Peter Maier

Schule – quo vadis?


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erbracht, dass ich auch das Schriftdeutsch gut beherrschte.

      Rückblick

      Wenn ich heute auf meine eigene Schulzeit zurückblicke, kann ich feststellen, dass neben meinem Vater einige Lehrer mich durch ihr Verhalten in unterschiedlicher Weise beeinflussten und so äußerst wichtig für meinen weiteren Weg waren:

       mein Vater durch seine autoritative und unerwartete Entscheidung, mich bereits 1965 gegen alle Tradition in meinem Dorf auf eine höhere Schule zu schicken;

       der weitsichtige Volksschullehrer, der mich zur Aufnahmeprüfung am Gymnasium angemeldet und mir Mut gemacht hatte, obwohl ich nur Dialekt sprechen konnte;

       der Deutschlehrer der 5. Klasse, der mich vom Gymnasium werfen wollte – eine ganz falsche Einschätzung aus späterer Betrachtung, wohl aber eine verständliche Haltung aus seiner damaligen Sicht; ihm habe ich es zu verdanken, dass ich mich dann vehement dafür engagierte, mit dem Schriftdeutsch eine ganz neue Fremdsprache zu erlernen, um überhaupt am Gymnasium bleiben zu können;

       der weitsichtige Schuldirektor, der meine Potentiale erkannte und mich am Gymnasium hielt;

       der Deutsch- und Geschichtslehrer ab der 11. Klasse; mit ihm verstand ich mich vom ersten Tag an gut und sog alles von ihm an Wissen und Kompetenzen auf, was ich angeboten bekam.

      Es dauerte jedoch über 40 Jahre, bis mir bewusst wurde, dass gerade dieser Pädagoge es war, der mir mein Schriftdeutsch-Trauma vollkommen genommen, meine Leistungen und Fähigkeiten anerkannt, mich letztlich in meiner Persönlichkeitsentwicklung bestärkt und mich geistig am meisten beeinflusst und gefördert hatte.

      Warum aber erzähle ich diese persönliche, alte Geschichte überhaupt, die nun fast 50 Jahre zurückliegt? Heute gibt es selbst im dialektgefärbten Bayern kaum noch Schüler, die das Schriftdeutsch nicht beherrschen würden. Oder doch? Meiner Meinung nach gibt es eine sehr aktuelle Parallele zu meiner damaligen Situation von 1965: Auch am Gymnasium sind immer mehr Schüler mit Migrationshintergrund anzutreffen. Sie haben heute mit der deutschen Sprache oft ähnliche Schwierigkeiten wie ich damals als dialektsprechender Junge vom Land. Dieses Argument bekommt durch den enormen Zustrom von Flüchtlingen im Jahr 2015, die in unsere Gesellschaft integriert werden müssen, noch eine zusätzliche, sehr aktuelle Note und Brisanz.57 Und die Lehrer und Schulleitungen haben die Aufgabe zu erkennen, ob solche Schüler bei entsprechender individueller Förderung genügend Potential für eine gymnasiale Bildung haben, selbst wenn sie anfangs noch in großen Sprachschwierigkeiten stecken sollten. Hier sind Weitsicht und Fingerspitzengefühl von uns Lehrern gefragt.

      Zudem haben mehrere Pisa-Studien ab 2001 ergeben, dass in Deutschland bis zu 25 (!) Prozent der Schüler deutliche Rechtschreibschwierigkeiten und Leseschwächen haben. Meine damaligen Probleme heute nur in neuer Form? Sprachschwierigkeiten nicht mehr bei Landschülern, sondern bei Kindern mit Migrationshintergrund? Und wie hängen diese Schwierigkeiten mit den sozialen Verhältnissen zusammen, aus denen die Schüler stammen? Ich jedenfalls hoffe, dass ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen immer ein offenes Herz für lernbereite Schüler habe, auch wenn sie zunächst Schwierigkeiten haben sollten. Liegt nicht gerade darin eine zentrale Aufgabe für uns Pädagogen?

      Entscheidung für das Lehramtsstudium

      Doch wie ging meine eigene Geschichte damals weiter? Mit guten Ergebnissen absolvierte ich 1974 mein Abitur und wurde gleich danach zu den Sanitätern bei der Bundeswehr eingezogen. Dadurch kam ich zum ersten Mal von zu Hause weg und machte an verschiedenen Standorten der Bundeswehr wichtige Schritte zu einem selbständigen Leben: in Regensburg, Amberg und in München. Dennoch ließ mich während all der Monate bei der Bundeswehr eine wichtige Frage nicht los. Da mein jüngerer Bruder studieren wollte, mein jüngster Bruder aber erst sechs Jahre alt war und soeben in die Grundschule kam, wusste mein Vater, dass er sich verkalkuliert hatte. Ich, der im Herzen immer „der“ Bauer gewesen war, war drauf und dran, von zu Hause wegzugehen und zu studieren. Durch sein eigenwilliges Manöver im Jahre 1965, mich gegen meinen Willen aufs Gymnasium zu schicken, hatte er womöglich einen potentiellen Hoferben verloren.

      Daher probierte es mein Vater an den Wochenenden während meiner Bundeswehrzeit immer wieder, mich als Hoferben zurückzugewinnen. Er wollte es mir schmackhaft machen, jetzt doch bei ihm in den Betrieb einzusteigen. Denn er hatte hochfliegende Zukunftspläne. Er wollte weitere Äcker kaufen und den Hof vergrößern. Dazu brauchte er jedoch unbedingt meine Hilfe und zwar sofort.

      Dieses Ansinnen meines Vaters erzeugte in mir große Schuldgefühle. Sollte ich also doch Bauer werden, was mein ursprüngliches Ziel war? Aber wozu dann die neunjährige Büffelei am Gymnasium? Noch zehn Jahre zuvor hätte ich mir ja gar nichts anderes vorstellen können. Zudem wusste ich noch nicht, was ich werden sollte, wenn ich den Bauernhof ausschlug. Ich kannte ja nur einen weiteren Beruf aus eigener Anschauung: den Lehrerberuf als echte und realistische Alternative. Diese Tätigkeit zog mich auch deshalb an, weil ich ja neun Jahre lang in meiner eigenen Klasse hautnah viele verschiedene Lehrer erlebt hatte. Einige von ihnen, besonders der Deutschlehrer der Oberstufe, hatten mich durch ihre Fachkenntnisse, ihr Engagement und durch ihre Integrität völlig überzeugt. Das Berufsbild „Gymnasiallehrer“ wurde mir so immer mehr vertraut und stellte nun eine wirkliche Alternative zum Berufsbild des Landwirts dar. Welche Fächer aber sollte ich studieren? Fragen über Fragen.

      Ich redete mit vielen Bundeswehrkameraden. Was sollte ich nach Ende des Wehrdienstes tun? Durfte ich denn überhaupt studieren? Oder hatte ich als Erstgeborener nicht eine Art von uralter „archaischer Pflicht“, den von Eltern und Großeltern als „heilig“ deklarierten Bauernhof doch zu übernehmen, obwohl ich mittlerweile sehr viel Freude an geistigem Wissen gewonnen und ein gutes Abitur hingelegt hatte.

      Ein zehnwöchiger Sanitätskurs während der Bundeswehrzeit in München gab dann den Ausschlag. Die wunderbare Großstadt München mit ihrem pulsierenden internationalen Leben, neue Freunde, die ich dort kennenlernte, sowie einige Ausflüge in die traumhafte Landschaft der Alpen und der Oberbayerischen Seen brachten mich „Ländler“ in eine völlig andere, „höhere Schwingung“. Bei einem der wenigen Wochenendbesuche zu Hause während dieses Kurses fragte mich mein Vater erneut, was ich nach Ende der Bundeswehrzeit zu tun gedenke und ob ich ihm nicht doch auf dem Bauernhof helfen wolle.

      Da antwortete ich ihm, für mich selbst überraschend, Folgendes: „Lieber Vater, ich möchte mich lieber mit Menschen beschäftigen und nicht mit Feld und Vieh!“ Dieser Satz war wie ein Donnerschlag für meinen Vater und auch für mich. Ich weiß bis heute nicht, woher diese Worte kamen. Aus meinem bewussten Verstand, der beständig im Grübeln und Abwägen war, kamen sie jedenfalls nicht. Sie stiegen offensichtlich aus einer bis dahin nicht geahnten, mir unbewussten tieferen Seelenschicht hoch und führten zur Entscheidung: Im November 1975 begann ich mein Studium in Regensburg für das Lehramt an Gymnasien, genauer gesagt für die Fächer Physik und Katholische Religionslehre.

      Reflexion

      Wieder können Sie, lieber Leser, zu Recht fragen, warum ich diese alte Geschichte von mir denn überhaupt erzähle. Sie stammt doch aus einer ganz anderen Zeit. Das stimmt sicher. Aber meine damalige Lage nach dem Abitur und während der Bundeswehrzeit kann durchaus exemplarisch auch für die Situation heutiger Abiturienten gelten: Viele von ihnen wissen nicht, was sie nach ihrem Abitur machen sollen. Und wenn sie dennoch gleich ein Studium nach dem Abitur beginnen, brechen viele von ihnen es wieder ab, weil sie sich eingestehen müssen, dass sie sich in der geschützten Atmosphäre der Schule alles anders vorgestellt hatten. Die Abbruch-Quote in den sogenannten MINT-Fächern an der Uni liegt sogar bei etwa 50 Prozent!58

      Die bewusste Entscheidung für eine Ausbildung oder für ein Studium kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ich beneide die jungen Leute nicht, die bisweilen unter einem großen Druck stehen, die richtige Entscheidung über ihren zukünftigen Beruf treffen zu müssen, den sie oft noch gar nicht kennen oder von dem sie höchstens vage Vorstellungen haben. Erst kürzlich habe ich einen ehemaligen Abiturienten getroffen, der seit fünf (!) Jahren rumhängt, mehrere Studiengänge angefangen und wieder abgebrochen hat und noch immer nicht weiß,