Peter Maier

Schule – quo vadis?


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brachten natürlich große Unruhe bei Lehrern und Schülern, sowie bei großen Teilen der Elternschaft mit sich. Im Stadtstaat Hamburg zerbrach an der Gymnasial-Reform die Landesregierung einer Koalition aus CDU und Alternativer Liste, in Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen wurde das alte G-9-Gymnasium wahlweise wieder eingeführt. Auch das Bayerische Kultusministerium kommt seither nicht mehr ganz zur Ruhe und ringt noch immer um geeignete Nachbesserungen im G-8-Gymnasium.

      Die dritte Entwicklung, mit der ich mich als Lehrer auseinandersetzen musste und muss, würde ich als die „digitale Revolution“ bezeichnen, die natürlich auch vor den Schulen nicht halt machen kann und darf. Sie verändert den Schulalltag im Allgemeinen und die Mediennutzung und die damit zusammenhängenden Unterrichtsmethoden im Besonderen permanent mit hoher Geschwindigkeit. Diese Revolution setzte fast zeitgleich mit dem Pisa-Schock ein. Als Beispiele können dazu unter anderem der vermehrte Internet-Einsatz im Unterricht oder die Möglichkeit eines „Internet-Portals“ für die Lehrerkommunikation angeführt werden. Natürlich müssen sich auch wir „alten“ Lehrer diesen digitalen und medialen Herausforderungen stellen. Als ein sehr deutliches Symbol für diese fundamentalen Veränderungen könnten die interaktiven Tafeln, „Whiteboards“ genannt, gelten, die die bisherigen, seit Jahrhunderten bewährten Kreidetafeln ein für alle Mal ablösen.

      Dennoch scheint mir in dem ganzen „Hype“ aus gesellschaftlicher Dauerdiskussion um die richtige Struktur des Gymnasiums, neuer technokratischer Schulverwaltungs-Reformen, sowie der durch die digitale Revolution verursachte permanente Veränderungsprozess in den Kommunikationsmitteln, Medien und Unterrichtsmethoden das Entscheidende von Schule und Unterricht immer mehr in den Hintergrund zu geraten: eine Pädagogik des Herzens, die diesen Namen auch verdient.

      Ich trauere dem „alten Gymnasium“, das bis zum Hereinbrechen des Pisa-Schocks 2001 in westlichen Bundesländern existierte, nicht nach. Ich selbst habe mich ja schon zu einer Zeit, als noch alles beim Alten zu bleiben schien, durch meine langjährigen Fortbildungen auf den Weg zur Entwicklung meiner eigenen Lehrerpersönlichkeit gemacht. Dennoch beschleicht mich jetzt immer mehr der Verdacht, dass oftmals von oben her verordnete Strukturreformen und eine permanente technisch-digitale Veränderung schon als „die“ eigentliche Schulentwicklung selbst angesehen wird – eine große Illusion, wie ich meine!

      Ja, man kann für viel Geld immer neue Informatikräume einrichten und diese mit der jeweils modernsten Generation von Computern bestücken, man kann DVDs auf interaktiven Tafeln abspielen oder You-Tube-Filme sofort ins Klassenzimmer holen. Dies ist toll und dies ist sofort messbar. Auch eine veränderte Schulleitungs-Struktur – ob notwendig und sinnvoll oder nicht –, ist sofort „sichtbar“. Aber ist dies alles wirklich „das“ entscheidende Moment für einen lebendigen und substanziellen Unterricht? Und werden die Ansprüche an eine moderne Pädagogik schon dadurch erfüllt, dass vor jedem Schüler ein Computer steht und sich in jedem Klassenzimmer nun ein interaktives Whiteboard befindet?

      Ich glaube vielmehr, dass die eigentliche Pädagogik, die natürlich nicht so leicht sichtbar und messbar gemacht werden kann, immer mehr in den Hintergrund gerät. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie überflüssig geworden wäre. Denn Jugendliche können in der Regel nur dann gut arbeiten und ordentliche Leistungen erzielen, wenn sie in einer fruchtbaren und lebendigen Beziehung zum jeweiligen Lehrer stehen. Der Slogan „Erziehung durch Beziehung“ hat seine Gültigkeit keineswegs verloren. Im Gegenteil, er ist aktueller denn je. Wenn dieser Grundsatz im großen Getöse der neuesten Medienentwicklung und im von Kritikern so bezeichneten „Schulreformwahn“, den der Pisa-Schock ausgelöst hat, übersehen wird, läuft etwas total schief an der Schule – vor allem am Gymnasium. Hier liegt im Moment viel im Argen und hier muss gegengesteuert werden.

      Besonders das Gymnasium, in das Schüler als Kinder eintreten und das sie acht oder neun Jahre später als bereits Volljährige wieder verlassen, muss immer zwei grundlegende Hauptziele im Auge haben: die fachliche Bildung und die Persönlichkeitsentwicklung, die Hochschulreife und die Charakterbildung, die geistige, wissenschaftliche Herausforderung und die Vermittlung von emotionalen und sozialen Kompetenzen gleichermaßen. Gerade diese zweite Ebene von Persönlichkeitsentwicklung zur Selbständigkeit und Selbstverantwortung, von Charakterbildung und Impulsen zum Erwachsenwerden ist angesichts des digitalen und technokratischen Reformdrucks, sowie der gesellschaftlichen Dauerdiskussion um die richtige Schulstruktur vollkommen in den Hintergrund geraten. Ich möchte diese heute kaum mehr beachtete Ebene mit dem Begriff „Pädagogik des Herzens“ umschreiben.

      Eine Herzens-Pädagogik lässt sich aber auch mit einer Schar von externen Evaluatoren, die ein Gymnasium auf Herz und Nieren prüfen wollen, nur ansatzweise oder gar nicht erfassen. Auch vom grünen Tisch einer Kultusbehörde aus kann diese Ebene, zu der vor allem die Beziehung zwischen Lehrer und Schülern gehört, schwerlich erreicht werden. Meine drei Zusatzausbildungen, die alle die pädagogische Praxis im Klassenzimmer selbst im Blick hatten, haben mir aber genau für diese zweite, eher nicht messbare Ebene den Blick geschärft. Wenn diese im Alltag von Unterricht und Schule jedoch fehlt, geht das Herz der pädagogischen Arbeit verloren. Folgenden Fragen möchte ich daher in diesem Buch besonders nachgehen:

       Was brauchen Jugendliche, besonders Jungen, wirklich, um ihre Persönlichkeit gut entfalten und zugleich ordentliche Lernerfolge erzielen zu können?

       Wie können unsere Schüler von uns Lehrern in der bisweilen schwierigen Zeit ihrer Pubertät adäquat begleitet und zum Erwachsenwerden hingeführt werden? Denn wenn sie mit dem Abitur die Schule verlassen, sind sie volljährig und damit rechtlich gesehen Erwachsene.

       Wie kann eine Schulart wie das Gymnasium den Spagat bewältigen, sich den immer neuesten medialen und strukturellen Entwicklungen zu öffnen, um die geforderte Wissensvermittlung zu bewerkstelligen, und zugleich dem Anspruch gerecht werden, weiterhin ein Ort der Menschlichkeit, sowie der Persönlichkeits-, Charakter- und Wertebildung für die Schüler zu bleiben?

       Wie kann ich mich als einzelner Lehrer in der ganzen Umbruchssituation und in dem heutigen „Hochgeschwindigkeits-Schulalltag“ behaupten und zugleich meinen Schülern Orientierung geben und ihnen Vorbild sein? Wie kann ich also in meinem Unterricht eine gelassene Atmosphäre schaffen und eine „Pädagogik des Herzens“ verwirklichen?

      Diese Fragen sollen in den nachfolgenden Kapiteln näher entfaltet, diskutiert und schließlich beantwortet werden. Es sollen zudem neue und konstruktive Wege gleichsam als notwendiges Korrektiv zur gegenwärtigen aufgeregten Bildungs- und Schulentwicklung aufgezeigt werden. Damit dies möglich wird, sollen im ersten Kapitel zunächst plakativ und griffig einige wesentliche Phänomene beschrieben werden, mit denen sich Schule, Schüler, Lehrer und Schulleitungen gegenwärtig auseinandersetzen müssen.

      Kapitel 1: Schulreformen – geplatzte Illusionen?

      Wie in Vorwort und Einleitung bereits erwähnt, löste der Pisa-Schock 2001 bei den Bildungsverantwortlichen zuerst Entsetzen und dann eine große und bisweilen überstürzte Reformtätigkeit aus, die fast ausschließlich von oben verordnet wurde. Eine gute und fundierte Reform braucht aber in der Regel Zeit, alle Betroffenen müssten zu Wort kommen dürfen und in ihren Ansprüchen, Bedürfnissen und Erfahrungen ernst genommen werden: die Schüler, ihre Eltern, die Lehrer, die Schulleiter, die Sachaufwandsträger. Kein Wunder, dass Kritik von Elternverbänden danach nicht ausblieb und sogar Landtagswahlen nicht zuletzt aufgrund der Bildungspolitik gewonnen oder verloren wurden.

      Der Einfluss von Wirtschaftsverbänden hat bei der Einführung des verkürzten G-8-Gymnasiums in vielen westlichen Bundesländern sicher eine wichtige Rolle gespielt. Schließlich sollte Deutschland im internationalen Vergleich auch zukünftig bestehen können. Ich denke, Reformen im Schulbereich waren und sind unbedingt nötig. Wenn der Wirtschafts- und Bildungsstandort Deutschland weiterhin im internationalen Vergleich konkurrenzfähig bleiben soll, dann dürfen wesentliche Reformen natürlich auch nicht vor den Schulen halt machen.

      Mein Eindruck als Betroffener dieser notwendigen Entwicklung ist jedoch, dass hier ein fundamentaler Irrtum begangen wurde und immer noch wird. Ich möchte dies einmal bewusst provozierend und plakativ so ausdrücken: Schüler sind keine Roboter