Martha Kindermann

BePolar


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Moment abheben und doch ist er der mutigste Ritter aus unseren Reihen und wagt sich auf unbekanntes Terrain.

      Mit kleinen, vorsichtigen, fast tänzelnden Schritten nähert er sich dem Ufo und setzt einen Fuß auf die Scheibe. Als er den anderen hinterherziehen will, beginnt sich der Untergrund wie wild zu drehen und Kuno landet auf dem Hinterteil. Im gleichen Augenblick beginnt Ceyda zum Leben zu erwachen. Wie ein Roboter nimmt sie all ihre Körperteile wieder in Gang und scannt die Gruppe auf fehlende Personen. Kuno geht wie ein begossener Pudel zurück in die Reihe und hält sich den Po. Die anderen Jungs klopfen ihm anerkennend auf die Schultern, obwohl es ihnen vor Lachen kaum möglich ist.

      »Guten Abend, ihr Lieben«, meldet sich die Fee auf Rollschuhen zu Wort und klappt mit einem kurzen Drücker die Visiere ihrer Sonnenbrille nach oben, ohne Kunos peinlichen Auftritt mit nur einer Silbe zu erwähnen. Hut ab. »Mein Name ist Fräulein Hammerschmidt, aber nennt mich ruhig Ceyda.« Ihre Stimme strahlt eine solche Wärme aus, dass man sie sofort ins Herz schließen muss. »Ich bin eure Ansprechpartnerin in allen Gefühlsfragen, koordiniere die Stundenpläne, teile Arbeitsgruppen ein, bin als Studienberaterin tätig oder werte diverse Arbeiten aus. Wie ihr seht, mag ich technische Spielereien, was es euch ermöglicht, mich rund um die Uhr zu erreichen. Ein Klick, ein Drücker, ein Piep – egal, ich bin schneller zur Stelle, als ihr ›Hilfe‹ rufen könnt.« Sie lockert ihre Knie und fährt ein paar Mal hin und her, um allen ihre Ausrüstung präsentieren zu können. Walky Talkys, Tablets in Mini, Midi und Maxi, ein Babyphon mit Videoanzeige, ein Pieper, Stethoskop, Nachtsichtgerät, Taschenlampe, Lupe, Messer, Schuhanzieher. All das holt sie aus ihren Taschen, klappt es aus ihren Schuhen oder lässt es einfach erscheinen. Der Wahnsinn. In meinem Kopf dreht sich alles.

      »Jeder von euch verfügt über ein personalisiertes Tablet, mit welchem ihr problemlos mit mir in Kontakt treten könnt. Die Wunder der Technik zeigen mir auch zu jeder Zeit, wo ihr euch aufhaltet und ob eure Vitalfunktionen im Normbereich angesiedelt sind. Letzteres war natürlich ein Spaß!!!« Sie lacht herzlich. So eine Frau wird in dieser leistungsorientierten Bildungsstätte sicher viel zu tun haben.

      »Die große Halle – Dreh- und Angelpunkt der Akademie.« Sie hebt die Hände beim Fahren anmutig in die Höhe und animiert uns dazu, die Schönheit des Raumes zu bestaunen. Hohe weiße Wände, das wunderschöne Farbenspiel des Glasdaches, die Endlosigkeit der Flure – es ist ruhig und friedlich hier, wenn auch etwas zu trist für meinen Geschmack. »Womöglich kommt euch alles trist und farblos vor.« Meine Worte – seltsam. Sofort stellen sich bei mir die Armhaare auf. »Dies zu ändern wird eure erste Aufgabe sein. Die Einrichtung ist recht karg«, wohl eher gar nicht vorhanden, »aber ihr strotzt vor Innovationen, um mit ein wenig Farbe und neuem Mobiliar den Ort zu eurer ganz persönlichen Oase zu machen.« Das kann ja heiter werden. Ich nehme gern den Pinsel in die Hand und habe auch kein Problem, mir die Finger schmutzig zu machen, das ist nicht der Punkt. Pinke Farbe im Eimer, um den anderen Mädels ein gemütliches Heim zu schaffen, stört mich allerdings sehr. Caris wirft mir einen unsicheren Blick zu. Vermutlich teilen wir uns diesen Gedanken.

      »Neben der Tür befindet sich eines unserer Terminals. Diese verfügen über verschiedenste Funktionen, welche ihr zu gegebener Zeit kennenlernen werdet. Erster Punkt im Menü: ›Design‹. Jeder Schüler darf die eigenen Entwürfe speichern und nach Belieben abrufen.« Ein Raunen geht durch die Reihen und ich sehe in weit aufgerissene Augen, soweit ich blicken kann. Caris greift meine Hand.

      »Puh, Glück gehabt, Roya. Ich dachte schon, wir müssen uns alle einigen – eine Horrorvorstellung! Aber so – wie cool. Ich brauche auf jeden Fall Lavalampen, Palmen und einen großen Liegestuhl.« Das sind tolle Ideen und ich hätte auch nichts dagegen, sofort mit den Skizzen zu beginnen, wäre da nicht Ceyda und ihre Bemühungen, den gackernden Hühnerhaufen zum Schweigen zu bringen. Das kann nur eines bedeuten – der fröhliche Teil kommt später.

      »Ihr dürft euch wieder beruhigen, denn bis morgen Nachmittag bleibt genügend Zeit, um sich der Aufgabe zu widmen.« Sie klappt die Visiere der Brille herunter und wieder hoch und schielt auf ihr Klemmbrett. Dann zerreißt sie die obere Notiz, zerknüllt das Papier und wirft sie gekonnt in den Papierkorb hinter uns. Seltsam, ich könnte schwören, dass hier vorher kein Papierkorb stand.

      »Liebe Schüler, wir setzen unsere Reise fort. Bitte findet euch auf dem Ascenseur ein!« Ah, so heißen also diese Ufo-Scheiben-Fahrstühle. Kann man ja kaum aussprechen. Ich trete selbstsicher zu Ceyda und ernte dankbare Blicke meiner Mitschüler. Nicht alle hatten ihre Anweisung verstanden. Hoffentlich bemerkt keiner, dass ich gerade um einige Zentimeter gewachsen bin.

      Der ›Ascenseur‹ nimmt Fahrt auf und befördert uns ins Untergeschoss der Einrichtung. Ich verspüre einen kalten Luftzug und ein Schauer läuft mir über den gesamten Rücken. Wenige Sekunden später sind wir am Ziel. Die Decken hier unten sind niedrig und die Beleuchtung dürftig. Die gefliesten weißen, sterilen Wände erinnern mich mehr an eine pathologische Einrichtung als an Forschungsräume einer elitären Schule. Vor uns liegt ein langer Gang, der sich im Grundriss kaum von den Zimmerfluren unterscheidet. Zwei Türen zur linken, zwei Türen sowie eine große Stahltür zur rechten und am Ende des rechten Ganges die Pforte zu einem Theatersaal, Aula oder ähnlichem – nehme ich an.

      »Die Klassenzimmer. Ihr dürft gern hineinschauen. Wir treffen uns in zehn Minuten wieder hier.« Ihre Worte sind kaum verklungen, als sich die Klasse bereits in alle Winde zerstreut hat. Caris zieht mich in das erstbeste Zimmer. Ich habe keine Ahnung, welcher Unterricht in diesem Raum stattfinden soll. Die größte Wand besteht vollständig aus Spiegeln und in der Mitte führt ein langer Steg auf diesen zu. An den Seiten sind vier Bänke mit je zwei Stühlen positioniert und in der hinteren Ecke versperrt eine milchige Glaswand die Sicht auf eine Hintertür.

      »Oh, ein Laufsteg.« Caris schlägt die Hände vor's Gesicht und geht leicht in die Knie. Sie berührt vorsichtig die Wände, die Bänke, die Spiegel, die Milchglaswand und kommt völlig verzaubert wieder bei mir an. Ihre Augen leuchten und es macht den Anschein, als sei ihr größter Kindheitstraum soeben erfüllt worden – ein Laufsteg, was wenn sie recht hat? Ich nahm an, unser Ziel sei es, Teil der Regierung zu werden und nicht, den Titel Miss Polar zu ergattern. Ich hoffe, dass sie sich irrt. Ich hoffe, dass sie sich irrt. Ich hoffe stark, dass sie sich irrt. So – drei Wiederholungen sollten genügen! Auf Highheels und Hochsteckfrisuren lege ich nicht sonderlich viel Wert. Die Vorstellung daran, wie sich meine männlichen Mitschüler in diesem Unterrichtsfach schlagen würden, bringt mich allerdings zum Schmunzeln.

      Ich reiße Caris aus ihrem Dornröschenschlaf und schiebe sie auf den Gang und ab ins nächste Zimmer. Hier drinnen bekomme ich sonst nur Beklemmungen.

      Aus dem Nachbarraum sind laute Stimmen zu vernehmen und wecken meine Neugierde. Die Tür ist von innen verstellt, also klopfe ich an und wir werden hineingelassen. Zwei Jungs stehen auf einem mattierten Boden und machen sich kampfbereit. Sie sind barfuß und haben die Hosenbeine nach oben geschlagen. Der Größere von beiden, ein muskulöser Sunnyboy mit blonder Surferfrisur, lockt seinen Gegner mit der Hand und kassiert den ersten Fausthieb. Er wehrt sich und schmückt den Angreifer mit einem stattlichen Veilchen. Endlose Minuten vergehen, in denen Schläge ausgeteilt und Tritte eingesteckt werden. Als der kleine Dunkelhaarige mit den Tunneln in den Ohren zu Boden geht und das Handgemenge beendet, stürzen drei Mädchen ängstlich auf die Matte und alle anderen verlassen das sinkende Schiff auf schnellstem Wege.

      Kuno lehnt an der Tür und hält die Hände zu einer Schale geformt.

      »Ein kleiner Obolus für die Helden des Rings?« Er grinst breit und schließt sich dem Zug der Flüchtenden an. Dann wendet er und steckt seine unverkennbare Visage erneut durch die Tür.

      »Spar deine Kräfte Henner, der nächste Gegner wird dir nicht einen ganzen Kopf unterlegen sein.«

      »Nimm den Mund nicht so voll, Kuno! Ich werde nämlich darauf zurückkommen. Ein Zahn weniger ständ dir gut zu Gesicht!« Kuno verschwindet.

      Die drei Mädchen haben sich mittlerweile um den Sieger versammelt und helfen ihm auf die Beine. Henner, wie ich ja nun weiß, nutzt sein schauspielerisches Talent, um den Ladies ernsthafte Verletzungen vorzuspielen. Ein Mädchen mit roten Haaren und riesigen Lippen kommt ihm ungebührlich nah und zieht neidvolle