Peter Maier

Schule – quo vadis?


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pädagogische Welt elektrisiert. Denn das Werk hat den Anspruch, die wichtigste Frage aller Bildungsforschung umfassend zu beantworten: Was ist guter und effektiver Unterricht?41

      Gerade hinsichtlich pädagogischer Fragen wird eine Untersuchung nur dann wirklich ernst genommen, wenn sie den Anspruch von Wissenschaftlichkeit zweifelsfrei erfüllt. Offensichtlich ist dies John Hattie überzeugend gelungen, ja er wird mittlerweile als internationale Größe in Bildungsfragen verehrt. In der Bildungsbeilage der englischen Times wird er als „wohl einflussreichster Bildungswissenschaftler der Welt“ bezeichnet, andere stellen seine Forschungsergebnisse in Visible Learning mit den Untersuchungen von „Pisa“ auf eine Stufe, ja selbst in kritischen Artikeln zu Bildungsthemen wird gefragt: „Hat John Hattie tatsächlich den Heiligen Gral der Schulforschung gefunden?“42 Was hat Hattie gemacht, dass er solch ein Aufsehen in der Bildungsforschung erregen konnte? Dazu nochmals Martin Spiewak in DIE ZEIT:

      „John Hattie tat, was vor ihm noch niemand versucht hatte: sämtliche englischsprachigen Studien weltweit zum Lernerfolg zu sichten, zu gewichten und zu einer großen Synthese der empirischen Unterrichtforschung zusammenzuführen. Mehr als 800 Metaanalysen wertete er dafür aus, also jene Art von Untersuchungen, die verschiedene Studien zu einem Thema zusammenfassen, sei es zu Hausaufgaben oder Förderunterricht, zum Vokabellernen, zur Elternarbeit oder zum Sitzenbleiben.

      Aus diesen Metaanalysen erstellte er mit dem Handwerkszeug des Statistikers eine Megaanalyse, in der mehr als 50.000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteiligten Schülern eingeflossen sind. Für die verschiedenen Unterrichtsmethoden und Lernbedingungen errechnete Hattie dann einen Erfolgsfaktor, Effektstärke genannt. Anderthalb Jahrzehnte benötigte der Forscher für seine Fleißarbeit. Am Ende erstellte Hattie eine Art Bestenliste der wirkungsvollsten pädagogischen Programme.“43

      Um seinem Werk eine notwendige Systematik zu geben, ordnete Hattie seine Forschungsergebnisse sechs Bereichen – sogenannten „Domänen“ – zu: Lernende, Elternhaus, Schule, Lehrperson, Curricula (Lehrpläne der einzelnen Fächer), Unterrichten. Diese Bereiche sind wiederum in verschiedene „Einflussfaktoren“ unterteilt, insgesamt 138, die Hattie jeweils mit der oben genannten „Effektstärke“ bewertete und auf diese Weise ein Ranking der (Einfluss)Faktoren erstellen konnte. Sie geben einen wirklich interessanten Hinweis darauf, welche von ihnen für sich genommen das Lernen hemmen und welche es fördern. Dazu gleich mehr. Doch zunächst sollen einige solcher typischen Einflussfaktoren auf die Bildung genannt werden, die Hattie gefunden hat:

       Kreativität, Schülerpersönlichkeit, Motivation oder Konzentration, Ausdauer und Engagement der Kinder (Domäne „Lernende“);

       Familienstruktur, Sozioökonomischer Status, Fernsehen oder Elternunterstützung beim Lernen (Domäne „Elternhaus“);

       Schulleitung, Schulgröße, Inklusive Beschulung oder Klassenzusammenhalt (Domäne „Schule“);

       Fachkompetenz, Lehrerbildung, Klarheit der Lehrperson oder Lehrer-Schüler-Beziehung (Domäne „Lehrperson“);

       Leseförderung, Werte- und Moralerziehung, Vokabel- und Wortschatzförderung oder Outdoor-/Erlebnispädagogik (Domäne „Curricula“);

       Ziele, Lerntechniken, Freiarbeit, Individualisierung, Feedback, Forschendes Lernen oder Problemlösen (Domäne „Unterrichten“).

      Die beiden Herausgeber der deutschsprachigen Übersetzung von Visible Learning („Lernen sichtbar machen“), Wolfgang Beywl und Klaus Zierer, erklären die „Effektstärke“, die das zentrale statistische Vergleichsmaß schlechthin in Hatties Werk ist, so: „Diese bezeichnet die Intensität des Zusammenhangs zwischen dem jeweiligen Faktor und den Lernleistungen oder Outcomes der Lernenden.“44

      Die beiden Bildungsforscher versuchen in der Einleitung ihrer Übersetzung von Hatties Buch ins Deutsche die ganze Aufregung über Hattie zu versachlichen und den Autor („Messias der Bildungsforschung“) und sein Werk („Der Heilige Gral der Bildung“) von überhöhten Vergleichen zu befreien. Gleichzeitig warnen sie vor einer vorschnellen und oberflächlichen Interpretation der Ergebnisse der Hattie-Studie in der deutschsprachigen Bildungsdiskussion. Die Gefahr liegt vor allem darin, von Hatties „Rangliste der Faktoren“ unmittelbar auf zu ergreifende

      (Reform)Maßnahmen zu schließen.45

      Die Effektstärken in Hatties Vergleichstabelle der 138 Einflussfaktoren auf den Lernerfolg („Outcomes“) der Schüler reichen von 1,44 bei der „Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus“ der Schüler (1. Platz) bis zu – 0,34 beim Thema „Schulwechsel“ (138. Platz). Von den 138 Faktoren, in manchen Medien auch „Hattie-Faktoren“ genannt, haben 133 eine leicht bis stark positive Effektstärke, wobei aber lediglich zwei Faktoren über dem Wert von 1,0 liegen; nur fünf haben einen explizit negativen Effekt. 131 Einflussfaktoren und damit die große Mehrheit von ihnen weisen somit eine Effektstärke von 0,0 bis 1,0 auf.46

      Erstaunliche Ergebnisse der Hattie-Studie

      Lieber Leser, es lohnt, sich mit der Hattie-Studie genauer zu beschäftigen, um sich von dem ganzen gegenwärtigen Hype um Schulreformen nicht verrückt machen zu lassen und um mehr Klarheit in bildungspolitischen Fragen zu bekommen. Dafür kann die Studie tatsächlich aufschlussreiche Informationen liefern. In meinem Buch möchte ich jedoch nur drei Aspekte daraus etwas näher betrachten:

       Welcher Einflussfaktor hat die größte Effektstärke?

       Welche Einflussfaktoren haben eine eher geringe Effektstärke?

       Welche Bedeutung hat der Lehrer für den Lernerfolg seiner Schüler?

      Der Einflussfaktor mit der größten Effektstärke:

      Die Hattie-Studie stellt fest, dass die Lernenden sehr gute Kenntnisse bezüglich der Einschätzung ihrer eigenen Leistung und ihrer Erfolgschancen haben. Dazu erläutert Hattie näher: „Auf der einen Seite zeigt dies ein bemerkenswert hohes Maß an Vorhersagbarkeit bezüglich der Leistungen in der Klasse ... Auf der anderen Seite können diese Erfolgserwartungen (die manchmal niedriger sind als das, was Lernende tatsächlich erreichen könnten) auch zu einem Hindernis für manche Lernende werden, da diese dann möglicherweise nur noch das Maß an Leistung zeigen, das ihrer eigenen Erwartung an ihre Leistungsfähigkeit entspricht.“47 Dass die systematische Selbsteinschätzung der Schüler, was sie fachlich können, in Hatties Rankingliste die höchste aller untersuchten Effektstärken bekam, sollte uns Pädagogen zu denken geben.

      Dazu passt auch der Einflussfaktor „Feedback“ (Platz 10 der Rangliste) auf ein erfolgreiches Lerngeschehen. Denn es ist am wirkungsvollsten, wenn es nicht nur vom Lehrer an die Schüler, sondern umgekehrt von den Schülern an den sie unterrichtenden Lehrer gegeben wird.48 Wir Pädagogen sollten also der Rückmeldung unserer Schüler in Zukunft viel Aufmerksamkeit widmen und neben unserer eigenen auch ihrer Einschätzung bezüglich des Unterrichtsgeschehens mehr vertrauen. Außerdem sollte die Persönlichkeitsentwicklung unserer Schüler stets im Mittelpunkt stehen, die das Selbstbewusstsein im Allgemeinen und eine solche Fähigkeit zur Selbsteinschätzung im Besonderen fördern kann.

      Einflussfaktoren mit eher geringer Effektstärke:

      Die größte Sprengkraft von Hatties Studie liegt aber in einer Reihe anderer Erkenntnisse. Dazu nochmals Martin Spiewak in DIE ZEIT:

      „Denn diese stehen geradezu quer zur bildungspolitischen Debatte in vielen Ländern. 'Wir diskutieren leidenschaftlich über äußere Strukturen von Schule und Unterricht', kritisiert Hattie. 'Sie rangieren aber ganz unten in der Tabelle und sind, was das Lernen angeht, unwichtig.'

      So hat die finanzielle Ausstattung einer Schule nur wenig Einfluss auf den Wissensgewinn ihrer Schüler. Ähnlich verhält es sich mit der Reduzierung der Klassengröße, der Lieblingslösung der Lehrerschaft für Probleme jeder Art. Kleine Klassen kosten zwar viel Geld, bleiben in puncto Lernerfolg aber weitgehend ertraglos. Auf Hatties Ranking landet die Klassengröße