Martha Kindermann

BePolar


Скачать книгу

Kargheit unseres Zimmers setzt sich hier draußen fort. Keine Fenster, keine Pflanzen, nur tristes Grau und das künstliche Licht der Lampen. Einige Meter weiter erscheint eine Öffnung in der Wand und spuckt, im wahrsten Sinne des Wortes, schwarze Pakete aus. Bei näherer Betrachtung handelt es sich um schlichte Lederrucksäcke, die einem jedem Mädchen in die Arme geschossen werden, sobald es die Markierung vor dem Schlund passiert. Ich tue es den anderen gleich und hänge mir den Rucksack über die Schulter. Eine breite Flügeltür wird wie von Geisterhand aufgestoßen und lässt die Mädchen erstarren. Auf der gegenüberliegenden Seite der angrenzenden Halle geht eine identische Tür auf und gibt den Blick auf eine Horde Jungs in grauen Overalls frei. Die beiden Gruppen begrüßen sich mit einem Kopfnicken und warten.

      In der Mitte des unendlich hohen Raumes wird ein großer Kreis sichtbar, welcher sich langsam in Bewegung setzt und wie ein Ufo abhebt. Alle rennen los um einen Platz auf der fahrenden Scheibe zu ergattern und ich muss wohl oder übel mit. Fahrstühle sind normalerweise nicht so mein Ding – zu eng, zu ausweglos, zu undurchdringlich, aber das hier hat etwas Aufregendes. Ich nehme Anlauf und hechte hinter Caris auf den fliegenden Teppich.

      Mittlerweile sind fünfzehn Jugendliche aufgesprungen und blicken dem Kommenden entgegen. Was geschieht hier? Ich spüre einen kalten Luftzug und über uns erscheint ein rundes Glasdach. Diese Muster kenne ich – ich kann sie nur nicht zuordnen.

      Die Scheibe stoppt. Ich schwanke, doch halte mich gerade so am Boden, ohne peinlich aufzufallen. Hier oben duftet es nach Mandelbäumen und durch die unterschiedlich getönten spitzen Fensterscheiben, welche die Dachkuppel zieren, kann die Sonne ein wunderschönes Farbenspiel auf den weißen Untergrund zeichnen. Über eine geländerlose Brücke gelangen wir in ein gläsernes Zimmer und verteilen uns unaufgefordert auf die vorhandenen Tische, welche in zwei Halbrunden aufgestellt sind. Caris und ich wählen die goldene Mitte und nehmen Platz. Sind wir in einer Art Schule? Das wunderbare Licht und der herrliche Duft deuten nicht im Geringsten darauf hin und doch blicken die Jungs und Mädchen so erwartungsvoll drein, als stehe die Zeugnisausgabe bevor.

      Ich nehme ein leises Surren wahr und schon erscheinen an der gegenüberliegenden Seite des Raumes zwei kreisrunde Löcher im Boden.

      »Wie viele von diesen fahrenden Dingern gibt es hier noch?«, frage ich meine Banknachbarin und lehne mich vorsichtig zu ihr hinüber.

      »Das war es dann, glaube ich, aber sieh hin, diese Gestalten werden darüber entscheiden, ob dein Aufenthalt hier der Himmel oder die Hölle für dich wird.« Ich schaue sie entsetzt an und wage es kaum, meinen Blick ins Unbekannte zu richten. Zur Linken erscheint eine Frau um die fünfundfünfzig mit weißem Kittel und Klemmbrett unter dem Arm. Ihre Frisur ist mehr als merkwürdig und sie trägt eine kleine goldene Brille an einem Band um den Hals. Müsste ich sie mit einem Tier vergleichen, wäre es wohl ein schwerfälliges Tapir mit Sehbehinderung. Auf der rechten Seite steht ein großer, sportlicher Mann mit stechend blauen Augen, einer braunen Haartolle und einem unwiderstehlichen Lächeln. »Valentin Moreno. Ist er nicht hinreißend?« Ich glaube, Caris läuft ein wenig Spucke aus dem Mund. Er ist vielleicht Anfang dreißig, trägt ein weißes Poloshirt mit aufgestelltem Kragen und sieht im Kittel einfach umwerfend aus. Möglicherweise tropft auch mir der Zahn. Ältere Männer haben mich noch nie interessiert, aber eine kleine Schwärmerei sollte erlaubt sein.

      Als die ganze Gruppe zu tuscheln beginnt, erwachen wir aus unseren Träumen. Der Typ hebt die Hand und es wird mucksmäuschenstill.

      »Guten Morgen die Damen«, begrüßt er uns. Alle kleben an seinen Lippen. »Einige von euch sitzen das erste Mal in unserem Atelier und erhoffen sich sicherlich aufschlussreiche Erklärungen.« Das kann man wohl sagen. Die fahrenden Scheiben, die fehlenden Fenster und vor allem diese Veranstaltung schreien es geradezu heraus. »Willkommen den Ministern von morgen.« Ja klar, genau so hab ich mich immer gesehen. Ich, das nette Mädchen von nebenan in einem klassischen Kostüm, mit spießigem Dienstwagen und Chauffeur – noch ein Witz? »Meine Kollegen und ich beschäftigen uns seit langem mit der Auswahl der richtigen Kandidaten für eine unkonventionelle Studie. Ein wissenschaftliches Pilotprojekt in dem ihr optimal auf den Kampf um die begehrten Sitze im Regierungspalast vorbereitet werden sollt. Ihr arbeitet massiv an euren Soft Skills und wir versprechen euch einen Platz an der Tafelrunde. Dies wird euch alle Kraft und Nerven kosten, aber glaubt mir, uns auch.« Sein Lächeln ist wahrlich ansteckend. Die meisten der anderen sehen verdattert in die Runde. Einige geben sich ein High five und der Rest träumt weiterhin von einer verlassenen Bank im Mondschein an der Seite von Herrn Mo-re-no.

      »Frau Prof. Dr. Pfefferhauser wird euch nun einen kurzen Einblick in den künftigen Stundenplan geben.« Die Dame im weißen Kittel scheint abwesend und starrt auf die Brücke hinaus. »Adaliz, alles in Ordnung?« Moreno geht einige Schritte auf sie zu. Sie zuckt, schüttelt ruckartig ihren Kopf und schaut ihn treudoof an.

      »Entschuldigung, wie bitte?«, bringt sie ihm mit ihrer unerwartet tiefen, kratzigen Stimme entgegen. Er flüstert ihr etwas ins Ohr. »Ja gut«, die Professorin hustet, als hätte sie gerade zwei Schachteln Zigaretten geraucht und beginnt ihren Text monoton abzuspulen, ohne dabei Punkt oder Komma zu verwenden.

      »Mein Name ist Frau Prof. Adaliz Pfefferhauser und ich werde bis zum Ende Ihrer Zeit hier die Ausbildungsleiterin sein, nicht Ihre liebe Freundin, bei der Sie sich ausheulen können, dazu haben wir kompetentes Personal, sondern Ihre Ausbildungsleiterin. Ich unterrichte Psychologie und Mentalismus und erhoffe mir herausragende Leistungen.« Bei diesen Worten setzt sie ihre kleine, goldene Brille auf die Nase und nimmt das Klemmbrett zur Hand. »Analytisches Denken, Konfliktlösung, Politikwissenschaft, Geschichte, Rhetorik, Nahkampf und Stilsicherheit – diese Kurse werden den Großteil Ihrer kostbaren Zeit fressen.« Klingt doch super spannend – Kampftechnik, Hammer! Das Wort ›Rhetorik‹ verursacht hingegen erste Ekelpickel um meine Mundpartie, natürlich nicht im wörtlichen Sinne. Die Kunst des freien Sprechens habe ich noch nie gut beherrscht. Ich lasse die Worte lieber so herausfließen.

      »In Ihren Rucksäcken befindet sich ein Tablet mit Ihrem Zeitplan, welches stets zu den Unterrichtseinheiten mitgebracht werden sollte. Die Geräte sind personalisiert und somit nur von ihrem Besitzer in Gang setzbar, verstanden?« Die Klasse nickt. »Ein vierstufiger Gong wird Sie an das erste Treffen mit unserer ›Guten Seele‹ Fräulein Hammerschmidt in der großen Halle erinnern und ich bitte um Pünktlichkeit. Sie wird alles Weitere erklären und Ihnen die Räumlichkeiten des Hauses zeigen. Danke.« Sie klemmt ihre Aufzeichnungen unter den Arm, setzt die Brille von der Nase und grinst Herrn Moreno künstlich an, als erwarte sie ein Dankeschön für ihre Ansprache – vergeblich.

      »Willkommen in der Akademie und eine gute Zeit!« Das sind Morenos letzte Worte, bevor die Fahrstuhlscheibe die Beiden im Boden verschwinden lässt. Akademie? Vierstufiger Gong? Wann? Wo? Meine Mitschüler springen beinahe panisch auf und verlassen das Atelier. Da ich keinen blassen Schimmer habe, was als Nächstes zu tun ist, folge ich der Meute unauffällig. Das Ufo setzt sich in Bewegung und das Signal erklingt.

      Orientierungslos

      Dring, dring, dring. Stopp, das waren nur drei Stufen und sie hörten sich auch nicht nach einem Gong an – eher wie ein – Wecker! Ich richte mich ruckartig auf und streife mit dem Kopf die Federn des Traumfängers über meinem Bett. Was für ein skurriler Traum. Ich reibe den Sand aus den Augen und fahre mir mit der Hand über den Nacken. Erholsamer Schlaf ist etwas anderes. Ganz benebelt steige ich in meine Hausschuhe und rutsche auf den Fußboden. An Aufstehen ist noch nicht zu denken, also genehmige ich mir ein paar Sekunden Ruhe. Ich schließe die Augen, konzentriere mich auf die Atmung und lasse die weichen Haare des Teppichs durch meine Finger gleiten. So lebhaft hab ich noch nie geträumt. Gut, dass ich nicht abergläubisch bin, sonst würde ich Rheas Worten womöglich Glauben schenken, was die Erfüllung des ersten Traumes im neuen Bett angeht.

      Ich drehe den Kopf zu beiden Seiten, um die Nackenmuskulatur wieder in Gang zu bringen, klopfe meine Wangen wach, ziehe frische Sachen an, drehe einen Knoten in die Haare und schnappe die Schultasche – startklar.

      Papa sitzt bereits am Frühstückstisch und liest die Zeitung. Mama bringt die Kanne und gießt ihm seinen