Christa Burkhardt

Der Weg zurück


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schon wieder verlieren. Er hatte noch eine Woche drangehängt, aber dann hatte er seine kleine Reisetasche wieder gepackt. Lisa konnte es nicht fassen. Und er konnte sie gut verstehen.

      Was zog ihn denn nach Deutschland? Er hatte nichts vor, er hatte keinerlei Verpflichtungen, die Wohnung in Boston war riesig, sie verstanden sich ausgesprochen gut, Brian hatte ihm einen hervorragenden Physiotherapeuten besorgt und er hatte weitere Fortschritte gemacht. Warum konnte er nicht bleiben? Wohin wollte er?

      „Ich gehöre hier nicht her, Lisa“, hatte er gesagt, „das hier ist dein Leben, nicht meins.“ Ja, sie hatte geweint am Flughafen, aber sie hatte ihn nicht gefragt, was denn dann sein Leben war. Zum Glück nicht, denn er wusste keine Antwort. Sein Leben, das Leben, das er gewohnt gewesen war, hatte ein nächtlicher Verkehrsunfall beendet, bei dem etwas in seinem Rücken zerborsten war. Er konnte das Geräusch noch immer hören. Aber in diesem Leben war er nicht glücklich gewesen, auch wenn ihm das damals gar nicht so bewusst gewesen war. Glück hatte in seinem Leben selten eine Rolle gespielt.

      In dem Leben als Patient und irreversibel Versehrter, das dem Unfall folgte, natürlich erst recht nicht. In seinem Leben mit Linda hatte es immerhin glückliche Momente gegeben. Und in den Wochen in Boston selbstverständlich auch. Aber beide Leben waren nicht seine. Als er im Mai Linda verlassen hatte, konnte er sich noch einreden, er befreie sie von einer Last, denn ihre ungewöhnliche, innige Zweckgemeinschaft war aus der Not geboren worden und alles andere als eine Dauerlösung.

      Linda hatte ihre Wohnküche zurück und die Sorge um ihn los. Das war gut und richtig. Trotzdem dachte er ständig an sie. Was würde sie jetzt sagen? Was würde sie mir raten? Unwillkürlich spürte er ihre Hand auf seiner und sah sie lächeln. Er verdankte ihr alles. Dass er dieses Pflegeheim verlassen konnte, dass er an Krücken laufen konnte, dass er den Mut gefunden hatte seine Tochter anzurufen, dass er dieses neue Leben hatte. Auch wenn er nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Linda hatte ihm ein Leben geschenkt.

      Und seine Tochter Lisa? Sie konnte sich nach seiner Abreise wieder auf ihre Familie, ihre beiden großartigen Söhne, ihren Mann Brian, der sie auf Händen trug und, sobald Josh alt genug war, auf ihre Arbeit in der Notaufnahme konzentrieren, die sie über alles liebte. Auch sie brauchte ihren Vater sicher nicht rund um die Uhr in ihrem Leben, jede Nacht im Schlafzimmer nebenan.

      Nein, nein, Leute, täuscht euch nicht, dachte er und schaute sich die Passanten in seiner Nähe an. Spaziergänger, Jogger, Mütter mit Kinderwagen, eng umschlungene Pärchen, Kurgäste. Nein, Leute, Dr. Felix Breitenbach sieht zwar fast so aus wie ihr und alle anderen auch, aber er ist es nicht. Und das liegt nicht an den beiden Krücken oder dem Rollstuhl, den er immer noch manchmal benötigt. Das liegt daran, dass er eine Hypothek trägt, die so schwer wiegt, dass er innerlich nach wie vor so gelähmt ist wie er es noch vor einem Jahr im Pflegeheim auch körperlich war.

      Er war es Linda, er war es Lisa schuldig, nach der äußerlich sichtbaren nun auch diese innere Lähmung zu lösen. Es wenigstens zu versuchen. Langsam, Stück für Stück. Er hatte nur keine Idee, wie er diese Aufgabe anpacken sollte. Er hatte in Boston ein Flugzeug bestiegen, von dem er wusste, dass es ihn nach Frankfurt brachte. Aber Frankfurt war nicht sein Ziel. Als die Maschine gelandet war, wusste er immer noch nicht, wo er hin wollte.

      Am Bahnhof hatte er kurz auf die Uhr, dann auf den Fahrplan geschaut. Der nächste Zug fuhr nach Wiesbaden. Er war eingestiegen. Lisa schrieb er, dass er gut gelandet war. Angekommen schrieb er nicht. Linda schrieb er gar nicht. Was auch immer die nächste Zeit bringen würde, er wollte, er musste es allein bewältigen.

      Wir sind Seiltänzer, klang Linda in seinen Ohren. Ja, genau, das waren sie gewesen, ungeübte Artisten. Aber diese neue Nummer war ein Solo ohne Netz und doppelten Boden, und Linda hatte darin nichts zu suchen. Wollte er ihr jemals auf Augenhöhe begegnen, musste er das, was jetzt zu tun war, allein schaffen.

      Der Taxifahrer brachte ihn zu einer netten Pension, behindertengerecht, denn er brauchte immer wieder seinen Rollstuhl, würde ihn immer brauchen. Wann war das gewesen? Vor vier Tagen? Vor einer Woche? Er wusste es nicht. Die Enten flogen laut schnatternd auf. Irgendetwas hatte sie wohl erschreckt. Was tat er in Wiesbaden? Hier kannte er keinen Menschen. Die Zeit musste helfen. Was ist das, dein Leben, Felix Breitenbach?, fragte er sich. Er wusste keine Antwort.

      2 Wie ein Blizzard

      „Ich glaube, das muss irgendwie mehr nach da drüben“, sagte Marie zweifelnd, „so geht das nicht.“ Severin seufzte. Warum hatte er sich dazu breitschlagen lassen? Die Möbel umstellen, was sollte das? Er mochte seine kleine Wohnung so wie sie war. Warum konnte er Marie keinen Wunsch abschlagen? Erst vor wenigen Wochen war sie in sein Leben getreten. Getreten? Nein, sie war über ihn gekommen wie ein Blizzard, völlig überraschend, und seitdem war kein Stein mehr auf dem anderen.

      Ausgerechnet ihn hatte es erwischt. Dabei war er noch nie auf der Suche nach einer Freundin gewesen. Entweder treffe ich die richtige, oder ich will gar keine, hatte er immer gesagt. – Vor dem Blizzard.

      Mit zerzausten Haaren, Klamotten von gestern, den Nerven am Ende, ein zerknülltes Flugticket in der Hand und ansonsten ohne Papiere, so stand sie vor ihm. Die Handtasche? Geklaut. Ausweis, Führerschein? Na, das sagte ich doch gerade! Das war ihr erstes Gespräch gewesen.

      Er arbeitete im Einwohnermeldeamt und sie brauchte ganz furchtbar dringend neue Papiere. Das Auto ihres Freundes war aufgebrochen worden, ja, alles weg. Alles! Aber morgen wollten sie nach Indonesien. Backpacker-Tour. Länger halte sie es in Deutschland nicht mehr aus. Drei Monate war sie jetzt schon zu Hause gewesen. So lange wie seit Jahren nicht mehr. Und jetzt das mit dem Diebstahl. Er könne ihr doch bestimmt helfen, oder?

      Natürlich hatte er alles in die Wege geleitet. Das war sein Job. Marie Lichtlein, 24, ein Jahr älter als er. Müsste er sie nicht eigentlich aus der Schule kennen? Die Stadt war klein. Als sie die Dokumente abgeholt hatte, war er nicht da gewesen. Aber seine Kollegen schwärmten noch stundenlang von dieser Wahnsinnsfrau und beneideten unbekannterweise ihren Reisebegleiter offen und lautstark.

      Wann war das gewesen? Kurz vor Weihnachten, glaubte er sich zu erinnern. Er hatte an diesem Tag früher Schluss machen und mit seiner Mutter und ihrem ungewöhnlichen Gast Plätzchen backen wollen. Und dann hatte er statt Zimtsternen Marie Lichtlein im Kopf gehabt. Backpacker-Tour. Indonesien. Offensichtlich machte sie so etwas nicht zum ersten Mal. Ihr gefiel es nicht in Deutschland.

      Wenn er ehrlich war, hatte er noch nie darüber nachgedacht, ob es ihm in Deutschland gefiel. Er lebte hier, er arbeitete hier, er hatte hier Familie und Freunde. Warum sollte er nach Gründen suchen, aus denen es ihm hier nicht gefiel? Warum sollte er sich in irgendein fernes Land sehnen?

      Okay, Urlaub in Thailand, Brasilien, Indien, das hatte er zusammen mit seinen Freunden schon gemacht. Es war jedes Mal toll gewesen. Im nächsten Sommer wollten sie auf Korsika wandern. Er freute sich schon sehr darauf. Ferne Länder waren etwas für den Urlaub und nichts, um sich dort wochen- oder monatelang nur mit einem Rucksack durchzuschlagen. Nein, danke.

      Er hatte eine Weile über Marie Lichtlein und ihren Lebensstil nachgedacht, hatte mit seinen Freunden über verschiedene Lebensmodelle philosophiert, und dann hatte er sie vergessen. – Bis sie plötzlich vor ihm stand. Wieder war es im Amt gewesen. In der Hand hielt sie einen stattlichen Korb, eingewickelt in ein bunt gebatiktes Tuch. Da bin ich wieder, hatte sie gesagt, als hätten sie sich erst gestern verabschiedet.

      Dabei war April, und verabschiedet hatten sie sich gar nicht. Er war garantiert nicht der Typ, der sich leicht aus der Fassung bringen ließ. Aber außer einem lang gezogenen Äh war ihm nichts eingefallen. Sie wollte sich bedanken, sagte sie. Ohne ihn hätte sie ihre Reise mindestens verschieben, wenn nicht absagen müssen. Indonesien, ein Traum. Du glaubst es nicht, sagte sie.

      Und jetzt solle er ihr endlich diesen doofen Korb abnehmen. Blöde Frage! Natürlich sei der für ihn. Kleines Mitbringsel und herzlichen Dank. „Das, das darf ich nicht annehmen“, hatte er gestottert. „Du sollst es auch nicht annehmen, du sollst es zu dir nehmen“, hatte sie seinen Beamteneinwand weggefegt.

      „Das sind Gewürze und Tees, und ich