Michael Bardon

Mörderische Spiele


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Er war immer da, wenn man ihn brauchte und wachte mit preußischer Gründlichkeit über unser Inventar.

      Ein wackeliger Stuhl? Kein Problem für Ali und seiner großen Leimflasche! Eine Tafel, die klemmte? Ali rückte mit seiner Werkzeugtasche an und reparierte das Ganze in Windeseile. Ein neuer Schüler, der seinen Bus verpasst hatte? Ali war zur Stelle und fuhr den Unglücksraben nach Hause. Ein Leben an unserer Schule war ohne Ali einfach nicht vorstellbar. Das wusste er, und wir wussten das auch.

      »Ja, da hast du recht. Ich habe schon die ganze Woche die Luft angehalten und gehofft, dass das Wetter mitspielt«, sagte ich.

      »Und das helfen? Ich glaube, du mich verarschen, Herr Bender.«

      »Ach Ali, das sagt man doch nur so. Warum sollte ich dich denn verarschen wollen?«

      »Was man sagt so?«

      »Na, das mit dem Wetter und dem Luftanhalten!«

      »Ach so! Du mich also nix verarschen?«

      »Nein, wirklich nicht, Ali.«

      Er musterte mich für ein paar Sekunden aus seinen dunklen Knopfaugen, dann bewegte er ruckartig seinen Kopf und sah an mir vorbei.

      »Ist Kind hingefallen«, sagte Ali unvermittelt und sprang behände auf seine Beine.

      Obwohl er im Sommer seinen 60. Geburtstag gefeiert hatte, war er fit wie ein junger Mann. Jahrelanges Ringen hatte zwar seine Gelenke geschwächt, aber seine Muskeln gestärkt. Und trotz seiner Körpergröße von nur 1,70 Meter verfügte er über Bärenkräfte.

      Ich stellte meine Tasse vorsichtig auf den Waldboden und stand ebenfalls auf. Einer meiner Schülerinnen rappelte sich gerade vom Boden auf und wischte sich die Hose ab.

      »Alles in Ordnung bei dir, Carla?«, fragte ich besorgt.

      »Jaja, alles easy. Bin nur über so ´ne blöde Wurzel gestolpert«, rief sie lachend zurück.

      »Tut dir was weh?«

      »Nö, ist echt alles ok!«

      Ali stand noch immer regungslos da, hatte seinen Kopf leicht nach rechts geneigt und spähte im Wald umher.

      »Was ist los Ali, stimmt etwas nicht?«, fragte ich neugierig.

      »Ich nix wissen! So komisch ruhig in Wald. Keine Vogel am Singen, is komisch, ne.«

      »Naja, wahrscheinlich sind hier einfach zu viele Menschen, und die Vögel fühlen sich durch uns in ihrer Ruhe gestört«, sagte ich.

      »Vielleicht, aber …«

      Seine Worte blieben ihm im Halse stecken, denn der schrille, panische Schrei einer Frau drang in unsere Ohren. Nur ein paar Sekunden später folgte eine Kaskade verzweifelter, nicht enden wollender Schreie, die die Stille des Waldes zerschnitten.

      Ich spürte, wie mir das Blut in den Adern gefror und ein Schauer meinen Körper durchlief.

      Entsetzt blickte ich mich um, versuchte mich am Klang der Schreie zu orientieren. Neben mir spurtete Ali bereits los und lief auf eine gut 300 Meter entfernte Anhöhe zu. Mit einem raschen Blick überzeugte ich mich, dass meine Schüler noch alle vollzählig da waren. Ich sah in ihren Gesichtern nackte Panik aufflammen und ihre verstörten Blicke zuckten hektisch im Wald umher.

      »Ihr bleibt hier und rührt euch nicht von der Stelle«, rief ich mit hektischer Stimme.

      Dann rannte auch ich der Anhöhe entgegen.

       *

      Kommissar Reinhold Bach folgte dem unbefestigten Waldweg und lenkte sein Fahrzeug vorsichtig um die größten Schlaglöcher herum. Neben ihm saß seine Kollegin Britta Jungmann und starrte wie hypnotisiert aus dem Fenster.

      Sie war gerade erst wieder diensttauglich geschrieben worden und brannte förmlich vor angestautem Tatendrang. Bei ihrem letzten gemeinsamen Fall war sie schwer verletzt worden und hatte nur mit viel Glück überlebt.

      Fast zwei Monate war das jetzt her. Zwei Monate, in denen er alles unternommen hatte, um diesen Fall endgültig abzuschließen.

      Doch noch immer waren die beiden Hauptverdächtigen spurlos verschwunden; an einen Abschluss des Falles wagte er schon gar nicht mehr zu denken. Vielleicht würde Britta ja mit ihrem jugendlichen Elan und ihren modernen Ermittlungsmethoden neuen Schwung in die festgefahrenen Ermittlungen bringen.

      Er jedenfalls war am Ende mit seinem Latein.

      Der große und erfahrene Kommissar war von einem skrupellosen Liebespaar an der Nase herumgeführt worden. Sie hatten ihn regelrecht vorgeführt und mit der Polizei Katz und Maus gespielt.

      Aber gut, dachte er, Niederlagen gehören genauso zum Leben wie die großen Siege.

      »Schauen wir mal, wer zum Schluss lacht«, brummte er gedankenverloren vor sich hin.

      »Hast du was gesagt, Reinhold?«

      »Wer, ich? Nein, nicht dass ich wüsste.«

      »Hat sich aber so angehört.«

      »Quatsch, hab höchstens laut gedacht.«

      »Und an was hast du gedacht? Mensch, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen«, schimpfte Britta Jungmann.

      Keine Frage, dachte er, Britta ist zum Glück wieder ganz die Alte. Ungeduldig, fordernd und von der Nasenspitze bis zum kleinen Zeh neugierig.

      »Habe gerade an unseren letzten Fall gedacht«, sagte er leise, warf ihr einen schnellen Blick zu und fuhr dann fort: »Ich hätte dich nie alleine dort hingehen lassen dürfen. Das war ein absolut unverzeihlicher Fehler. Gott, du glaubst ja überhaupt nicht, wie das an mir nagt. Ich kann mir das einfach nicht verzeihen. Um Haaresbreite wärst du gestorben. Unglaublich, wie dumm und einfältig ich mich benommen habe. Wenn ich mir vorstelle, was …«

      Mit einer sanften Geste der Zuneigung legte die Kommissarin ihre Hand auf das Bein ihres Kollegen und sagte: »Lass es gut sein, Reinhold. Dass ich dort auf diesen Kapinzki treffen würde, konnte keiner von uns vorhersehen. Schau mich an! Mir geht es prima, ich habe die ganze Sache gut überstanden. Ich bin dir nicht böse, war dir auch nie böse. Es war meine Entscheidung, dorthin zu fahren. Ganz alleine meine Entscheidung. Und jetzt möchte ich über diesen Mist nicht mehr sprechen. Mach endlich einen Haken an die Sache und vergiss das Ganze. Hast du das jetzt endlich kapiert? Mir geht dieses Thema nämlich allmählich gehörig auf die Nerven.«

      »Jaja«, murrte er, »man wird ja noch laut denken dürfen.«

      »Da vorne muss es sein«, rief die Kommissarin aufgeregt und zeigte mit ihrem ausgestreckten Arm auf etwa ein Dutzend geparkter Streifenwagen.

      Sie waren wahllos auf einer kleinen Lichtung abgestellt und blockierten so die schmale Fahrspur. Zwei Rettungswagen parkten seitlich in einem weiteren Waldweg. Kommissar Bach konnte schemenhafte Bewegungen im Inneren des zweiten Krankenwagens erkennen. Ein Kastenwagen der Spurensicherung hatte sich etwas weiter auf die Waldlichtung hinaus gewagt und steckte mit seiner Hinterachse tief im Morast.

      »Gott, was für ´ne Scheiße! Willkommen im Alltag eines Dorfpolizisten!«, fluchte Bach und stieß die Wagentür auf. Ein großgewachsener Streifenpolizist mittleren Alters kam auf sie zu und begrüßte die beiden Kommissare mit festem Händedruck.

      »Mahlzeit, Klaus, was haben wir hier? Konntest du dir schon einen Überblick verschaffen?«, wollte Kommissar Bach von seinem Kollegen wissen.

      »Mahlzeit, Reinhold, Mahlzeit, Britta. Schön, dass du wieder im Dienst bist. Du hast uns gefehlt! Und ich glaube, dem alten Brummbär hast du noch mehr gefehlt als dem Rest der Truppe«, sagte der Polizeibeamte und zwinkerte dabei verstohlen mit seinem linken Auge.

      »Hör auf mit dem Gesülze und sag uns lieber, was hier los ist.«

      Der Polizist kratzte sich nachdenklich am Kopf, dann sagte er mit sonorer Stimme: »Tja, mein