Christa Burkhardt

Der Weg zurück


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Das Vieh, die Feldarbeit, die Reparaturen, die Hausarbeit. Dafür war auf dem Hof immer jemand zu Hause, wenn er mal früher Schulschluss hatte oder krank war. Wie viele Kinder wuchsen heute noch so auf?

      Bei den Schularbeiten konnte ihm freilich keiner helfen. Er wurstelte sich irgendwie aufs Gymnasium. Sein Vater war einverstanden gewesen, obwohl er wusste, dass sein Sohn damit als Erbe für den Hof ausfallen würde. „Solang das noch so lang gut geht wie ich bin, ist das lang genug“, hatte sein Vater gesagt und sein ganzes Leben lang gewusst, dass sein Hof mit ihm sterben würde.

      Vielleicht hätte er ihn auf der Dorfschule gelassen, wenn er eine bessere Hilfe gewesen wäre. Aber er hatte zwei linke Hände und war weder für die Feld- noch für die Hausarbeit zu gebrauchen. Nicht einmal ein Gespür für das Vieh hatte er. Er schaffte es kaum, die Eier einzusammeln, ohne eins mindestens anzuschlagen.

      Also durfte er in der Stadt in die Schule gehen. Hatte er wirklich Abitur gemacht, damit er auf dem Hof nicht im Weg herumstand? Die Antwort lautete ja. Wer zu blöd zum Ausmisten ist, muss halt studieren, Pech gehabt! Vielleicht wollte er auch nur deshalb Lehrer werden, weil Bauer und Lehrer die einzigen beiden Berufe waren, die er kannte. Ach, Mama, hast du dich wenigstens im Kindbett ausgeruht?

      Warum habe ich so wenig von dir? Warum habe ich nicht deine Bescheidenheit, deine Ergebenheit in ein Leben voller Pflichten? „Die Arbeit ist da, ich bin da, wir können halt nicht ohne einander, wir zwei“, hatte sie gesagt, wenn sie wieder einmal statt einer kurzen Pause die nächste Aufgabe in Angriff genommen hatte. Auch der Krebs hatte daran nichts geändert.

      Sie nahm ihn an wie ein kühles Lüftchen in Mai, einen schlecht tragenden Birnbaum im August oder einen zu früh nadelnden Weihnachtsbaum. „Ist halt so“, hatte sie gesagt, als er nach ihrer abendlichen Dusche zum ersten Mal die Narbe an der Stelle sah, wo ihre Brust hätte sein sollen. Warum habe ich dich nie gefragt, wie es dir geht?

      Warum habe ich mich wie ein Besessener in ein Studium gestürzt, das dir nicht helfen konnte, statt an deiner Seite zu sein? Du hast meine Frau nie kennengelernt, deine Enkel auch nicht. Du weißt so wenig von mir wie ich von dir wusste. Mit einem Unterschied: Du hattest keine Gelegenheit, es anders kommen zu lassen, ich schon. Auch damit muss ich leben. Hörte das nie auf? Egal woran er in seinem Leben dachte, immer war der Gedanke mit einem Fehler oder einem Versäumnis verbunden.

      Wie viel durfte ein Mensch falsch machen? Musste bei ihm nicht allmählich der Gong ertönen, dass sein Kontingent erschöpft war? Er wandte den Blick ein kleines Stück nach rechts. Alfons Breitenbach stand da auf dem Stein. Sein Vater. Drei Jahre hatte er nach dem Tod seiner Frau noch gelebt. Gerade so lange, dass er die wichtigsten Angelegenheiten, die den Hof betrafen, noch regeln konnte.

      „Soll ja nicht alles die Beate allein machen müssen“, hatte er zu ihm gesagt. Und ihm, dem Sohn, dem inzwischen promovierten Mediziner, war entgangen, was er eigentlich gemeint hatte: „Du kümmerst dich ja sowieso nicht darum, obwohl es deine Aufgabe wäre.“ Ob seine Schwester Beate noch auf dem Hof lebte? Er gehörte auf jeden Fall ihr.

      Seine Schwester und er, die Praktische und der Ungeschickte, sie hatten einander nie besonders viel zu sagen gehabt. Sie reparierte Landmaschinen in einer nahe gelegenen Werkstatt. – Noch ein Mensch mehr auf der Liste derer, bei denen er sich melden musste. Aber ihr Name stand nicht ganz oben.

      Mama, Papa, es tut mir leid. Ich habe es vermasselt. Ihr wart auf eure spröde, wortkarge Art für mich da, als ich klein war. Ihr habt mich machen lassen, auch wenn ihr es besser wusstet. Ihr habt euren Frieden gemacht mit einem Sohn, den ihr euch ganz anders gewünscht hattet. Ich wünschte, ich könnte das auch, endlich meinen Frieden mit mir machen. Noch lange saß er weinend am Grab seiner Eltern.

      7 Die Anzeige

      Er leistete sich ein Hotel. Das konnte er sich hier in einer Kleinstadt erlauben. Der Blick aus seinem Fenster zeigte den öden Pausenhof seiner ehemaligen Schule. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich bei seiner Schwester zu melden und möglicherweise bei ihr auf dem Hof zu übernachten, aber dann hatte er ihn verworfen. Das hätte ihn überfordert. Und sie vielleicht auch. Er musste mit seinen Kräften haushalten, die nicht besonders groß waren.

      Der Besuch auf dem Friedhof war fürs Erste genug Zeitreise in seine Kindheit gewesen. Natürlich wollte er sich bei seiner Schwester melden. Enes Tages. Aber jetzt noch nicht. Alles hatte seine Zeit. Jetzt musste er erst einmal den Friedhof verdauen. Das und seine Schulzeit inklusive möglicher Lehrerkarriere vor Augen war mehr als genug für ihn.

      Sein Handy klingelte. Es war Gregor, aber er ging nicht ran. Zum Glück versuchte er es nur einmal. Wenig später schickte er eine Nachricht. Ist das was für dich? schrieb er und ließ sogleich einen link folgen. Irgendwas mit schönem Wangerooge. Was sollte das denn? War Gregor unter die Reiseberater gegangen? Was sollte er mit einem Urlaubsangebot von einer Nordseeinsel? Eine Sinnkrise seines Lebens, das er verzweifelt in den Griff zu bekommen versuchte, jagte die nächste, und sein Freund empfahl ihm einen Badeurlaub? Wer solche Freunde hat, … dachte er.

      Aber dann klickte er doch darauf. Und sei es nur, um sich so richtig über Gregor ärgern zu können. Es handelte sich gar nicht um ein Urlaubsangebot, es handelte sich um eine Stellenanzeige, lediglich versehen mit einem Logo der Urlaubsinsel Wangerooge, stellte er verblüfft fest. Sehr lustig! Was dachte sich Gregor dabei?

      Wenn er sich schon nicht meldet, kann er wenigstens etwas arbeiten, der Krüppel? Er war froh, wenn er seine Hose selbstständig anziehen konnte, auch wenn es eine Ewigkeit dauerte, wie sollte er da arbeiten? Und was überhaupt? Er las weiter und wurde blass. Suche Vertretung für kleine Allgemeinarztpraxis auf Wangerooge für die Wintermonate, max. 50-Prozent-Stelle. Info unter

      Eine Telefonnummer folgte. Also das hatte Gregor vor. Er wollte, dass er wieder als Arzt praktizierte. Na, toll. Was war in Gregor gefahren? Nach einem Gang über die Straße war er vor Anstrengung schweißgebadet. Jede Treppenstufe stellte ihn vor eine Herausforderung. Jede Nacht plagten ihn Albträume. Seine Feinmotorik war gerade mal so weit, dass er einigermaßen anständig mit Messer und Gabel essen konnte, aber jede Unterschrift stellte ihn vor Probleme.

      Er versuchte, die Zeit im Pflegeheim zu verarbeiten, seinen unzuverlässigen Körper auszutricksen und wenigstens einige der Scherben wegzuräumen, die er in seinem Leben verursacht hatte. Die Liste mit den Menschen, die er verletzt hatte und bei denen er sich unbedingt entschuldigen und mit denen er möglicherweise wieder eine Beziehung aufnehmen wollte, war ellenlang.

      Verzweifelt suchte er einen Weg zurück in sein Leben, obwohl er gar nicht wusste, was das überhaupt war, und sein einziger Freund schickte ihn arbeiten. Wollte ihn auf Patienten loslassen. Dabei war er genau genommen immer noch selbst einer.

      In dieser Nacht schlief er noch schlechter als sonst. Das Grab seiner Mutter, sein Gymnasium, sein Besuch bei Lisa, seine nächsten Schritte, all das wälzte sich wie Lava durch seinen Kopf. Heiß und unkontrollierbar. Wo soll es hingehen, Felix Breitenbach? Wer bist du? Wer willst du sein?

      Auch über die Stelle auf der Insel dachte er nach. Er konnte gar nicht arbeiten, er war noch lange nicht so weit. Vielleicht würde er es nie wieder sein. So viele andere Fragen waren dringender. Außerdem lenkte ihn diese Überlegung wieder einmal von dem ab, was er endlich tun musste: sich selbst in die Augen sehen.

      Leider hatte er keine Ahnung, wie er das anfangen sollte. Bei Katja, seiner Ex-Frau? Bei Philipp, seinem Sohn? Bei seiner Schwester Beate? Bei Linda, der er sein zweites Leben verdankte? Bei Gregor, seinem Freund und Kollegen?

      Hatte er sich nicht hier einquartiert, in Sichtweite seiner alten Schule, an der er in einem anderen Leben vielleicht als Lehrer gearbeitet hätte, damit er sich über seine Berufswahl klar werden konnte? Irgendwo musste er ja anfangen mit seiner Suche. Lehrer war sein Wunschberuf gewesen. Arzt war er geworden, weil seine Mutter Krebs bekam. Ihr Schicksal hatte seinen Beruf gewählt, nicht er.

      Und dann bekam er eine Gänsehaut, denn siedend heiß fiel ihm ein: Als Arzt war er unterwegs gewesen in der Nacht des Unfalls, auf dem Rückweg von einem Hausbesuch. Ein Knall, ein Knacken im Rücken beendeten abrupt das Leben, das er bis