Peter Maier

Schule – quo vadis?


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bloße Wissens- und Kompetenzvermittlung gehen, obwohl diese äußerst wichtig sind. Gerade in der Pubertät sind die Jugendlichen in einer fundamentalen Entwicklungs- und Umbruchssituation, sie sollen zudem soziale Fähigkeiten einüben und ein eigenes Wertesystem ausbilden können. Dazu braucht es aber Zeit und Muße.

      Wenn Jugendliche durch eine hohe Wochenstundenzahl wie am G-8-Gymnasium und durch eine hohe Frequenz von Prüfungen zu sehr unter Druck gesetzt werden, haben sie zu wenig Zeit, sich zu entfalten, nachzudenken und ihren sonstigen Neigungen nachzugehen. Schüler brauchen genügend Freizeit, damit sie den Stoff verdauen können und sich das Gelernte in ihnen setzen kann. Außerdem müssen sie Anregungen für ihre Persönlichkeitsentwicklung aufnehmen und integrieren können. Daher ist es kein Wunder, dass sich nach fast 15 Jahren Reformtätigkeit der Kultusbehörden immer mehr Gegenstimmen erheben, die den tatsächlichen oder nur vermeintlichen Untergang des herkömmlichen Gymnasiums beklagen und auch nicht mit beißender Kritik sparen. Der Nachteil an diesen Stimmen ist jedoch, dass sie meist von außerhalb des Schulsystems kommen. Was ist mit den Betroffenen selbst – mit den Schülern und den Lehrern? Gerade die Erfahrungen der Lehrer sind jetzt in der öffentlichen Debatte gefragt.

      Dieses Buch möchte genau hier ansetzen: Ich möchte Impulse und Anregungen zu Schule und Unterricht aus der Sicht eines erfahrenen Pädagogen geben, die ich in der momentanen, heiß gelaufenen Bildungsdiskussion ziemlich vermisse. Um dies bewerkstelligen zu können, wird in diesem ersten Kapitel zunächst auf wesentliche Punkte der gegenwärtigen Bildungsdiskussion eingegangen und es sollen einige ernst zu nehmende Kritiker zu Wort kommen.

      Der österreichische Philosoph und Kulturkritiker Konrad Paul Liessmann hat mit seinem Buch „Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift“4 viel Aufsehen erregt. Er wendet sich leidenschaftlich und in sehr plakativer und zum Teil sarkastischer Weise gegen den durch den Pisa-Schock ausgelösten und von ihm so betrachteten „Bildungsreform-Wahn“. Schon der Text auf dem Bucheinband lässt erahnen, wohin seine Kritik zielt: „Niemand weiß mehr, was Bildung bedeutet, aber alle fordern ihre Reform. Ein regelrechter Markt hat sich etabliert, auf dem Bildungsforscher und -experten, Agenturen, Testinstitute, Lobbys und nicht zuletzt Bildungspolitiker aller Fraktionen ihr Wesen und Unwesen treiben.“5

      Kritische Thesen zur Bildungsreform

      Nachfolgend sollen einige seiner Gedanken in Form von zehn kritischen Thesen an der gegenwärtigen Bildungspolitik wiedergegeben werden:6

      1. These

      Öffentliche Schulen sind heute zu Laboratorien von Bildungsforschern und Erziehungswissenschaftlern mutiert. Sie entwerfen eine „schöne neue Schulwelt“ über die Köpfe von Lehrern und Schülern hinweg. Zusätzlich werden viele ungelöste gesellschaftliche und soziale Probleme auf die Schulen abgewälzt, was zu deren völligen Überforderung führt. (vgl. S. 23).

      „Der Gedanke, dass Schulen auch Schutzräume darstellen können, die sich bewusst auf wesentliche Fragen konzentrieren und sich gegenüber den Zumutungen einer hysterisierenden Öffentlichkeit auch abschotten können, ist uns sehr, sehr fremd geworden.“ (S. 24).

      2. These

      Der vergleichende Pisa-Test, der ja vorgibt, den Bildungsstand eines Landes „objektiv“ ermitteln zu können, wird von immer mehr Experten als zu fehlerhaft kritisiert. Dennoch halten bisher alle Länder und die Verantwortlichen in den Kultusbehörden daran fest wie an einem Evangelium. „Pisa misst also in erster Linie den Glauben von Bildungspolitikern und Bildungsjournalisten an fragwürdige Statistiken. Pisa ist längst zu einer säkularen Religion geworden, die nur mehr Rechtgläubige und Ketzer kennt.“ (S. 13).

      Die angeblichen „Bildungskatastrophen“, von denen in den Medien immer wieder reißerisch berichtet wird, werden durch Pisa erst künstlich erzeugt, um danach die Notwendigkeit von Reformen fordern zu können. Dahinter stecken aber Interessen, die mit der eigentlichen Bildung gar nichts zu tun haben: nur wettbewerbsorientierte Wirtschaftskreise; die empirische Bildungsforschung, die ja gerade durch permanente Reformen erst an Bedeutung gewinnt; die Sehnsucht von Bildungspolitikern nach Ranglisten im Bildungsvergleich, in denen sie dann nach Spitzenplätzen gieren können (vgl. S. 17).

      3. These

      Eine wesentliche Schuld an der überall empfundenen „Bildungspanik“ hat die empirische Bildungsforschung selbst. Denn an ihren angeblichen Fähigkeiten, objektive und substanzielle Aussagen über den Bildungsstand eines Landes machen zu können, wird bereitwillig und naiv geglaubt. Auf deren Testergebnisse wird dann mit hektischen Aktivitäten von Seiten der Bildungspolitik reagiert – etwa dass die Fachlehrpläne zum x-ten Male „entrümpelt“ werden. „In Summe ergibt sich das Bild eines haltlosen Aktivismus, der eine überbordende, kontrollierende, evaluierende, steuernde und anlassbezogene Bürokratie schafft, die Bildungsprozesse in der Regel eher sabotieren denn befördern.“ (S. 19).

      Der Bildungsbereich ist zu einem internationalen Kampfplatz mutiert. Dabei gibt die OECD7 den Takt an, nach dem sich dann die Bildungspolitiker der Länder bereitwillig richten: „Hier geht es um wirtschaftsnahe Ausbildung, um Schulung zur Anpassungsfähigkeit, um internationale Vergleichbarkeit, um ein effizientes Verhältnis zwischen Ausgaben und Ergebnissen, und es geht immer noch um die leidige Akademikerquote...“ (S. 19 f.)

      Bei den Pisa-Vergleichstests handelt es sich nur um ein großangelegtes Täuschungsmanöver, das für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht viel bringt, sondern höchstens die diffuse Sehnsucht befriedigen kann, in einer OECD-Statistik ein paar Plätze gut gemacht zu haben. (vgl. S. 21).

      4. These

      Bei dem heutigen pädagogischen Ansatz ist nicht mehr das Wissen als solches, sondern nur noch die Anwendungskompetenz von Wissen wichtig. Dies ist aber ein fundamentaler Irrtum: „Pisa verstärkt dabei jene verhängnisvollen Tendenzen in der Didaktik, die zwischen Fähigkeiten und Kenntnissen nicht mehr unterscheiden und am Ende eines Lernprozesses immer eine Kompetenz zur Lösung einer lebensweltlich orientierten Aufgabe sehen wollen.“ (S. 14 f.).

      Das „… zu glauben, dass diese Problemlösungskompetenzen unabhängig von Wissen erworben werden können, ist aber ebenso ein Irrtum wie die Annahme, dass auf ein Wissen, das nicht zu einer unmittelbaren Handlungsorientierung führt, immer und überall verzichtet werden könne.“ (S. 15).

      5. These

      Die Schlagworte aktueller Bildungspolitik wie etwa „Kompetenzorientierung“ oder „Wettbewerbsvorteil“ signalisieren einen gravierenden Bruch mit den Idealen klassischer Bildungskonzeptionen, die das Wissen selbst noch hochschätzten. Die Atmosphäre und der Geist an den Stätten der Bildung haben sich entscheidend verändert. (S. 28).

      Bildung wird heute nur noch unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Verwertbarkeit gesehen. Eine Hingabe an die Bildung als Wert an sich geht immer mehr verloren. „Kein Wunder, dass sich gerade im Bereich der Bildung die Entrümpler, Kürzer, Entsorger, Ballastabwerfer nur so tummeln. In der Katastrophen-, Test- und Dauerreformrhetorik zeigt sich die Praxis der Unbildung in ihrer hysterisierten Gestalt.“ (S. 28).

      Bildungseinrichtungen wie Schulen brauchen daher weniger statt immer mehr Reformen, sie benötigen „... Entschleunigung, nicht Hektik, Besonnenheit, nicht Tempo, Stabilität, nicht permanenten Wandel, Sicherheit, nicht medialen und politischen Dauerbeschuss.“ (S. 29).

      6. These

      „Kompetenzorientierung“ lautet heute das Zauberwort in der Bildungspolitik, das alles Bisherige hinfällig werden lässt. An Stelle von totem Wissen sollen nun nur noch brauchbare Fähigkeiten erworben und nichts Unnützes mehr gelernt werden. So soll der kompetent gewordene Mensch der Zukunft entstehen, der sich in jeder Situation die wichtigsten Informationen beschaffen und angemessene Entscheidungen treffen kann. „Der Nimbus internationaler Tests wie Pisa rührt auch daher, dass damit Kompetenzen angeblich genau vermessen und deshalb auch verglichen werden können.“ (vgl. S. 45 und S. 46).