Christa Burkhardt

Der Weg zurück


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Irgendwas mit Arbeit, sagen sie“, antwortete sie achselzuckend. „Ich dachte, deine Mama arbeitet in der Praxis mit?“ „Ja, aber nur am Dienstag und am Mittwoch. Wenn sie wegfährt, arbeitet sie irgendetwas anderes.“

      Lisa hatte sich nie getraut, ihre Mutter zu fragen. Weder wo sie hinfuhr noch was sie dort tat. Es war einfach so. Punkt. Es schien sie nichts anzugehen und weder ihre Mutter noch ihr Vater hielten es für nötig, ihr reinen Wein einzuschenken. Wenn sie weg war, passte Tante Jojo auf sie auf. Zumindest als Philipp und sie klein waren. Als sie herausfand, dass Tante Jojo gar nicht ihre richtige Tante war, sondern ein Kindermädchen, das Papa dafür bezahlte, dass sie nett zu ihnen war, hatte sie furchtbar geweint. Denn sie fühlte sich betrogen. Warum sagten einem Erwachsene nie die Wahrheit?

      Dann hatte eines Nachts ihr Handy geklingelt. Ihr Vater sei aufgewacht, sagte eine Pflegerin mit müder Stimme, aber sie solle sich keine allzu großen Hoffnungen machen. War das ihr Ernst? Er war wach geworden, aber sie sollte nicht hoffen? Der wichtigste Schritt war doch geschafft! Er war wach! Nun würde alles wieder gut werden. Sie sollte sich irren. Ja, er war wach, aber das war kein Fortschritt. Im Grunde ist es jetzt noch viel schlimmer als vorher, wurde ihr bewusst, und sie schämte sich für diesen Gedanken.

      Als er noch im Koma lag, hatte sie sich vorstellen können, wie es wäre, wenn er wieder zu sich käme. „Na, meine Große, habe ich lange geschlafen?“, würde er sie fragen, seine Bettdecke ein wenig anheben und sie bitten sich an ihn zu kuscheln. „Ich muss erst in einer halben Stunde los, und ich habe kalte Füße, rette mich, Lisa!“ Genau so würde es sein, wenn er aufgewacht war. So oft hatte sie es sich ausgemalt. Genauso wie vorher würde es sein. Wie auch sonst? Aber nichts war so wie vorher. Und das würde es nie wieder sein.

      Er konnte nicht allein atmen, er konnte nichts spüren, er konnte sich nicht bewegen. Deshalb sagte er weder ‚Hallo, mein Schatz‘ zu ihr noch strich er ihr übers Haar. Ja, als er noch im Koma lag, konnte sie seinen Anblick ertragen, auch wenn er schrecklich war. So klein und vor allem so fremd lag er da. Aber sie konnte es ertragen.

      Das war doch verständlich gewesen. Schließlich war er Komapatient, und da lag man nun einmal so da. Mit all den Schläuchen und piepsenden Geräten. Aber jetzt war er doch gar kein Komapatient mehr. Jetzt war er aufgewacht. Jetzt war er wieder ihr Vater. Ihr Idol. Ihr Held. Der Mensch, der immer zu ihr hielt.

      Wie hatte sie nur so naiv sein können? Die Ärzte machten Tests und Untersuchungen, brachten ihn dazu wieder selbst zu atmen, aber auch als dieser eine Schlauch aus seinem Rachen entfernt worden war, blieben genügend andere, die das Lebewesen fest im Griff behielten, das einst ihr Vater gewesen war.

      „Du kannst nichts für ihn tun, Lisa“, hatte ihre Mutter gesagt, „flieg‘ nach Hause, deine Familie braucht dich.“ Und so nahm sie von all den Wochen am Bett ihres schwer verletzten Vaters ein einziges Wort mit nach Boston: irreversibel. Nie wieder würde er aufstehen.

      4 Am Teich

      Wieder einmal herrschte strahlender Sonnenschein. Es hatte noch keinen Tag geregnet, seit er wieder in Deutschland war. Er seufzte. Wie konnte das sein? Das Wetter versprach so viel und er konnte so wenig halten.

      Er hatte seine übliche Runde gedreht, saß nun auf seiner Bank und beobachtete die Enten. Heute hatte sich auch ein Schwanenpaar dazu gesellt und schaute immer wieder zu ihm herüber. Was denken eigentlich Enten und Schwäne, während wir denken, dass wir sie beobachten?

      Lenken sie sich mit ihren Ausflügen auf dem Teich auch von ihrem Leben ab? Davon, dass sie nicht wissen, was zu tun ist, wer und wie sie sein sollen? Und was denken sie über Spaziergänger wie mich? Menschen? Solange sie hier sitzen und ich ein Auge auf sie werfen kann, stellen sie schon keinen Blödsinn an - ist es das, was sie denken? Im nächsten Leben werde ich Katze, hatte er oft gedacht, wenn Lindas Kater Rhodos auf seinem Schoß geschnurrt hatte.

      He, Schwan, ja, du, mit dem feuchten Flügel, denkst du so etwas auch manchmal? Wärst du im nächsten Leben auch gern Katze? Oder vielleicht Ente? Oder am Ende sogar Mensch? Jetzt sag ich dir mal was, Junge: Das mit dem Menschwerden lässt du lieber sein. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Menschsein lohnt sich nicht.

      Menschen machen die einfachsten Dinge kompliziert. Ständig denken sie darüber nach, ob sie genügen und darüber, was als Nächstes zu tun ist, anstatt einfach nur zu sein. Mit welchem Recht denke ich in einem Augenblick schon an den nächsten? Sollte ich nicht lieber versuchen, den Augenblick jetzt zum besten meines Lebens zu machen?

      He, Schwan, kannst du mir noch folgen? Du magst dich wundern, aber genau so etwas beschäftigt Menschen, während sie an deinem Teich sitzen und denken, dass sie dir zuschauen. Okay, das, was ich erlebt habe, war oft nicht lustig. Mal ehrlich, wer kann das nicht von sich behaupten? Aber was es mit mir gemacht hat, hätte ich besser beeinflussen sollen, anstatt es einfach zuzulassen. Warum denke ich bei allem, was geschieht, dass etwas anderes besser gewesen wäre?

      Routinen baumeln wie Halteschlaufen von der tief hängenden Decke meiner Tage, und ich ergreife dankbar eine nach der anderen. Was würde passieren, wenn ich losließe? Ich werde es nie erfahren, denn meine Angst ist zu groß. Ich war schon immer feige.

      Tja, Schwan, schwimm‘ ruhig weiter, ich verstehe gut, wenn du nichts mit mir zu tun haben willst. Ich bin ein Mensch und nicht wie du dafür gemacht, mich mühelos auf dem Wasser zu halten. Ich muss rudern wie ein Verrückter, um nicht unterzugehen und dabei in Kauf nehmen, dass ich irgendeine Richtung einschlage, ob ich will oder nicht.

      Er stand mühsam auf. Schwan, es ist Zeit für mich. Ab morgen musst du auf andere Menschen aufpassen. Ich habe genug von mir hier auf dieser Bank an deinem Teich. Weil ich das schlecht ertragen kann, ziehe ich weiter. Wohin? Einfach auf die nächste Bank am nächsten Teich, auch wenn ich gerade noch keinen Schimmer habe, wo die stehen wird. Ich laufe vor mir davon, obwohl ich genau weiß, dass ich mich überallhin mitnehmen muss.

      Sein Handy vibrierte. Vielleicht eine Nachricht von Lisa? Seit er geschrieben hatte, dass er gut gelandet war, hatte er sich nicht mehr gemeldet. Er seufzte. Noch etwas, das er nicht erledigte. Dabei war seine Liste ohnehin schon so lang. Er schaute auf das Display. Es war nicht Lisa. Die Nachricht stammte von Gregor. Bist du noch in Boston? las er. Nein antwortete er. Das musste genügen.

      Gregor. Dr. Gregor Wels. Über ein Vierteljahrhundert waren sie Kompagnons in ihrer Gemeinschaftspraxis gewesen. Und nach dem Unfall war Gregor der einzige, der ihn regelmäßig besuchte, Anträge und Formulare für ihn ausfüllte, Bankgeschäfte erledigte, mit seinen Ärzten, Pflegern und Physiotherapeuten sprach, die bürokratische Seite seiner Diagnose abwickelte. Ihn hatte er eingesetzt, im Fall der Fälle zu entscheiden, nicht Katja, seine Frau.

      Er war Gregor dankbar, dass er nicht sofort drängelte und sich die Frage, die er sicherlich stellen wollte – Wo bist du? – verkniff. Dass er ihn niemals fragen würde, wie es ihm geht, hatte er Gregor noch vor seiner Verlegung ins Pflegeheim versprechen lassen. Und Gregor hatte sein Versprechen nicht gebrochen.

      Er musste schmunzeln. 26 Jahre lang hatten sie einander täglich gesehen. Mit Gregor in der Praxis hatte er mehr Zeit verbracht als mit sonst einem Menschen in seinem Leben. Dabei war das einzige, was sie gemeinsam hatten, dass Gregor für schnelle Autos schwärmte und er blaue Autos am liebsten mochte.

      Fachliche Diskussionen ließen sie tunlichst bleiben, denn sie waren so gut wie nie einer Meinung. Für die Praxis war das gut. Denn sie zogen vollkommen verschiedene Patienten an. Das Wartezimmer war immer voll, und als Katja angeboten hatte, ein paar Tage pro Woche mit der immer aufwendiger werdenden Verwaltung zu helfen, hatten sie ihr Angebot dankend angenommen.

      Wenn es ein Wort gab, das ihre Beziehung am treffendsten beschrieb, fiel ihm Symbiose ein. Das Zusammenleben von Lebewesen verschiedener Art zum gegenseitigen Nutzen. Genau das war die Gemeinschaftspraxis Dr. Wels, Dr. Breitenbach. Leider rufen Sie außerhalb unserer Sprechzeiten an. Piep. Seit dem Unfall gab es keine gemeinsamen Sprechzeiten mehr.

      Sorry, Gregor, ich weiß, ich bin dir dutzende von Erklärungen schuldig, aber du musst noch warten. Mir ist ein Platz eingefallen, den ich aufsuchen muss,