mit. Stumm hörte er zu, während sie von ihrer Kindheit sprach und von den Spielen, die sie und ihr Bruder gespielt hatten.
„Unsere Eltern waren oft wochenlang auf Konzertreise“, sagte sie, „und die Erzieherin mochten wir nicht. So kam es, dass wir die meiste Zeit mit unserer Musik und miteinander verbrachten. Irgendwann wurden uns unsere Spiele langweilig. Da kam Martin auf die Idee.“
Ihr Bruder rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her.
„Er hatte etwas über Hypnose gelesen“, fuhr Anna-Lena fort, „und wir wollten es einfach mal ausprobieren. Es klappte besser, als wir gedacht hatten. Martin hypnotisierte mich und ließ mich allerhand komische Dinge tun. Dabei filmte er mich, und hinterher haben wir Tränen gelacht. Jeden Abend vertrieben wir uns auf diese Weise die Zeit.“
Guido starrte sie an. „Willst du damit sagen, dass du eben in der Kirche in Hypnose warst?“
Anna-Lena nickte.
Martin räusperte sich. „Ich glaube, das reicht“, sagte er, zu seiner Schwester gewandt.
„Aber wieso?“, bohrte Guido weiter. „Dein Bruder war doch gar nicht anwesend.“
„Wir haben eine Art Geheimsignal verwendet“, erklärte Anna-Lena, „eine Abkürzung sozusagen, damit ich schneller in Hypnose fiel.“
„Sei still!“, versuchte Martin sie zu bremsen.
Anna-Lena lächelte ihn an. „Keine Sorge.“ Sie begann zu summen. Zwei-, dreimal dieselben vier Töne. Es war ein tieftraurig klingender Melodiefetzen. „Begreifst du jetzt?“
„Ich bin unmusikalisch“, antwortete Guido ein wenig gereizt, „das weißt du doch.“
„Anna-Lena!“, warnte Martin.
Sie summte wieder. „B – A – C – H“, sagte sie, „das sind die vier Noten, die wir als Code wählten. Wir dachten, wir würden diese Töne niemals außerhalb unserer vier Wände hören.“
Jetzt verstehe ich“, rief Guido. „Heute Abend, bei der Improvisation, da hast du sie gehört!“
Sie nickte.
„Und dein Bruder hat dich im Krankenhaus aus der Hypnose zurückgeholt.“
„So ist es. Sonst hätte ich noch sehr lange und sehr gut geschlafen.“ Sie lachte.
Martin schüttelte besorgt den Kopf. „Hoffentlich war es kein Fehler, ihn einzuweihen.“
„Wie kommst du eigentlich dazu, so etwas zu sagen!“, protestierte Guido empört.
„Ach was“, rief Anna-Lena lachend, ehe Martin antworten konnte, „warum sollte ich meinem Freund die Geschichte verschweigen? Und falls es noch einmal passieren sollte, weiß er wenigstens Bescheid.“
„Wie holt Martin dich denn aus der Hypnose zurück?“, erkundigte sich Guido.
„Er sagt mir einfach, dass ich aufwachen soll. Und dann singt er die Töne rückwärts: H – C – A – B.“
Als Guido an diesem Abend nach Hause kam, stieg er sofort zum Dachboden hinauf und wühlte zwischen allerlei staubigen Gegenständen herum, bis er gefunden hatte, was er suchte.
Er brauchte nicht lange auf eine günstige Gelegenheit zu warten. Schon am nächsten Nachmittag fand er Anna-Lena allein vor. Nach dem Begrüßungskuss drückte er sie sanft in einen Sessel und griff in eine Plastiktüte.
„Eine Blockflöte!“, rief Anna-Lena überrascht. „Sag bloß, du willst mir ein Ständchen bringen!“
„Genau das will ich.“ Lächelnd setzte das Instrument an seine Lippen. Was für ein Glück, dass er auch die alte Flötenfibel aufbewahrt hatte!
„B – A – C – H” flötete er, und es passierte genau das, was er gehofft hatte: Anna-Lena starrte ihn an, sank nach hinten und schloss die Augen.
Er beobachtete sie eine Weile, und als er sicher war, dass sie sich in Trance befand, gab er ihr seine Befehle: „Wenn du gleich aufwachst, wirst du zur Bank gehen und 50.000 Euro locker machen. Du wirst sie mir geben, dich später aber nicht mehr daran erinnern, sondern glauben, du hättest das Geld gespendet.“ Er grinste. „Im Grunde hast du das ja auch.“
Anna-Lena atmete tief und gleichmäßig.
„Und nun wach auf!“ Guido flötete: H – C – A – B.
Anna-Lenas Augenlider flatterten. Dann richtete sie sich auf.
Gespannt wartete er, doch nichts geschah. Sie trank ihren Kaffee und schaute schweigend durch das Fenster in den Park hinaus.
„Möchtest du nicht irgendwo hingehen?“, fragte Guido schließlich.
Anna-Lena wandte ihm das Gesicht zu. Zorn sprühte aus ihren Augen. „Verschwinde!“, stieß sie hervor.
„Aber ...“, begann Guido, doch sie ließ ihn nicht ausreden. „Ich hätte auf Martin hören sollen. Du bist wirklich der letzte Dreck. Lass dich hier nie wieder blicken!“
In der Tür drehte Guido sich noch einmal um: „Warum ...“
„Warum es nicht geklappt hat? Ganz einfach: Deine Flöte ist verstimmt. Was du da gespielt hast, klang eher wie H – A – Cis – C. Du hast es natürlich nicht gemerkt, weil du unmusikalisch bist.“
„Du hast mich also an der Nase herumgeführt“, sagte er beinahe vorwurfsvoll.
„Allerdings. Weil ich wissen wollte, was du im Schilde führtest. Und glaube mir, das wird noch ein Nachspiel haben.“
Guido ballte die Fäuste, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. An der Straßenbahnhaltestelle warf er die Blockflöte in den Abfalleimer.
Blutstropfen
Schülerinnen wie Nina konnten einem Lehrer das Leben wirklich zur Hölle machen. Sie passte nicht eine Sekunde auf, redete in einem fort, lachte und schrie ständig dazwischen, verhöhnte ihn, äffte ihn nach, hetzte alle gegen ihn auf und schrieb zu seinem grenzenlosen Ärger trotzdem immer gute Arbeiten. Dass er diesem widerwärtigen Balg hilflos ausgeliefert war, machte ihn rasend vor Wut. Es raubte ihm den Schlaf und erfüllte ihn mit ohnmächtigem Hass.
Eines Tages bekam er Besuch von seinem Bruder. Und da hatte er diese glänzende Idee. Schon bald würde diesem Scheusal sein dreckiges Lachen ein für allemal vergehen!
Der Klassenausflug fand kurz vor den Sommerferien statt. Er hatte einen langen Fußmarsch durch den Wald geplant, einen sehr langen. Und wie er erwartet hatte, erschien das Flittchen in einem geradezu unanständig kurzen Minirock und trug ihre hochhackigen, spitzen Lackstiefel, die sich so gar nicht für ausgedehnte Wanderungen eigneten.
Natürlich fing sie schon nach kurzer Zeit an zu humpeln und klagte über eine Blase am kleinen Zeh. Bis jetzt lief alles wie am Schnürchen!
Als er eine Bank am Wegrand entdeckte, atmete er tief durch. Nun wurde es ernst.
„Setz dich, ich helfe dir“, rief er Nina mit gespielter Freundlichkeit zu.
Anscheinend tat die Blase wirklich sehr weh, denn die Schlampe humpelte tatsächlich gehorsam auf die Bank zu und ließ sich stöhnend fallen.
„Zieh deinen Schuh und den Strumpf aus!“, befahl er, während er eine Nadel, Salbe und ein Pflaster aus seinem Rucksack hervorholte.
Nina tat sofort, was er sagte. Verstohlen grinste er in sich hinein. Zum zweiten Mal in ihrem Leben gehorchte sie ihm aufs Wort.
„Ich werde zunächst deine Blase aufstechen“, erklärte er, denn sie musste ja schließlich wissen, was auf sie zukam. Mit Genugtuung stellte er fest, dass das Biest ein ängstliches Gesicht machte.
Ganz plötzlich wurde die Bank von einer Horde neugieriger Schüler umringt. Er erschrak und stach sich dabei heftig in den Finger. Er verbiss