Frau Farebrother, welche diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen konnte, »Sie kennen meinen Sohn nicht, er unterschätzt sich immer selbst; ich sage ihm immer, er unterschätzt damit den lieben Gott, der ihn geschaffen, und zwar zu einem ganz vortrefflichen Prediger geschaffen hat.«
»Es wird wohl Zeit, Mutter, daß ich Herrn Lydgate in mein Studierzimmer führe,« sagte der Pfarrer lachend. »Ich habe versprochen, Ihnen meine Sammlung zu zeigen,« fügte er gegen Lydgate gewandt hinzu, »wollen Sie sie sich ansehen?«
Alle drei Damen protestierten, Herr Lydgate dürfe nicht zum Fortgehen gedrängt werden, bevor er noch eine zweite Tasse Tee habe trinken können. Fräulein Winifred habe noch reichlich guten Tee in ihrem Teetopfe. Warum denn Camden solche Eile habe, einen Besucher in seine Höhle zu führen? Da gebe es ja nichts als eingemachtes Gewürm und Schubfächer voll Fliegen und Motten und nicht einmal ein bisschen Teppich auf dem Fußboden, Herr Lydgate müsse das entschuldigen. Eine Partie Grabuge würde viel besser sein.
Kurz; es war klar, daß der Pfarrer von seiner weiblichen Umgebung als die Blüte der Menschheit und Priesterschaft verehrt und doch ihrer Leitung für sehr bedürftig gehalten wurde. Lydgate wunderte sich mit der gewöhnlichen Oberflächlichkeit eines unverheirateten jungen Mannes, daß Farebrother die Frauen nicht besser erzogen habe.
»Meine Mutter ist nicht gewöhnt, Leute bei mir zu sehen, welche irgend ein Interesse an meinen Liebhabereien nehmen können,« sagte der Pfarrer, »als er die Tür seines Studierzimmers öffnete, welches in der Tat aller Behaglichkeit so bar war, wie es die Damen angedeutet hatten, es wäre denn, daß man eine kurze Porzellanpfeife und einen Tabakskasten, als wohnlichen Zimmerschmuck betrachten wollte.
»Männer Ihres Berufs pflegen nicht zu rauchen,« bemerkte er beim Eintreten.
Lydgate lächelte und schüttelte den Kopf.
»So wenig wie die Männer meines Berufs schicklicherweise rauchen sollten. Sie werden von Leuten wie Bulstrode und Genossen diese Pfeife gegen mich geltend machen hören; sie wissen nicht, wie sehr sich der Teufel darüber freuen würde, wenn ich das Rauchen aufgäbe.«
»Ich verstehe Sie, Sie haben ein reizbares Temperament und bedürfen eines Beruhigungsmittels. Ich bin schwerfälliger organisiert und würde träge davon werden. Ich würde dem Müßiggang verfallen und darin geistig stagnieren.«
»Und Sie wollen Ihren Geist ganz auf Ihre Arbeit konzentrieren. Ich bin zehn oder zwölf Jahre älter als Sie und bin dahin gelangt, ein Kompromiss mit meinem Geiste zu schließen. Ich nähre ein paar Schwächen, damit sie sich nicht zu mausig machen. Sehen Sie einmal,« fuhr der Pfarrer fort, indem er mehrere kleine Schubfächer öffnete, »ich bilde mir ein, erschöpfende Studien über die Insekten dieser Gegend gemacht zu haben; ich beschäftige mich gleichmäßig mit der Fauna und mit der Flora; meine Insektensammlung ist aber jedenfalls gut. Wir sind besonders reich an Gradflüglern. Ich weiß nicht, wie es kommt ... ach, Sie besehen sich diese gläserne Kruke und haben kein Auge für meine Schubfächer. Haben Sie wirklich kein Interesse für diese Dinge?«
»Nicht, so lange ich dieses reizende gehirnlose Monstrum vor Augen habe. Ich habe nie Zeit gehabt, mich viel mit Naturgeschichte zu beschäftigen. Schon in frühen Jahren erweckte die Anatomie mein Interesse und das Studium derselben steht ja im genauesten Zusammenhang mit meinem Berufe. Ich habe außerdem kein Steckenpferd; das ist aber auch ein unbegrenztes Feld.«
»Ach, Sie sind ein glücklicher Mensch,« erwiderte Farebrother, indem er sich auf den Fersen herumdrehte und anfing, seine Pfeife zu stopfen. »Sie wissen nicht, was es heißt, geistlichen Tabak konsumieren müssen: – schlechte Emendationen alter Texte, kleine Bemerkungen über eine Varietät der Blattlaus mit der wohlbekannten Unterschrift Philomicron – in › Twaddlers Magazine‹, oder eine gelehrte Abhandlung über die Insekten der fünf Bücher Moses, mit Inbegriff aller darin nicht erwähnten, aber von den Juden bei ihrem Zuge durch die Wüste wahrscheinlich angetroffenen Insekten; eine Monographie über die Ameise, zum Beweise der Übereinstimmung der Sprüche Salomons in ihren von der Ameise handelnden Stellen mit den Resultaten der modernen Wissenschaft. Es ist Ihnen doch nicht unangenehm, daß ich Sie einräuchere?«
Lydgate war noch mehr überrascht durch den Freimut dieser Äußerungen als durch ihren unzweifelhaften Sinn, daß der Pfarrer den ihm zusagenden Beruf nicht gefunden zu haben glaubte. Die sorgfältige Herstellung von Schubfächern und Borden und der mit kostbaren Illustrationen von Gegenständen der Naturgeschichte angefüllte Bücherschrank ließen ihn wieder an die Gewinne des Pfarrers im Kartenspiel und deren Bestimmung denken. Aber er fing an zu wünschen, daß die günstigste Auslegung alles dessen, was Farebrother tat, der Wahrheit entsprechen möchte. Die Offenheit des Pfarrers machte nicht den Eindruck jener widerwärtigen Art, welche aus einem unbehaglichen Bewusstsein hervorgeht und dem Urteil Anderer zuvorzukommen sucht, sondern schien einfach der Ausdruck des Wunsches zu sein, so anspruchslos wie möglich aufzutreten. Offenbar fühlte er recht gut, daß seine freimütige Art zu reden als unzeitig erscheinen könnte, denn er sagte gleich darauf:
»Ich habe Ihnen noch nicht gesagt, daß ich im Vorteil gegen Sie bin, Herr Lydgate, und daß ich Sie besser kenne, als Sie mich. Erinnern Sie sich wohl Trawley's, der eine Zeit lang Ihr Stubenkamerad in Paris war. Ich korrespondierte jener Zeit mit ihm und er erzählte mir viel von Ihnen. Ich war, als ich Sie zuerst sah, nicht ganz sicher, ob Sie derselbe seien, und war sehr froh zu finden, daß Sie es seien. Aber ich vergesse nicht, daß Sie nicht in gleicher Weise zum Voraus über mich unterrichtet sind.«
Lydgate erriet, daß diesen Äußerungen eine gewisses Zartgefühl zu Grunde liege, aber er verstand nicht recht, um was es sich handle. »Beiläufig,« sagte er, »was ist aus Trawley geworden? Ich habe ihn ganz aus dem Gesichte verloren. Er war ein leidenschaftlicher Anhänger der französischen sozialen Systeme und dachte daran, in den Urwald zu gehen, um eine Art von pythagoräischer Gemeinde zu gründen. Hat er seinen Plan ausgeführt?«
»Keineswegs. Er ist Badearzt in einem deutschen Badeorte und hat eine reiche Patientin geheiratet.«
»Dann habe ich ihn also so weit ganz richtig beurteilt,« sagte Lydgate mit einem kurzen geringschätzigen Lachen. »Er behauptete immer, die ärztliche Kunst müsse in der Praxis unvermeidlich zum Humbug werden. Ich erwiderte ihm; die Schuld liege an den Menschen, welche sich den Lügen und der Torheit willig fügen. Anstatt extra muros gegen den Humbug zu Felde zu ziehen, wäre es richtiger, intra muros etwas für den Gesundheitszustand wahrhaft Nützliches zu leisten. Kurz – ich berichte treu, was wir mit einander sprachen –, Sie können sich darauf verlassen, daß aller gesunde Menschenverstand dabei auf meiner Seite war.«
»Und doch ist Ihr Plan sehr viel schwieriger auszuführen, als die Gründung der pythagoräischen Gemeinde. Sie haben nicht nur den alten Adam, der in Ihnen wie in jedem Menschen steckt, sondern die Abkömmlinge des wirklichen Adam gegen sich, welche die Gesellschaft um Sie her bilden. Sie sehen, ich habe zwölf oder vierzehn Jahre in der Kenntnis des praktischen Lebens mit seinen Schwierigkeiten vor Ihnen voraus. Aber« – Farebrother hielt einen Augenblick inne, und fügte dann hinzu: »Sie liebäugeln wieder mit der gläsernen Kruke. Wollen Sie einen Tausch machen? Sie sollen sie nicht umsonst haben.«
»Ich habe einige schöne Exemplare von Seemäusen in Spiritus. Und ich will die neueste Schrift von Robert Brown – Mikroskopische Beobachtungen über den Blütenstaub – noch in den Kauf geben, wenn Sie sie nicht vielleicht schon haben.«
»Nun, da ich sehe, wie sehnlich Sie den Besitz des Monstrums wünschen, könnte ich wohl einen noch höheren Preis fordern. Wie wäre es, wenn ich verlangte, daß Sie meine Schubfächer durchsähen und sich über alle meine neuen Spezies mit mir einigten?« Während er so sprach, ging der Pfarrer bald rauchend auf und ab, bald stand er mit seinen Insekten liebäugelnd vor seinen Schubfächern still. »Das wäre eine gute Schule, wissen Sie, für einen jungen Doctor, der seinen Patienten in Middlemarch gefallen will. Sie müssen lernen, sich mit Grazie ennuyieren zu lassen. Bedenken Sie das wohl. Indessen Sie sollen das Monstrum für Ihr Gebot haben.«
»Finden Sie nicht, daß die Menschen die Notwendigkeit, sich Jedermanns unverständigen Grillen zu fügen, übertreiben, bis sie selbst von den Narren, denen sie sich gefügt haben, verachtet werden?«