Martha Kindermann

BePolar


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urkomisch, ihre Verschwörung zu beobachten. Als ich näher komme, suchen sie das Weite.

      »Sportunterricht«, schreit Tarik und die Enttäuschung lässt mich erstarren. Haben meine beiden einzigen Freunde diesen wichtigen Tag nicht im Kalender vermerkt? Der siebzehnte Geburtstag ist quasi der letzte Schritt vor dem Erwachsensein. Ein Jahr voller fragwürdiger Entscheidungen bricht an. Aber nein, Sportunterricht ist alles, was ich zu hören bekomme. Toll! Warum hab ich mir heute keine Befreiung wegen Unterleibsbeschwerden geholt? Wäre eine gute Idee gewesen.

      Ich renne den beiden hinterher und schaffe es gerade so vor dem Stundenklingeln in die Turnhalle. Es ist verdächtig still. Shit, in der letzten Schulwoche steht auch noch Leichtathletik auf dem Programm. Verdammter Mist! Es geht eben immer ätzender. Ich hasse an Leichtathletik einfach alles. Ich will nicht in eine Sandgrube springen oder irgendeine dämliche Kugel über eine Linie werfen. Wer braucht so etwas? Meine Laune ist im Keller und ich ziehe mir lediglich die Turnschuhe an und eile ins Außengelände. Den Gesichtsausdruck unseres Sportlehrers kann ich mir bildhaft vorstellen. Er ist ein Vorreiter seiner Berufsgruppe. Wenig trainiert, etwas zu alt für das Lehrerdasein und stets mittelmäßig gelaunt. Ich werde die volle Bandbreite seiner Emotionen zu spüren bekommen.

      Es scheint, die Klasse habe schon begonnen und ich versuche, mich klammheimlich in die Reihe hinter der Sandgrube zu stellen. Mist, er ist doch nicht so blöd, wie er aussieht.

      »Fräulein Roth, vortreten!«, ruft er in strengem Ton. Ich hasse mein Leben, ich hasse diesen Tag, die Gesichter der anderen und in diesem Moment am allermeisten meinen zurückgebliebenen Lehrer mit der grauenhaften Aussprache. »Roya, Sie sind doch schon wieder nicht pünktlich zum Unterricht erschienen. Letzte Chance für Sie, das Ruder in eine andere Richtung zu lenken. Bitte beginnen.« Ich würde ihn am liebsten Packen und ihm jedes seiner entsetzlichen Worte noch einmal in einer erträglichen Lautung diktieren. Aber dafür bleibt keine Zeit und ich laufe, innerlich kochend, auf ihn zu. Danke Freunde, dass ihr mich an meinem Geburtstag so hängen lasst.

      Ich mache mich an der Startlinie bereit und warte auf das Signal. Der Vollpfosten nimmt seine quietschgrüne Trillerpfeife an den Mund und auf einmal stimmt die ganze Klasse ein Geburtstagslied an. Mein Lehrer macht sich vor Lachen wahrscheinlich gleich in seine Jogginghose. Sie singen das Lied mit dem großen Mühlsteinkuchen. Gibt es eigentlich keine Alternative für eine Siebzehnjährige? Egal, die Überraschung ist ihnen gelungen, auch wenn ich vor Scham beinahe in der Sandgrube versinke. Was mir nach dem Ständchen natürlich nicht erspart bleibt, ist die Ehre, die erste Springerin zu sein und wie erwartet, unterirdisch abzuschneiden. Manches ändert sich eben nie.

      Nach neunzig Minuten Plackerei, zwei Stunden langweiligstem Biounterricht und einem Film über den Mondschatten bin ich die Erste, die die große Schultür hinter sich lässt. Mama hat eine kleine Party in unserem beschaulichen Garten mit einer beschaulichen Anzahl an Gästen geplant und ich möchte unbedingt Teil des Vorbereitungsteams sein.

      Gegen siebzehn Uhr trudeln meine Großeltern, Cousins, Tanten und, dem Himmel sei Dank, auch Fenja und Tarik ein. Der Rest der Familie wohnt einfach zu weit entfernt, um für solch einen Anlass Zeit zu finden. Gut so.

      Ich bin wunschlos glücklich, trinke Bowle, esse Papas herrliche Lammsteaks und diskutiere mit Fenja und Tarik die Sommerferienplanung.

      Pünktlich Zweiundzwanzig Uhr kündigt Oma ihr Gehen an und läutet das Ende der Party ein. Kein Problem, ich bin vollgestopft bis oben hin und freu mich auf mein Bett in einem fantastischen Dachbodenzimmer.

      Als alle aus dem Haus sind und die Küche wieder glänzt, sind genau dreiundfünfzig Minuten vergangen und ich bin hundemüde.

      »Der erste Traum in einem neuen Zuhause geht in Erfüllung«, flüstert mir meine Schwester auf dem Weg nach oben ins Ohr. Na die ist gut, ich bin doch keine zehn mehr. Rhea hat mir verraten, dass es ihre Idee war, die Eltern zum Ausbau des Dachbodens zu überreden. Nicht ganz uneigennützig, wie ich finde. Sie darf das freie Zimmer zum Labor oder was auch immer umfunktionieren. Rhea studiert Medizin und möchte, wenn sie groß ist, Hirnforscherin werden. Ich denke, sie rettet irgendwann die Welt, das werde ich ihr nur oft genug sagen müssen. Sie ist ein tolles Vorbild, obwohl wir unterschiedlicher kaum sein könnten. Das geht schon beim äußeren Erscheinungsbild los: Ich komme optisch mehr nach meinem Vater. Die grauen Augen und das braune Haar habe ich von ihm, den großen Mund und die winzigen Ohren von meiner Mum. Dass ich so klein geraten bin, ist wohl auch ihr Verdienst. Rhea hingegen ist groß, blond, attraktiv und trägt die überdimensionale Nerdbrille nur, um ihre Klugheit zu unterstreichen. Sie war schon als Kind ein Überflieger und ist trotzdem stets ein nettes, sympathisches Mädchen geblieben. Das Einzige, was ich echt nicht ausstehen kann, ist ihr schrecklicher Geschmack, wenn es um Kleidung geht. Pastelltöne, Rüschen, Blusen und Strickjacken. Immer und überall Strickjacken. Wie eine alte Jungfer zieht sie sich an. Gut, dass sie als Ärztin zum Kittel tragen gezwungen ist, sonst würden die Patienten reihenweise aus den Zimmern flüchten und schlagartig genesen.

      Mein Bett, es kommt immer näher. Papa hat es unter die Dachfenster gestellt und somit hängen die Tücher symmetrisch an beiden Seiten des Metallgestelles hinunter. Es sieht wunderschön aus. Es klopft und Rhea steht in der Tür.

      »Ich habe dir noch gar nicht mein Geschenk gegeben«, platzt sie heraus, holt ein großes dünnes, rundes Etwas hinter ihrem Rücken hervor und hängt es zwischen die Fenster über das Bett. Es vereinigt viele Blautöne in sich und ist mit schimmernden Perlen, Muscheln, abgerundeten Glasscherben, Federn und gedrehten Silberdrähten verziert. »Ein indianischer Traumfänger. Er fängt die guten Träume ein und lässt die Bösen durch.« Hübsch. Wenn man es dreht, bricht sich das Licht in den winzigen Glasstücken und funkelt magisch. Ich gebe meiner Schwester einen Kuss auf die Wange und schiebe sie dann aus dem Zimmer.

      »Danke, das ist sehr lieb von dir! Doch nun muss ich ihn ausprobieren und dafür brauche ich Schlaf. Gute Nacht.« Ohne Widerworte schließt Rhea die Tür und überlässt mich der Dunkelheit. Ich schlüpfe schnell in Top und Buxe und krieche unter die Bettdecke. Es ist viel zu warm für Daunenfedern, aber ohne könnte ich kein Auge zu tun.

      Ich lasse eine Weile den Blick durch die Kammer schweifen und stelle mir vor, was dieses Zimmer in den nächsten Jahren so erleben wird oder wen es vielleicht dulden muss. Schließlich habe ich nicht vor, alt und allein zu sterben. Ich ziehe die Jalousien an den Fenstern zu und erfreue mich an dem kleinen Spalt, der offenbleibt und das Licht der Straßenlaterne hinein lässt. Wenn ich mich jetzt in die richtige Position bringe, zaubert mein Traumfänger zarte Wellen an die Wand neben der Tür. So muss es unter der Meeresoberfläche aussehen. Ich mache die Augen zu und…

      Tag 1

      Tut, tut, tut… dieses dämliche Ding, ich werde es – wo ist mein Wecker hin? Wo ist mein kleiner, weißer Nachttisch mit den Perlmuttknöpfen hin? Wo ist alles hin? Wo bin ich?

      Ich liege in einem sterilen Raum ohne Fenster und das Licht der Neonröhren brennt in meinen Augen. Die Matratze unter mir ist steinhart und das Kissen in eine Gummihülle geschlagen. Alles hier wirkt kühl und ungemütlich.

      Rumms. Das klang, als sei jemand aus dem Bett gefallen.

      »Keine Angst«, höre ich es aus der anderen Ecke des Zimmers, »das passiert mir öfter.« Ein schlaksiges Mädchen mit blondem Lockenkopf und unzähligen Sommersprossen kommt auf mich zu und streckt mir ihre Hand entgegen. Sie ist ungefähr in meinem Alter und wirkt sehr nervös. »Ich bin Caris, hi. Komm, ich nehme dich gleich mit.« Bitte was? Caris? Klingt irgendwie nach Zahnarzt. Und sie will mich mitnehmen? Wohin? Ich stehe vom Bett auf und sehe an mir herunter. Schrecklich! Wo sind meine Lederjacke, die viel zu großen Jeans und die durchgelaufenen Schnürstiefel? Stattdessen trage ich, genau wie Caris, einen schlichten, grauen Overall und weiße Sneaker. Meine Brille ist verschwunden und das Haar ungewohnt zu einem Dutt gebunden. Was hat sie nur vor mit mir? Muss ich auf einer Baustelle arbeiten und bekomme gleich noch Handschuhe und eine Schweißerbrille verpasst? Ich verspüre, ehrlich gesagt, nicht den Drang nach körperlicher Arbeit. Weiterschlafen, das wäre eine fantastische Idee! Viele Fragen sausen durch meinen Kopf, doch Caris zerrt mich weiter.

      Im