Peter Maier

Heilung – Initiation ins Göttliche


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Ansicht vieler Orthopäden, dass ein einmal lädierter Knieknorpel nie mehr heilen könne.

      Durch diesen intensiven Prozess geht mein Herz immer weiter auf – für die Verstorbenen, in meinen alltäglichen Beziehungen, vor allem aber zu mir selbst. Es ist daher kein Wunder, dass ich sofort neugierig werde, als mir der Heilpraktiker eines Tages von „Amma“ erzählt. Sie ist eine indische spirituelle Lehrerin und Heilerin, die alle Jahre auf Weltreise geht und auch nach München kommt. Ihr Markenzeichen ist es, alle Besucher zu umarmen und an ihr Herz zu drücken.

      Sie initiiert große Sozialprojekte für alleinstehende Frauen in Indien, gilt weltweit, vor allem jedoch in ihrem eigenen Land, als Frauenrechtlerin und ist die vierte Preisträgerin des alljährlich von der UNO initiierten „Gandhi-King-Awards“.7 Sofort rufe ich: „Führen Sie mich zu Amma!“ Ja, ich möchte diese ungewöhnliche Frau, die von vielen Indern, aber auch von Anhängern in aller Welt wie eine Heilige verehrt wird, selbst kennenlernen. Doch ich muss mich noch einige Monate gedulden. Erst im Oktober wird sie wieder nach München kommen. Zehn Jahre lang werde ich ab 2000 die Veranstaltungen von Amma besuchen, wenn sie während ihrer Europa-Tour in München weilt.

      München, Zenithalle, ein Wochenende im Oktober 2005. Amma ist wieder da. Ihr eigentlicher Name lautet Mata Amritanandamayi. Amma ist im Grunde ein Kosename und bedeutet in der indischen Kindersprache „Mama“. Er möchte Vertrautheit und Nähe zu den Menschen ausdrücken. Amma selbst hat keine eigenen Kinder, wird aber von manchen ihrer Anhänger wie das Symbol der weiblichen Seite des Göttlichen, als „göttliche Mutter“, verehrt. Sie selbst sagt immer wieder, dass Hindus Hindus und Christen Christen bleiben sollen. Ihr gehe es allein um die Vermittlung der einen universellen göttlichen Liebe, nicht um dogmatische Wahrheiten in den Lehren der großen Religionen. Sie versteht ihre Mission ganz praktisch: Sie möchte diese göttliche Liebe fühlbar zu allen Menschen bringen, die dafür offen sind.

      Durch ihre im Hinduismus eher unüblichen Umarmungen will sie den Menschen – wie eine echte Mutter ihrem Kind – das Göttlich-Mütterliche, den mütterlichen Aspekt Gottes, vermitteln. Nach ihrer Meinung besteht das Mütterliche, das in Männern und Frauen gleichermaßen vorhanden ist, in Mitgefühl und Liebe allen Kreaturen gegenüber. Darum engagiert sich Amma in Indien auch für einen nachhaltigen Umweltschutz. Über 25 Millionen Menschen hat diese kleine Frau in den vergangenen zwanzig Jahren bei all den Treffen in Indien, in den USA und in Europa schon an ihre Brust, an ihr Herz, gedrückt. Damit will sie die Menschen die göttliche Liebe in sich selbst spüren lassen, Zugang zu ihrem Inneren herstellen und sie dazu motivieren, Liebe an andere weiterzugeben. Einige christliche Anhänger haben daher schon etwas augenzwinkernd die Frage aufgeworfen, ob Amma womöglich eine Art Wiedergeburt Christi darstellen könnte, diesmal aber in weiblicher Gestalt. Denn ihre Botschaft ist auch zutiefst im Sinne von Jesus. Deepak Chopra sagt über sie: „Amma … ist eine außergewöhnliche Frau, deren einfache Botschaft von Liebe und Mitgefühl zahllose Leben gewandelt und Licht in die Welt gebracht hat. Amma ist die Verkörperung reiner Liebe. Ihre Gegenwart heilt“.8

      Freitag Abend. Das Programm beginnt um 19.30 Uhr. Die ganze Veranstaltung ist kostenlos. Etwa fünftausend Menschen haben auf Stühlen oder auf Decken am Boden im vorderen Bereich der Halle Platz genommen. Es herrscht eine gelöste, freudige Stimmung. Amma sitzt auf dem Bühnenboden, umringt von etwa zehn Männern und Frauen – ihren Begleitern aus Indien –, einer großen Musikgruppe und von vielen Kindern. Sie fühlen sich in Ammas Nähe anscheinend sehr wohl und sind bei Amma besonders willkommen. In der südindischen Muttersprache Malayalam, die in ihrem Bundesstaat Kerala verwendet wird, versucht Amma eindringlich, ihre Botschaft zu verkünden: dass vor Gott Männer und Frauen gleichwertig seien, dass Gott alle seine Wesen liebt, dass wir Menschen ebenfalls unsere Herzen öffnen sollen für die Not der leidenden Kreatur. Es ist eine einfache und klare Botschaft. Eine ältere Dame übersetzt abschnittsweise ins Deutsche. Nach etwa einer Dreiviertelstunde beginnt das Singen: einfache mantraartige Weisen, die zuerst von den indischen Sängern und von Amma vor- und dann von allen nachgesungen werden. Eineinhalb Stunden geht das so. Nach einem kurzen abschließenden Feuerritual setzt sich Amma auf einen Sessel vor die Bühne und der sogenannte „Darshan“ beginnt – die persönliche Begegnung Ammas mit den Menschen.

      Schon vor Beginn der Veranstaltung haben alle Besucher, die zu Amma persönlich kommen wollen, eine Nummer gezogen. Diese Zahlen werden auf großen Tafeln jeweils in Hunderterschritten angezeigt, so dass man sich rechtzeitig auf die Begegnung mit der „Meisterin“ vorbereiten und einstimmen kann. Amma umarmt etwa 300 bis 400 Menschen pro Stunde, die sich ihr auf den Knien nähern und so etwa auf Augenhöhe mit der sitzenden Amma sind. In dieser Nacht kommen über 5000 Menschen zu ihr, sie sitzt von 22.00 Uhr abends bis um ca. 12.30 Uhr des nächsten Tages auf ihrem Stuhl, mehr als 14 Stunden also, während oben auf der Bühne die Musikgruppe intensiv weiter spielt und singt. Niemand wird abgewiesen. Amma erhebt sich am Mittag des nächsten Tages erst, als wirklich alle dran gekommen sind und sich die lange Schlange vor ihr endlich aufgelöst hat.

      Ich selbst habe an diesem Tag Glück gehabt. Denn an jedem Tag werden vor Beginn der Veranstaltung fünfzig Lose ausgegeben, eine Mitarbeiterin im Tross von Amma zieht dann nach dem Ende des offiziellen Programms davon fünfzehn Nummern. Diese ausgewählten Personen dürfen sich Amma seitlich nähern und ihr eine persönliche Frage stellen, während sie gleichzeitig mit ihren Umarmungen fortfährt. Etwa zehn Helfer sind beim Darshan nötig, damit alles reibungslos ablaufen kann. Sie sprechen mit den Menschen, bevor diese sich in die Reihe begeben, sie teilen Taschentücher aus, damit sich jeder vor dem körperlichen Kontakt mit Amma den Schweiß von der Stirn wischen kann. Brillen müssen abgeben werden, damit sie nicht bei der kräftigen Umarmung durch Amma zerdrückt werden. Zwei eher zackige junge Inderinnen schieben die Personen, die in der Reihe ganz vorne angekommen sind, hin zu Amma und ziehen sie dann nach etwa zehn oder zwanzig Sekunden wieder weg, damit die Nächsten zur Umarmung kommen können.

      Nach etwa einer Stunde darf ich von der Seite her zum Stuhl von Amma vorrücken und meine Arme sogar auf die Stuhllehnen stützen. Ich bin jetzt weniger als 30 Zentimeter von Amma entfernt, bin ihr somit sehr, sehr nahe. Anscheinend ist dies von Amma so gewünscht und beabsichtigt. Sie lächelt mir kurz zu, während sie mit ihren Umarmungen fortfährt. Ich bringe einer deutschen Helferin mein Anliegen vor: nämlich, dass ich Knieprobleme habe. Die jahrelangen Dauerschmerzen seien zwar weg, aber ich könne leider überhaupt keinen Sport und keine Outdoor-Aktivität mehr machen, was mir unendlich schwerfällt und mein Leben sehr einschränkt. Denn ich bin so gerne in der Natur, möchte wieder wandern und vielleicht sogar kleinere Berge besteigen können. Seit 1994, also seit mehr als zehn Jahren, ist dies jedoch gänzlich unmöglich. Eine kleine Verkantung, ein falscher Tritt und schon werden wieder Knieschmerzen ausgelöst.

      Die Frau übersetzt meinen Wunsch einem neben Amma stehenden etwa 50-jährigen Swami,9 einem Mitglied ihres Ashrams in Indien, der seit fast 20 Jahren mit ihr unterwegs auf Reisen ist. Im Gegensatz zu Amma versteht er gut Englisch. In den sehr kurzen Pausen, während eine Person weggezogen wird und eine andere auf Knien direkt vor Amma hinrutscht, teilt der Inder von der Seite her Amma mein Anliegen mit: meinen Wunsch, wieder freier gehen zu können. Ich erhoffe mir, dass Amma mir irgendwie helfen und mir womöglich sogar die Ursachen für die Knieblockaden nennen kann. Wieder sieht mich Amma an, diesmal voll Mitgefühl. Dieser Blick geht mir tief ins Herz und ich beginne zu weinen, ich kann gar nicht anders. Ich weiß aber gar nicht, warum ich weinen muss. Womöglich liegt es daran, dass ich mich instinktiv von Amma durchschaut, gesehen, angenommen und verstanden fühle.

      Seltsamerweise bekomme ich keine Antwort. Ich darf jedoch direkt neben Amma knien bleiben. Und nun sehe ich ihr Tun aus einer ganz anderen Perspektive. Denn wenn ich wie am Tag zuvor, wie hunderte anderer Menschen auch, von vorne in der Schlange zu Amma komme, bleiben höchstens 15 Sekunden Zeit. Dabei wurde ich von ihr an ihren Körper gedrückt, konnte sie deshalb gar nicht richtig sehen. Außerdem war ich zu aufgeregt. Und dann war es auch schon wieder vorbei. Jetzt aber ist Zeit, ich kann das ganze Geschehen in aller Ruhe beobachten und auf mich wirken lassen.

      Und dieses Geschehen rührt mich im Innersten an. Immer wenn ein Paar zu Amma kommt, drückt sie zuerst jeden einzelnen und sagt zu ihm „my son“ oder „my daughter“. Danach drückt sie das Paar nochmals gemeinsam von links