George Eliot

Middlemarch


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heraus.

      »Ich hoffe zuversichtlich, daß hier keine persönliche Feindschaft im Spiele ist,« sagte Herr Thesiger.

      »Und ich will schwören, daß das doch der Fall ist,« entgegnete Herr Hawley.

      »Meine Herren,« sagte Herr Bulstrode mit gedämpfter Stimme, »die für die Beurteilung der Frage in Betracht kommenden Momente lassen sich sehr leicht darlegen, und wenn einer der Anwesenden zweifeln sollte, daß die Herren, welche im Begriff stehen, ihre Stimme abzugeben, hinreichend über den Stand der Sache unterrichtet seien, so bin ich bereit, die Erwägungen zu rekapitulieren, welche für beide Seiten in die Waagschale der Entscheidung fallen sollten.«

      »Ich sehe nicht ein, wozu das nützen soll,« erwiderte Herr Hawley. »Ich denke, wir wissen Alle, für wen wir stimmen wollen. Wer gerecht verfahren will, wartet nicht bis zum letzten Augenblicke, um sich über beide Seiten der Frage aufzuklären. Ich habe keine Zeit zu verlieren und proponiere, sofort zur Abstimmung zu schreiten.«

      Aber es folgte noch eine sehr lebhafte, wenn auch kurze Debatte, bevor jeder der Anwesenden einen der beiden Namen »Tyke« oder »Farebrother« auf ein Stück Papier schrieb und dasselbe in ein großes Trinkglas warf. Während dieses Vorganges sah Herr Bulstrode Lydgate eintreten.

      »Ich sehe, daß die Stimmen bis jetzt gleich geteilt sind,« sagte Herr Bulstrode mit klarer scharfer Stimme und fuhr dann zu Lydgate aufblickend fort:

      »Die entscheidende Stimme soll noch abgegeben werden und diese Stimme haben Sie abzugeben, Herr Lydgate; wollen Sie die Güte haben einen Wahlzettel auszufüllen.«

      »Dann ist die Sache abgemacht,« sagte Herr Wrench aufstehend. »Wir Alle wissen, wie Herr Lydgate stimmen wird!«

      »Sie scheinen mit Ihren Worten etwas Besonderes andeuten zu wollen, Herr Wrench,« sagte Lydgate in einem herausfordernden Tone, mit dem Crayon in der Hand.

      »Ich meine nur, daß wir darauf gefaßt sind, Sie mit Herrn Bulstrode stimmen zu sehen. Betrachten Sie diese Meinung als eine Beleidigung?«

      »Sie ist vielleicht beleidigend für Andere, ich werde mich aber dadurch nicht abhalten lassen, mit Herrn Bulstrode zu stimmen.«

      Und alsbald schrieb Lydgate auf seinen Zettel »Tyke«.

      So wurde der Ehrwürdige Walther Tyke Kaplan am Krankenhause, und Lydgate fuhr fort, mit Herrn Bulstrode zu arbeiten. Er war in der Tat zweifelhaft, ob nicht Tyke der passendere Kandidat gewesen sei, und doch sagte ihm sein Bewusstsein, daß er, wenn er sich von indirekten Einflüssen ganz frei gefühlt hätte, für Farebrother gestimmt haben würde. Die Angelegenheit der Kaplanschaft blieb ein wunder Punkt in seinem Gedächtnis als ein Fall, in welchem die kleine Welt der Interessen von Middlemarch sich zu mächtig für ihn erwiesen hatte. Wie konnte ein Mann sich durch eine Entscheidung befriedigt fühlen, welche er einer solchen Alternative gegenüber und unter solchen Umständen hatte treffen müssen?

      Aber Farebrother trat ihm mit derselben Freundlichkeit wie bisher entgegen. Der Charakter des Zöllners und Sünders ist praktisch nicht immer mit dem des modernen Pharisäers unvereinbar; denn die meisten unter uns haben kaum ein schärferes Auge für die Verkehrtheit ihres eigenen Benehmens, als für die Verkehrtheit ihrer eigenen Argumente. Aber der Pfarrer von St. Botolph trug sicherlich keine Spur von dem Wesen eines Pharisäers an sich und war gerade dadurch, daß er sich selbst den übrigen Menschen zu ähnlich fand, ihnen darin auffallend unähnlich geworden, daß er es Anderen, wenn sie gering von ihm dachten, verzeihen und ihr Benehmen, selbst wenn es ihm ungünstig war, unparteiisch beurteilen konnte.

      »Ich weiß, daß die Welt für mich zu mächtig gewesen ist,« sagte er eines Tages zu Lydgate. »Aber ich bin auch kein bedeutender Mensch, ich werde nie ein berühmter Mann werden. ›Hercules am Scheidewege‹ ist eine hübsche Fabel; aber Prodikus macht dem Helden die Sache leicht, als ob es mit den ersten Entschlüssen getan wäre. Ein anderer Mythus erzählt von Hercules, daß er am Spinnrocken gesessen und schließlich das Nessushemd getragen habe. Ich glaube, ein guter Entschluss könnte einem Menschen zum Beharren auf dem rechten Wege verhelfen, wenn ihm alle seine Mitmenschen dabei behilflich wären.«

      Die Äußerungen des Pfarrers waren nicht immer ermutigend; der Gefahr, ein Pharisäer zu werden, war er entgangen, aber nicht der Gefahr jener zaghaften Unterschätzung des Erreichbaren, zu welcher uns das Scheitern unserer eigenen Pläne nur zu leicht verleitet. Lydgate war der Meinung, daß Farebrother an einer beklagenswerten Willensschwäche leide.

      19

      L' altra vedete ch'ha fatto alla guancia

      Della sua palma, sospirando, letto.

       Dante: Purgatorio

      Es war zu jener Zeit, da Georg IV. noch einsam in dem Schlosse von Windsor hauste, da der Herzog von Wellington Premierminister und Herr Vincy Mayor der alten Stadtcorporation von Middlemarch war, als Frau Casaubon, geborene Dorothea Brooke ihre Hochzeitsreise nach Rom machte.

      Die Welt war in jenen Tagen im Guten wie im Schlimmen noch um vierzig Jahre hinter unserer Zeit zurück. Reisende brachten noch selten eine vollständige Unterweisung über das Wesen christlicher Kunst in ihren Köpfen oder in ihren Taschen mit nach Hause. Die Romantik, welche seitdem dazu geholfen hat, manche öde Lücke mit Liebe und Wissen auszufüllen, hatte die Zeit noch nicht mit ihrem Sauerteig durchdrungen und war noch kein Gemeingut geworden; sie gärte noch als ein bestimmt erkennbarer kräftiger Enthusiasmus in den Köpfen einiger langhaariger deutscher Künstler in Rom, und die jungen Künstler anderer Nationen, welche neben Jenen arbeiteten oder faulenzten, fingen an bisweilen von der umsichgreifenden Bewegung berührt zu werden.

      Eines schönen Morgens hatte ein junger Mann, dessen Haar nicht übermäßig lang, aber voll und gelockt war und dessen übriges Äußere ihn als einen Engländer kennzeichnete, eben dem Torso im Belvedere des Vatikans den Rücken gekehrt und genoß in der anstoßenden runden Halle der herrlichen Aussicht auf das Gebirge. Er war in diesen Anblick so vertieft, daß er es nicht gewahr wurde, wie sich ihm ein schwarzäugiger lebhaft aussehender Deutscher näherte, bis derselbe ihm seine Hand auf die Schulter legte und sagte: »Kommen Sie rasch! sonst verändert sie ihre Stellung.«

      Der junge Mann entsprach der Aufforderung und die Beiden gingen raschen Schritts an dem Meleager vorüber nach der Halle, wo die Ariadne, damals noch Cleopatra genannt, in ihrer wollüstigen marmornen Schönheit, von ihren Gewändern, die sich wie zarte Blütenblätter ihren Gliedern anschmiegen, umhüllt, ausgestreckt daliegt. Sie kamen gerade noch zu rechter Zeit, um einer andern Gestalt ansichtig zu werden, welche an ein Piedestal in der Nähe der Ariadne gelehnt stand, eine lebende, blühende Mädchengestalt, deren von dem schönen Marmor nicht beschämte Formen, von quäkerhaft grauen Gewändern umhüllt waren; ihren am Halse zugehakten Mantel hatte sie so zurückgeworfen, daß die Arme frei waren, und auf die eine unbehandschuhte schöne Hand stützte sie ihre Wange, indem sie den weißen Filzhut, welcher über dem einfach geflochtenen dunkelbraunen Haar ihr Gesicht wie ein Heiligenschein umgab, etwas zurückschob. Sie sah nicht auf die Statue, dachte wahrscheinlich gar nicht an diese, ihre großen träumerischen Augen waren auf einen Streifen Sonnenlicht geheftet, welcher auf dem Fußboden spielte. Als sie aber die beiden Fremden gewahrte, welche plötzlich still standen, als wollten sie die Cleopatra betrachten, brach sie sofort, ohne dieselben anzusehen, auf und ging auf eine Kammerfrau und einen Courier zu, welche in einiger Entfernung in der Halle wartend dastanden.

      »Wie gefällt Ihnen dieser frappante Kontrast?« fragte der Deutsche, indem er in den Zügen seines Freundes den Ausdruck der Bewunderung suchte, dann aber, ohne eine weitere Antwort abzuwarten, rasch fortfuhr. »Da liegt antike Schönheit, selbst im Tode nicht wie eine Leiche, sondern wie im Vollgefühl ihrer sinnlichen Vollkommenheit gebannt, und dicht daneben steht lebendige Schönheit, aus deren Zügen ein christlich übersinnliches Bewusstsein spricht. Aber sie müßte Nonnenkleider tragen, sie sieht beinahe wie eine Quäkerin aus; ich möchte sie als Nonne in meinem Bilde figurieren lassen. Sie ist aber verheiratet, ich habe ihren Trauring an einem Finger ihrer wunderschönen linken Hand bemerkt, sonst würde ich geglaubt haben, der Clergyman mit dem fahlen Gesichte sei