeit auf.

      Nach diesen Ausführungen war mein Vater ziemlich betroffen und ich, der während des Besuchs beim Deutschlehrer vor der Türe gewartet hatte, war richtig entsetzt. Ich verstand die Welt nicht mehr. Denn mutig war ich das Thema „Ein unvergessliches Erlebnis“ angegangen und hatte voll Freude und Spontanität von den Erlebnissen bei der aufregenden Kartoffelernte mit dem Bulldog, dem neuesten Kartoffelroder und all den Taglöhnern berichtet, die kürzlich bei uns gearbeitet hatten. Dabei hatte ich so geschrieben, wie ich die Wörter und Ausdrücke eben von meinem Dialekt her im Ohr hatte – der einzigen mir damals bekannten Sprache. Hier ein Beispiel: „Da die Erdäpfel zeidi waren, wurden sie mit dem Erdäpfelroder aus dem Boden geholt“. Mir waren bis dahin die Wörter „reif“ statt „zeitig“ („zeidi“) und „Kartoffel“ statt „Erdäpfel“ einfach völlig unbekannt. Also hatte der Lehrer diese Wörter als „Ausdrucksfehler“ angestrichen. Für meinen Vater und vor allem für mich brach in diesem Augenblick eine Welt zusammen. Große Unsicherheit und Angst fuhren in mein Gemüt. Sollte denn das geforderte Hoch- oder Schriftdeutsch etwa eine ganz andere Sprache als meine Muttersprache sein, in der ich mich doch bis jetzt sehr sicher gefühlt hatte?

      Mein Vater wollte mich daraufhin gleich beim Direktor von der Schule abmelden. Der Vollständigkeit halber wollte er aber vorher noch zum Englischlehrer gehen. Vielleicht konnte der etwas Besseres über mich berichten – einfach um den Gesamteindruck an meinem letzten Schultag zumindest moralisch ein bisschen aufbessern zu können. Der Englischlehrer war jedoch an diesem Tage krank. Der Schuldirektor selbst vertrat den Englischlehrer und hatte auch die aktuelle Note der vor kurzem geschriebenen und bereits korrigierten ersten Englisch-Schulaufgabe vor sich liegen. Da ich dafür sehr viel gelernt hatte, hatte ich die Note Eins bekommen. Diese Note und der Umstand, dass der Englischlehrer fehlte, retteten an diesem Tag meine Schulkarriere.

      Denn der Direktor hatte ein großes Herz für Landschüler wie mich, die damals eben oft nur Dialekt sprechen konnten. Aufgrund der guten Englischnote erkannte er sofort das Potential, das wahrscheinlich in mir steckte. Er setzte sich vehement für mein Bleiben an der Schule ein und konnte meinen Vater davon überzeugen, mich trotz der schlechten Deutschnote hier zu behalten. Zudem versprach er, mit dem Deutschlehrer zu reden. Da ich in allen folgenden fünf Klassenarbeiten in Deutsch jeweils „Ausreichend“ mit einem beinahe unendlich langen Minus-Balken hinter der Note Vier bekam, obwohl fast genau so viel wie in der ersten Arbeit rot angestrichen war, vermute ich heute, dass der Deutschlehrer nicht frei in seiner Notengebung war: Wahrscheinlich gegen seinen Willen und gegen seine ehrliche und tiefe Überzeugung durfte er mir „Land-Bub“ aufgrund der ausdrücklichen Vorgabe des Direktors während des ganzen ersten Schuljahres offensichtlich höchstens die Note Vier verpassen. Ich glaube, ich hätte damals tatsächlich in allen Deutsch-Schulaufgaben jeweils die Note sechs verdient gehabt.

      In der folgenden Klasse bekam ich einen anderen Deutschlehrer und meine Noten in diesem Fach wurden – auch ohne die vermutete Intervention durch die Schulleitung – deutlich besser. Dennoch wusste ich noch nicht wirklich, wie ich meine Deutschkenntnisse verbessern könnte. Vor allem fühlte ich mich völlig allein mit dem Problem, wie ich – ausgehend von der Muttersprache „Oberpfälzer Dialekt“ – das Hochdeutsch oder zumindest das Schriftdeutsch völlig neu erlernen sollte. In der siebten Klasse musste ich mir daher endlich eingestehen, dass ich neben Englisch und Latein auch noch Deutsch als schwerste dritte Fremdsprache zu bewältigen hatte, die völlig von meiner Muttersprache „Oberpfälzisch“ abwich. Zu Hause konnte ich keine Hilfe bekommen, da meine Eltern ausschließlich Dialekt sprachen. Mit meinen besten Freunden redete ich ebenfalls nur Dialekt.

      Als ich zu Beginn der siebten Klasse in einer Klassenarbeit in Erdkunde nur Note Drei bekommen hatte, packte mich plötzlich die Wut. Ich wollte es allen zeigen, was in mir steckte – den Lehrern, meinem Vater und vor allem den arroganten Stadtkindern in meiner Klasse. Ich lernte nun wie ein Verrückter und bekam dafür bald die Rechnung serviert: überall gute Noten, außer im Fach Deutsch. Als einziger in der Klasse begann ich daher, Deutschregeln aus einem Buch zu pauken, das mir mein Vater beschafft hatte. So wurden die Rechtschreibfehler und die sogenannten Ausdrucksfehler immer weniger. Dann bekamen wir in der 11. Klasse einen neuen Deutsch- und Geschichtslehrer. Er wurde mein großes Vorbild. Von ihm sog ich alles auf, was ich erfahren konnte. Die Konsequenzen ließ nicht lange auf sich warten.

      Denn als ich bald darauf in der ersten Deutsch-Schulaufgabe, einem Besinnungsaufsatz, zwölf große Seiten geschrieben und dafür als einziger die Note Eins in der Klasse erzielt hatte, wollte ich damit sofort zu dem Deutschlehrer laufen, der mich sechs Jahre zuvor fast von der Schule geworfen hätte, und ihm diese Deutsch-Arbeit zeigen. Leider musste ich feststellen, dass dieser mittlerweile als Auslandslehrer in der Türkei tätig war. Ich hätte ihm so gerne mit Wut und Genugtuung meinen Deutschaufsatz