Druck kleiner gesellschaftlicher Verhältnisse und ihre hemmende Kompliziertheit. Sein innerer Kampf endigte damit, daß er, als er sich nach dem Hospital begab, sich mit der Möglichkeit tröstete, daß die Diskussion der Frage doch noch eine andere Gestalt geben und eine der beiden Schalen so zum Sinken bringen könne, daß er der Notwendigkeit zu stimmen ganz überhoben sein werde. Ich denke mir, er vertraute im Geheimen auch ein wenig auf die Energie, welche die Umstände erzeugen, denn der Drang der Umstände wirkt auf einige Menschen belebend und erleichtert ihnen Entschlüsse, welche ihnen durch kaltblütige Überlegung nur erschwert worden wären.
Aber wie dem auch sei, es stand noch im letzten Augenblick nicht fest bei Lydgate, für wen er stimmen wolle; klar empfand er nur den Verdruss über das ihm aufgezwängte Joch. War es nicht wie ein Hohn auf alle Logik, daß er mit seiner Entschlossenheit, sich beim Erstreben hoher Ziele seine Unabhängigkeit zu bewahren, an der Schwelle seiner Laufbahn in die Klauen einer kleinlichen Alternative geriet, deren beide Seiten ihm widerstrebten? Als Student hatte er sich sein soziales Wirken zum Voraus ganz anders zurecht gelegt.
Lydgate hatte sich spät auf den Weg gemacht, aber Doctor Sprague, die beiden andern praktischen Ärzte und mehrere von den Direktoren hatten sich schon zeitig versammelt, während Herr Bulstrode, welcher Schatzmeister und Vorsitzender war, gleichfalls noch fehlte. Aus der Unterhaltung der Herren schien sich zu ergeben, daß der Ausgang des bevorstehenden Wahlkampfes noch problematisch und daß das Vorhandensein einer Majorität für Tyke keineswegs so sicher sei, wie man angenommen hatte.
Wunderbarer Weise waren die beiden konsultierenden Ärzte dieses Mal einer Meinung, oder beobachteten vielmehr, wenn auch aus verschiedenen Gesichtspunkten dasselbe Verfahren. Doctor Sprague, der Schroffe, Gewaltige, war, wie Jedermann vorausgesehen hatte, ein Anhänger Farebrother's. Der Doctor war mehr als verdächtig, gar keine Religion zu haben; aber über diesen seinen Mangel drückte Middlemarch ein Auge zu, ja, es ist nicht unwahrscheinlich, daß er in seiner ärztlichen Kunst deshalb nur um so bedeutender erschien; denn die uralte Identifizierung des bösen Prinzips mit Geschicklichkeit erwies sich noch äußerst wirksam in den Gemütern selbst weiblicher Patienten, welche über Halskrausen und Gefühle sehr streng dachten. Es war vielleicht wegen dieses Skeptizismus des Doktors; daß ihn seine Nebenmenschen verstockt und trocken nannten, Eigenschaften, welche man gleichfalls der Fähigkeit, die Wirkungen von Arzneien zu beurteilen, für günstig hielt. Soviel ist gewiß, daß wenn einem Arzt vor seiner Niederlassung in Middlemarch der Ruf vorangegangen wäre, sehr entschiedene religiöse Ansichten zu haben, streng auf Gebete und auch in andern Beziehungen auf die Betätigung einer frommen Gesinnung zuhalten, dadurch ein allgemeines Vorurteil gegen seine ärztliche Geschicklichkeit erweckt worden wäre.
Daher war es auch (berufsmäßig gesprochen) ein Glück für Doctor Minchin, daß seine religiösen Sympathien von sehr allgemeiner Natur und so beschaffen waren, daß sie sich auf eine reservierte ärztliche Sanktion jeder ernsten, gleichviel ob kirchlichen oder dissentierenden Gesinnung beschränkten, ohne sich für bestimmte Glaubensartikel zu erklären. Wenn Herr Bulstrode auf der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben als derjenigen bestand, mit welcher die Kirche stehen oder fallen müsse, so war dagegen Doctor Minchin fest überzeugt, daß der Mensch keine bloße Maschine und keine zufällige Verbindung von Atomen sei; wenn Frau Wimple darauf bestand, daß es eine besondere Vorsehung für ihr Magenleiden geben müsse, so zog es Doctor Minchin seinerseits vor, der Freiheit des Geistes das Wort zu reden, und widersetzte sich einer so beschränkten Anschauung; wenn der unitarische Brauer über den atanasischen Glauben spottete, zitierte Doctor Minchin Pope's »Abhandlung über den Menschen.« Er war mit dem etwas freien Genre von Anekdoten, wie sie Doctor Sprague liebte, nicht einverstanden, er gab wohlakkreditierten Zitaten den Vorzug und war ein Freund des Feinen in allen Beziehungen; es war allgemein bekannt, daß er mit einem Bischof verwandt sei und seine Ferien bisweilen in dem bischöflichen Palast zubringe.
Doctor Minchin hatte weiche Hände, einen nassen Teint und runde Formen, so daß er nach seiner Erscheinung für einen mild gesinnten Geistlichen hätte gelten können; Doctor Sprague dagegen war ungebührlich lang, seine Beinkleider zogen sich über den Knien zusammen und enthüllten den Blicken übermäßig viel von seinen Stiefeln zu einer Zeit, wo Strippen als ein unerläßliches Requisit einer würdigen Erscheinung betrachtet wurden; man hörte ihn in den Häusern aus- und ein- und hinauf- und hinuntergehen, wie einen Arbeiter, der durchs Haus geht, um nach dem Dache zu sehen.
Kurz er war ein Mann von Gewicht, dem man es zutraute, daß er eine Krankheit zu packen und zu Boden zu werfen verstehe, während man Doctor Minchin mehr die Fähigkeit zuschrieb, ein verborgenes Leiden in seinem Verstecke auszuspüren und zu überlisten. Sie genossen ungefähr im gleichen Grade das mysteriöse Privilegium des ärztlichen Rufs und wußten beide unter strenger Beobachtung der Etikette ihre gegenseitige Verachtung für ihre Fähigkeiten geschickt zu verbergen.
Beide betrachteten sich als verkörperte Middlemarcher Institutionen und standen fest zusammen, wenn es sich darum handelte, Neuerer und Leute zu bekämpfen, welche, ohne vom Handwerk zu sein, Lust bezeigten, sich in ärztliche Angelegenheiten zu mischen. Aus diesem Grunde waren sie beide in ihrem Herzen gleich sehr gegen Bulstrode eingenommen, wiewohl Dr. Minchin ihm niemals in offener Feindseligkeit gegenüber gestanden hatte und niemals abweichende Ansichten vertrat, ohne dieselben Frau Bulstrode gegenüber, welche gefunden hatte, daß Niemand anderes als Dr. Minchin ihre Constitution verstehe, ausführlich zu rechtfertigen. Ein Laie, der den Ärzten bei der Ausübung ihres Berufs auf die Finger sah und ihnen seine Reformen immer aufdrängen wollte, war, – wenn auch den beiden konsultierenden Ärzten weniger direkt im Wege als den praktizierenden und dispensierenden Ärzten, welche kontraktlich zur Armenpraxis verpflichtet waren –, nichtsdestoweniger der gesamten ärztlichen Zunft ein Dorn im Auge und Dr. Minchin teilte ganz die neueste Gereiztheit gegen Bulstrode, dessen offenbare Absicht, Lydgate zu patronisieren, ihn verdroß.
Die beiden seit langer Zeit etablierten Praktiker Herr Wrench und Herr Teller standen eben von den übrigen Herren abgesondert bei Seite und waren in einem Gespräch mit einander begriffen, in welchem sie übereinkamen, daß Lydgate ein Hansnarr und recht dazu gemacht sei, Bulstrode's Zwecken zu dienen. Gegen nicht ärztliche Freunde hatten sie gemeinschaftlich das Lob des jungen Praktikers gesungen, welcher in Veranlassung von Herrn Peacock's Rücktritt – ohne weitere Empfehlungen als seine eigenen Verdienste und das günstige Vorurteil, welches es für seine Berufstüchtigkeit erwecken mußte, daß er notorisch keine Zeit mit der Aneignung andrer Kenntnisse vergeudet habe – nach Middlemarch gekommen sei. Es war klar, daß Lydgate dadurch, daß er selbst keine Arzneien verabreichte, seinen Standesgenossen einen Makel anheften und die Grenze zwischen seinem eigenen Range eines praktischen Arztes und dem Range der konsultierenden Ärzte, welche sich im Interesse des ganzen Berufs für verpflichtet hielten, die Scheidung der verschiedenen ärztlichen Grade streng aufrecht zu erhalten, verrücken wollte. Wie konnten sie anders als sich gegen einen Mann erklären, der keine der beiden englischen Universitäten besucht und sich nicht der dort gebotenen anatomischen und anderen Studien erfreut hatte, sondern hier mit einer beleidigend anmaßlichen Berufung auf die Erfahrungen auftrat, welche er in Edinburg und Paris, wo allerdings reichliche, aber schwerlich gesunde Beobachtungen zu machen sein mochten, gesammelt haben wollte.
So geschah es, daß bei dieser Gelegenheit Bulstrode mit Lydgate und Lydgate mit Tyke identifiziert wurden. Und Dank dieser Reihe von Namen, welche in Betreff der Kaplanfrage dasselbe Interesse zu bezeichnen schienen und in Bezug auf diese beliebig Einer für den Andern stehen konnten, gelangten verschieden gesinnte Leute zu einem übereinstimmenden Urteil in dieser Frage.
Dr. Sprague war bei seinem Eintreten auf die bereits versammelte Gruppe von Herren ohne Weiteres mit den Worten zugegangen:
»Ich stimme für Farebrother. Das Gehalt bewillige ich mit dem größten Vergnügen. Aber warum es dem Pfarrer entziehen? Er hat es wahrhaftig nicht zu reichlich – er muß neben seinem Haushalt noch sein Leben versichern und die für einen Pfarrer unvermeidlichen Wohltaten üben. Lassen Sie uns ihm vierzig Pfund in die Tasche stecken, wir tun damit nichts Böses. Er ist ein guter Kerl, der Farebrother, mit so wenig von einem Pastor an sich, wie sich irgend mit dem geistlichen Ornate verträgt.«
»Ho ho! Doctor,« rief der alte Herr Powderell, ein vom Geschäft zurückgezogener Eisenhändler