George Eliot

Middlemarch


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wahrhaft glücklicher Mensch um diese Zeit! siebenundzwanzig Jahr alt, ohne festgewurzelte Laster, beseelt von dem edlen Entschluss segensreich zu wirken, und erfüllt von Ideen, welche dem Leben für ihn Interesse verliehen. Er stand an der Schwelle seiner Laufbahn, einem Momente, dessen außerordentliche Bedeutung für das Leben des Menschen nur der ganz begreift, welcher eine Vorstellung von der Kompliziertheit der hindernden und fördernden Umstände hat, von denen die Wahrscheinlichkeit der Erreichung eines schwierigen Vorhabens abhängt, eine Vorstellung von den feinen Schwankungen der inneren Waage, durch welche ein Mensch sich im Gleichgewicht erhalten muß, wenn er nicht von dem Strome des Lebens willenlos fortgetrieben werden will.

      Unsicher hätte der Ausgang auch dem erscheinen müssen, der Lydgate's Charakter genau gekannt hätte; denn auch der Charakter ist ein der Entwicklung unterworfener Prozess. Nicht nur der Middlemarcher Arzt und der Entdecker, sondern auch der Mensch Lydgate war noch im Werden, und er hatte Tugenden und Fehler, welche ebensowohl ab- als zunehmen konnten. Seine Fehler werden, hoffe ich, Niemanden veranlassen, ihm sein Interesse zu entziehen. Finden wir nicht unter unsern geschätzten Freunden einen oder den andern, der ein wenig zu selbstbewußt und zu hochmütig, dessen ausgezeichneter Geist ein wenig durch Niedrigkeit der Gesinnung befleckt ist, welchen angeborene Vorurteile bald zu engherzig und bald zu ausgiebig machen, dessen Entschlüsse von der Gefahr bedroht sind durch vorübergehende Versuchungen in eine falsche Richtung gedrängt zu werden?

      Alle diese Fehler konnten Lydgate vorgeworfen werden, aber sie sind doch nur die Paraphrasen eines höflichen Predigers, welcher vom alten Adam spricht und seinen Zuhörern nicht gern etwas Unangenehmes sagen möchte. Die besonderen Fehler, welche sich in diesen zarten Allgemeinheiten zusammengefaßt finden, haben ihre sehr bestimmten Physiognomien. Unsere Eitelkeiten sind so verschieden von einander wie unsere Nasen; die gleiche Selbstüberhebung ist doch nicht immer dieselbe, sondern weicht in ihren Manifestationen so weit von einander ab, wie die Textur unserer verschiedenen Geistesverfassungen.

      Lydgate's Selbstüberhebung gehörte der süffisanten Gattung an; sie trat nie mit grinsender Affektation, nie impertinent auf, sondern machte sich nur in sehr bedeutenden Ansprüchen und in Äußerungen einer wohlwollenden Geringschätzung geltend. Er war immer bereit, sehr viel für armselige Tröpfe zu tun, die ihm leid taten und von denen er sicher war, daß sie keine Gewalt über ihn würden gewinnen können. Während seines Aufenthalts in Paris hatte er daran gedacht, sich den Saint-Simonisten anzuschließen, um sie von einigen ihrer eigenen Lehren zu bekehren. Alle seine Fehler hatten eine gewisse Familienähnlichkeit mit einander, und waren die Fehler eines Mannes, der eine schöne Baritonstimme hatte, dem seine Kleider immer gut saßen und der selbst bei den einfachsten Bewegungen die angeborne Distinktion seiner Natur nicht verleugnete.

      »Wo finden sich denn aber die Flecken niedriger Gesinnung?« fragt wohl eine junge Leserin, welcher die eben geschilderte natürliche Grazie Lydgate's imponiert? Wie ist es denkbar, daß ein so wohlerzogener Mann, welcher so sehr nach einer gesellschaftlich ausgezeichneten Stellung strebt, und welcher so edle und ungewöhnliche Ansichten über seine Pflichten gegen die Gesellschaft hat, niedrige Gesinnungen hege? Ganz so denkbar, antworte ich, wie daß ein Mann von Geist dumm erscheint, wenn man ihn unversehens auf einen ihm fern liegenden Gegenstand bringt, oder daß Männer, welche von den besten Absichten für das Wohl der Gesellschaft erfüllt sind, vielleicht sehr schlechte Beurteilter der leichteren Freuden dieser Gesellschaft sind und keine Vorstellung davon haben, daß diese Freuden über Offenbach's Musik oder das witzige Wortspiel der letzten Posse hinausgehen können.

      Lydgate's Flecken niedriger Gesinnung erwuchsen aus der Art seiner Vorurteile, welche, trotz seiner edlen Absichten und sympathischen Gefühle, zum guten Teil dieselben waren, die wir bei gewöhnlichen Weltleuten finden; die Hoheit der Gesinnung, welche seinem geistigen Eifer eignete, erstreckte sich so wenig auf seine Gefühle und sein Urteil über häusliche Einrichtung und über Frauen, wie auf seine Vorstellungen davon, wie wünschenswert es sei, daß man, ohne daß er es zu sagen brauche, wisse, daß er von besserer Herkunft als andere praktische Ärzte in der Provinz sei.

      Er dachte für den Augenblick noch nicht an seine häusliche Einrichtung; es stand jedoch zu fürchten, daß, sobald er sich einmal einrichten würde, weder sein Interesse für Anatomie und Physiologie noch seine Reformpläne ihn über das niedrige Gefühl hinwegheben würden, daß es unverträglich mit seiner Stellung sein würde, nicht auf das Beste eingerichtet zu sein.

      Für seine Ansichten über das weibliche Geschlecht war ein Verhältnis, in welchem er schon einmal zu einer Frau gestanden hatte, wesentlich maßgebend. Durch die wilde Leidenschaft, von der er damals ergriffen gewesen war und die er überwunden hatte, glaubte er sich für alle Zukunft gegen ähnliche Verirrungen geschützt. Für diejenigen, welche Lydgate kennen zu lernen wünschen, wird es willkommen sein, etwas Näheres über jenes Verhältnis zu hören, denn die Erzählung dieses Erlebnisses wird am besten zeigen, welcher leidenschaftlichen Verirrungen er fähig, zugleich aber auch, wie groß seine ritterliche Herzensgüte war, die soviel dazu beitrug, ihn sittlich liebenswert zu machen. Die Geschichte ist bald erzählt. Sie trug sich zu, als Lydgate in Paris studierte, und zwar grade zu einer Zeit, wo er neben seinen übrigen angestrengten Arbeiten noch mit galvanischen Experimenten beschäftigt war.

      Eines Abends fühlte er sich von dem langen, bis jetzt erfolglosen Experimentieren ermüdet und beschloss, seinen Fröschen und Kaninchen eine Erholung von den unerklärlichen Schlägen, denen sie sonst fortwährend ausgesetzt waren, zu gönnen und seinen Abend im Theater Porte Saint Martin zu beschließen, wo ein Melodrama gegeben wurde, welches er bereits mehrere Male gesehen hatte und welches ihn interessierte, nicht wegen der von mehreren Autoren gemeinschaftlich verfaßten Dichtung, sondern wegen einer Schauspielerin, deren Rolle es mit sich brachte, daß sie ihren Geliebten, indem sie ihn irrtümlich für den Bösewicht des Stücks, einen Herzog, hielt erstach.

      Lydgate hatte sich in diese Schauspielerin verliebt, wie ein Mann sich in eine Frau verliebt, von der er nicht glaubt, daß er sie jemals werde sprechen können. Sie war eine Provençalin, mit dunklen Augen, einem griechischen Profile, jener majestätischen Fülle der Formen, welche selbst jugendlichen Gestalten etwas anmutig Matronenhaftes verleiht, und einer sanft girrenden Stimme. Sie war erst kürzlich nach Paris gekommen und erfreute sich eines makellosen Rufs; die Rolle des unglücklichen Liebhabers spielte ihr eigener Mann. Ihr Spiel erhob sich nicht über das Gewöhnliche, aber das Publikum war befriedigt. Lydgate's einzige Erholung bestand jetzt darin, diese Frau spielen zu sehen.

      An diesem Abend jedoch sollte die Aufführung noch ein ganz unerwartetes Interesse darbieten. In dem Augenblick, wo die Heldin ihren Geliebten zu erstechen und er mit Grazie zusammenzusinken hatte, erstach die Frau wirklich ihren Mann, der tot zu Boden stürzte. Ein wilder Schrei durchdrang das Haus und die Provençalin sank ohnmächtig nieder; beides, Schrei und Ohnmacht, waren in der Rolle vorgeschrieben, aber dieses Mal waren sowohl der Schrei als die Ohnmacht echt. Lydgate eilte herzu und gelangte, er wußte selbst kaum wie, kletternd auf die Bühne; er leistete der Ohnmächtigen, nachdem er gefunden hatte, daß sie eine Kontusion am Kopfe davon getragen, und sie sanft aufgehoben hatte, tätige Hilfe und kam auf diese Weise zum ersten Mal in persönliche Berührung mit seiner Heldin.

      Ganz Paris war voll von dieser Geschichte – war es ein Mord? Einige der wärmsten Verehrer der Schauspielerin waren geneigt, an ihre Schuld zu glauben und schwärmten, im Geschmack jener Tage, in dieser Annahme nur desto mehr für sie; aber Lydgate gehörte nicht zu diesen. Er stritt heftig für ihre Unschuld, und die unpersönliche, aus der Entfernung schwärmende Leidenschaft für ihre Schönheit, welche ihn bisher für sie erfüllt, hatte sich jetzt in eine persönliche Hingebung, in eine zärtliche Teilnahme für ihr Los verwandelt. Der Gedanke an einen Mord war absurd; es war kein Motiv dafür erfindlich, da das junge Paar, wie es hieß, einander angebetet hatte, und es war nichts Unerhörtes, daß ein zufälliges Ausgleiten des Fußes zu so schrecklichen Folgen führte. Die gerichtliche Untersuchung endete mit Madame Laure's Freisprechung.

      Lydgate hatte sie um diese Zeit näher kennen zu lernen Gelegenheit gehabt und fand sie von Tag zu Tag anbetungswürdiger. Sie sprach wenig, aber das war für ihn nur ein Reiz mehr. Sie war melancholisch und schien dankbar; ihre bloße Gegenwart wirkte beruhigend wie die Abenddämmerung. Lydgate dürstete wie wahnsinnig nach ihrer Liebe und zitterte bei dem Gedanken, daß ein anderer