Eva Markert

Potpourri des Bösen


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hatte nie Verständnis für diese Vorliebe gehabt, genauso wenig wie Vater. Die beiden waren sowieso immer ein Herz und eine Seele gewesen. Frank begriff auch nicht, wie jemand sein ganzes Erbe bei Pferdewetten verlieren konnte. Er selbst hatte im Laufe der Jahre seinen Anteil an dem beträchtlichen Vermögen, das Vater ihnen hinterlassen hatte, vervielfacht.

      Was für ein Glück, dass Frank keine Erben hatte - außer ihm.

      Als er in der Villa im Grünen ankam, ruhte sein Bruder im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sein Handy hatte er neben sich auf den Tisch gelegt.

      Gerrit setzte sich zu ihm. Auf dem Tisch stand eine halbvolle Karaffe mit Eistee, und in einem geeigneten Augenblick ließ Gerrit mehrere starke Schlaftabletten hineinfallen. Sie zerfielen sofort. Glücklicherweise war sein Bruder durstig. Zufrieden sah Gerrit zu, wie er sein Glas füllte und in einem Zug leerte. Kurz darauf schlief er ein, ohne etwas gemerkt zu haben. Nun, er würde lange schlafen, sehr lange ...

      Schnell lief Gerrit in den Garten, aber nicht, ohne vorher die Krücken ins Nebenzimmer zu bringen und das Handy neben Franks Bett zu legen.

      Im hinteren Teil des Gartens packte er die Gläser aus, goss ein wenig Limonade hinein und wartete. Schon bald war eine große Wespe in das erste Glas hineingeflogen. Sie schwebte über der klebrigen Flüssigkeit und summte laut und böse. Ein wahres Prachtexemplar! Ruhig deckte Gerrit das Glas mit einem Bierdeckel ab und wartete weiter.

      Alles wäre perfekt, hätte er nur nicht diesen lästigen Schnupfen. Seine Nase war inzwischen völlig verstopft, und in seinem Schädel hämmerte der Schmerz.

      Als er fünf Wespen gefangen hatte, nahm er die Gläser und trug sie vorsichtig auf einem kleinen Tablett zurück ins Haus. Er grinste, als er an den letzten, den alles entscheidenden Glücksfall dachte. Frank war nämlich allergisch gegen Wespengift. Sein letzter Wespenstich war ihm gar nicht gut bekommen. Der Arzt hatte ihn damals gewarnt. Bei einem weiteren Stich würde er in Lebensgefahr geraten. Einen anaphylaktischen Schock nannte man das. Ohne ärztliche Hilfe oder seine Notfallausrüstung war Frank verloren.

      Als Gerrit ins Wohnzimmer zurückkam, schlief sein Bruder einen todesähnlichen Schlaf. Sein Unterkiefer hing herunter und Speichel rann aus einem Mundwinkel auf das Kissen. Sein Schnarchen klang wie ein Röcheln.

      Die dem Sofa am nächsten gelegene Tür schloss Gerrit vorsichtshalber von außen ab. Es wäre doch zu schade, wenn Frank im letzten Augenblick entwischen würde! Dann stellte er die Gläser auf den Tisch neben dem Sofa und nahm die Bierdeckel ab. Den Zucker, den er mitgebracht hatte, verteilte er auf dem Kissen.

      Bald summten alle fünf Wespen um Franks Kopf herum. Mit einer Zeitung versuchte er, sie wütend zu machen und am Wegfliegen zu hindern. Frank schlief weiter. Nur einmal stöhnte er auf und bewegte sich unruhig.

      Verdammt! Gerrit räusperte sich ausgiebig. Seine Erkältung wurde immer schlimmer. Wenn doch wenigstens die Nase frei wäre! Sein Hals fühlte sich schon ganz wund und trocken an, weil er immer durch den geöffneten Mund atmen musste.

      Aber – was war das? Um Franks Kopf herum flogen plötzlich nur noch vier Wespen. Gerrit schluckte und wusste im gleichen Augenblick, dass es ein Fehler war. Er würgte gegen einen Widerstand an und fühlte den stechenden Schmerz im Hals. Heiser schrie er auf.

      Seine Gedanken rasten. Er brauchte Hilfe. Sofort! Aber vorher musste er die Wespen einfangen, nein, lieber nur die Gläser und Bierdeckel verschwinden lassen. Und den Zucker vom Kissen bürsten. Er keuchte, rang nach Luft. Wie lange würde es dauern, bis sein Hals ganz zugeschwollen war?

      „Frank! Hilf mir!“, krächzte er.

      Frank fuhr hoch und erfasste sofort die tödliche Gefahr, in der er und sein Bruder sich befanden. Seine Schlaftrunkenheit war mit einem Schlag wie weggewischt. Er wollte nach dem Handy greifen, doch auf dem Tisch standen nur die Gläser. Er sah sich nach seinen Krücken um und fand sie nicht. Schließlich kroch er auf allen vieren zur Tür. Aber die war abgeschlossen.

      Eine Wespe summte laut an seinem Ohr vorbei. Mit einem Griff riss er die Wolldecke vom Sofa, kauerte sich zusammen und hängte die Decke über seinen Kopf, sodass er ganz darunter verschwand.

      Gerrit taumelte zur zweiten Tür Seine Beine trugen ihn kaum, als er ins Schlafzimmer wankte, um mit Franks Handy Hilfe zu holen. Ihm war alles gleichgültig. Er wollte nur noch eins: leben.

      B – A – C – H

      Wie auf ein geheimes Zeichen hin wurde es still in der vollbesetzten Kirche, so als ob die Menschen die Luft anhielten, bevor die Orgel die ersten Töne spielte. Vier klagende Noten hallten durch das Kirchenschiff: B – A – C – H. Die Bachtage waren eröffnet.

      Der Organist, ein hochrangiger Musiker aus Paris, variierte das Thema kunstvoll. Immer wieder wurden die perlenden Tonfolgen, die rauschenden Akkorde von der Sequenz unterbrochen: B – A – C – H.

      Guido warf einen Blick auf Anna-Lena. Sie saß neben ihm und lauschte verzückt. Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt. Anna-Lena und ihre Leidenschaft für Musik, vor allem für Johann Sebastian Bach. Ihr Flügel, Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ – das war Anna-Lenas Lebensinhalt. Unermüdlich übte sie Präludien und Fugen. Und wenn sie nicht selbst Klavier spielte, schallten Bachkantaten oder die Brandenburgischen Konzerte durchs ganze Haus, und sie summte mit. Verstehen konnte er das nicht. Im Gegenteil: Es ging ihm ganz gehörig auf die Nerven.

      B – A – C – H. Die Improvisationen des Organisten erreichten einen schlichten Abschluss. Die Zuhörer erwachten wie aus einer Trance. Nur Anna-Lena nicht. Sie saß starr und mit geschlossenen Augen da.

      „Anna-Lena“, flüsterte er.

      Seine Freundin reagierte nicht.

      Er fasste sie an der Schulter. Ihm war, als würde er ein Stück Holz berühren.

      „Anna-Lena!“ Er schüttelte sie leicht.

      Die Umsitzenden wurden aufmerksam, schauten zu ihnen herüber.

      Er gab ihr einen leichten Klaps auf die Wange. „Wach auf!“

      Sie schien von alldem nichts zu bemerken.

      „Sie müssen Hilfe holen“, flüsterte jemand. Guido schaltete sein Handy ein.

      Willenlos ließ Anna-Lena sich von den Sanitätern hinausführen. Kurz bevor das Kirchenportal hinter ihnen zuschlug, setzte die Orgel wieder ein.

      Im Krankenwagen bettete man Anna-Lena auf eine Trage. Guido betrachtete ihr Gesicht. Es sah friedlich aus, völlig entspannt.

      „Ich werde Martin verständigen“, beschloss er. „Schließlich ist sie seine Schwester. Soll er sich um die Sache kümmern. Ich kenne das Mädchen ja kaum.“

      Martin war Sänger und nahm an der Generalprobe des Bachchores teil, der am nächsten Tag einen Auftritt hatte.

      Vom Krankenhaus aus rief er ihn an. Guido verabscheute Anna-Lenas Bruder und gleichzeitig beneidete er ihn. Umgeben von Reichtum und Luxus lebte er mit seiner Schwester in einer großen Villa, die sie von ihren Eltern geerbt hatten. Sie hatten alles, was man sich nur wünschen konnte. Aber im Grunde interessierten sich beide nur für eins: Barockmusik.

      Er verzog abfällig seinen Mund, als Martin sich meldete. „So wie dieser Weichling an seiner Schwester hängt, bekommt er sicher sofort einen Nervenzusammenbruch“, dachte er.

      Doch Martin reagierte ganz anders. „In Ordnung, ich komme“, sagte er ruhig und hängte ein.

      Kurze Zeit später war Martin zur Stelle. „Wo ist sie?“, fragte er knapp. Ohne Guido eines weiteren Blickes zu würdigen, betrat er den Untersuchungsraum, in dem Anna-Lena sich befand.

      Noch größer war Guidos Erstaunen, als er ein paar Augenblicke später mit seiner Schwester am Arm wieder herauskam. Sie lachten und Anna-Lena wirkte völlig normal.

      Sie blieben vor ihm stehen. „Ich glaube, ich muss es Guido erklären“, sagte sie zu ihrem Bruder.

      „An