der Schule steigen wir aus und rennen so schnell wir können nach Hause, um nicht entdeckt zu werden. Ich hoffe, meine Ma schreibt mir eine Entschuldigung, denn die Lust auf Schule ist uns nach diesem Ausflug gründlich vergangen.
Da Fenja die Einladung zu einem Aufwärmkakao bei mir dankend abgelehnt hat, trete ich allein den Heimweg an. Nass, traurig und völlig am Ende.
Im Haus angekommen, sehe ich Rheas Ökolatschen auf dem Abstreicher stehen und mich überkommt ein freudiges Gefühl. Vielleicht habe ich Glück und sie nimmt sich ein paar Minuten Zeit für mich.
»Rhea?«, rufe ich nach oben. Wenige Sekunden später öffnet sich im Obergeschoss eine Tür und Schritte im vertrauten Laufrhythmus kündigen ihre Ankunft an.
»Sag mal, hast du keinen Schirm? Zieh mal schnell dein Zeug aus. Mama wird wahnsinnig, wenn du die Bastmatte durchnässt.« Sie steht mit verschränkten Armen vor mir und weiß, dass sie recht hat. »Geht es dir gut, Süße? Irgendwie siehst du kränklich aus.« Vorsichtig befühlt sie meine Stirn, ohne sich nass zu machen.
»Ich bin gesund und ja, den Schirm hab ich vergessen. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Tarik hatte einen schweren Autounfall und liegt auf der ITS im Koma.« Die Worte schießen wie auf Kommando aus meinem Mund, als hätte ich sie schon tausend Mal wiederholt.
Rhea kommt einen Schritt näher und legt die Arme um mich. So bleibe ich zwar nass, aber es tut gut, gehalten zu werden.
»Sie ließen uns nicht zu ihm, es ist echt unfair.« Sie zieht mich fester an sich heran und drückt ihre Wange an meine triefenden Haare. Nun sind wir beide pitschnass und Mamas Bastmatte muss dafür büßen.
»Komm, ich mach Kakao und dann erzählst du mir alles. Willst du Vanilleeis rein?« Oh ja, das ist ein sehr gutes Trostpflaster. Ich nicke ihr zu und flitze in mein Zimmer, um mir trockene Sachen anzuziehen.
Rhea hat eine Duftkerze angezündet, sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa und popelt Dreck aus ihren Fingernägeln. Das Gewitter hat den Himmel verdunkelt und so ist es im Wohnzimmer richtig gemütlich. Mir ist eher nach Tee zu Mute und ich würde mich liebend gern in eine Decke kuscheln, aber das Thermometer zeigt schwülwarme dreiundzwanzig Grad, was wiederum für die Eisschokolade spricht.
»Auf Anfang, erzähl!« Rhea schnappt sich ihr Glas und rutscht ganz nach vorn an die Sofakante, um mich schnell trösten zu können. Ich berichte ihr vom Park, von dem Auto und Tariks Hacky Sack, dass er nun im Koma liegt, weil er eine Gehirnschwellung hat und dass wir im Moment nur abwarten können.
Meine Schwester senkt den Kopf und überlegt. Es vergehen einige Schweigeminuten, bevor ich sie anspreche.
»Rhea«, ich versuche, nicht all zu verzweifelt zu klingen, »könntest du dich im Krankenhaus ein wenig umhören und mir dann in der Dummievariante erklären, was es mit dieser Gehirnschwellung auf sich hat? Wenn ich es verstehe, kann ich seiner Familie am besten helfen. Irgendwas muss es für mich zu tun geben. Ich werde auf keinen Fall hier herumgammeln, in Selbstmitleid ertrinken und warten, bis Fenja völlig den Verstand verliert.« Meine Augen werden feucht und es kann nicht mehr lange dauern, bis – scheiße, es ist einfach zu scheußlich. Dann heule ich eben. Ganz egal, ich werde heulen, bis ich keine Tränen mehr habe. Warum Tarik? Meine Wangen sind heiß, doch daran sind nicht die Tränen schuld. Wut steigt in mir auf und bringt mich im wahrsten Sinne des Wortes zum Kochen. Ich muss diesen Autofahrer aufspüren und zur Rede stellen. Wie kann man nur so fahrlässig sein und einen Jungen über den Haufen fahren, der sein ganzes Leben noch vor sich hat. Ich hoffe, die Gewissensbisse bringen ihn um den Schlaf. Nein, in Wahrheit wünsche ich ihm schreckliche Krankheiten und – doch ich komme gar nicht mehr zum Nachdenken. Rhea stellt ihr Glas auf den Couchtisch und geht vor mir auf die Knie.
»So, jetzt beruhige dich erst einmal, Süße.« Sie tätschelt mein Knie und nimmt mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Niemand kann dir die Frage nach dem Warum beantworten, am wenigstens ich. Hier sind höhere Mächte am Werk.« Ich sehe in ihre grünen Augen und lasse mich überzeugen. »Tarik wird nicht gesund, in dem du Vergeltungsschläge planst.« Manchmal ist Rhea wirklich gruselig oder sie kennt mich einfach zu gut. »Es ist unklar, ob Komapatienten ihre Umgebung wahrnehmen können, aber das Gegenteil hat auch noch kein Wissenschaftler bewiesen. Also halte seine Hand, spiel ihm gute Musik vor oder sei in Gedanken bei ihm. Egal, es spielt keine Rolle. Sei eine Freundin. Für alles andere hat er Ärzte und die Familie. Vertrau mir einfach, sie tun ihr Bestes. Jeden verdammten Tag.« Mit gequältem Blick schiebt sie sich zurück aufs Sofa. »Aua, die Knie sind eingerostet.« Ich muss schmunzeln. Meine Schwester schafft es, auch in ausweglosen Situationen die Laune zu heben. »Ich kümmere mich, versprochen. Morgen weiß ich mehr und ich werde auch Entin mit ins Boot holen, wenn das für dich in Ordnung ist.« Ohne darüber nachzudenken, willige ich ein.
»Es ist mehr als in Ordnung. Danke!« Ich schmiege mich an sie und wir schalten den Fernseher ein. Um diese Uhrzeit ist dies keine gute Option, aber es sorgt für Ablenkung.
»Abendbrot!«, die Stimme meiner Mutter erklingt in unmittelbarer Nähe. Ich öffne die Augen und sehe die Essensglocke direkt vor dem Gesicht hin und her baumeln. Ich liege auf dem Schoß meiner großen Schwester und unsere zerknautschten Gesichter gleichen einander wie ein Ei dem zweiten. Wir sind wohl eingeschlafen. Mama schaltet die Glotze ab und malt mit ihrem Zeigefinger eine imaginäre Uhr auf ihr Handgelenk. Sechs Uhr – Abendbrotzeit. Pünktlichkeit wird in unserer Familie großgeschrieben, vor allem, wenn es um die Mahlzeiten geht.
Beim Essen herrscht betretenes Schweigen. Mama stiert ununterbrochen auf ihren Teller, Papa hält sich die Tageszeitung vors Gesicht und Rhea gibt vor, aus dem Fenster zu schauen, während sie mich beobachtet. Egal, wie seltsam die Situation für einen Außenstehenden wirken mag, ich bin dankbar, die Geschehnisse des Tages nicht schon wieder aufwärmen zu müssen.
Nachdem der Tisch abgeräumt und die Spülmaschine bestückt ist, verabschiede ich mich. Noch bevor der gemütliche Teil des Abends beginnt, flüchte ich in mein Zimmer, um den anderen den mitleiderregenden Anblick zu ersparen. Keine zehn Minuten später liege ich mit verquollenen Augen im Bett und lösche das Licht. Meine Gedanken sind bei Tarik, seiner Familie und Fenja. Wenn ich ihnen allen diese Nacht nur ein wenig erträglicher machen könnte. Leider verfüge ich weder über eine Zeitmaschine, um den Unfall in der Vergangenheit zu verhindern, noch habe ich ein Allheilmittel gegen schwere Kopfverletzungen oder große Traurigkeit. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als in den Schlaf zu finden und all meine Daumen ganz fest zu drücken.
Tag 3
Das grelle Weiß der Neonlampen brennt in meinen Augen und ich brauche einen sehr langen Moment, um sie zu öffnen. Rumms – klar, ich weiß, wo ich mich befinde.
»Caris, ist alles okay bei dir?«, rufe ich in die andere Ecke des Raumes. Sie liegt, wieder einmal, vor ihrem Bett mit dem Gesicht auf dem Boden.
»Bestens, ich habe nur den Dreh noch nicht so ganz raus.« Von welchem ›Dreh‹ sie da faselt, ist mir zwar schleierhaft, aber heute gibt es Wichtigeres zu erledigen: die Terminals. Es ist eine einzigartige Gelegenheit, die wir unter keinen Umständen aufschieben können. Den groben Plan für die Gestaltung der großen Halle habe ich bereits in meinem Kopf und hoffe nun, dass die Grenzen der Technik mir nicht im Wege stehen. Da fünfzehn verschiedene Versionen unseres Aufenthaltsraumes entstehen sollen, wird die Akademie über einen gigantischen virtuellen Speicher verfügen, den wir nun füttern werden.
Wir verlassen das Zimmer, schnappen uns die Rucksäcke und sind im Handumdrehen am Objekt der Begierde angelangt. Das Terminal sieht nicht sonderlich eindrucksvoll aus, doch aus Respekt vor den Möglichkeiten nähern wir uns langsam und bedächtig. Die zwei Meter hohe, weiße Säule ist mit einem überdimensionalen Touchscreen ausgestattet, welcher kontinuierlich die Farbe wechselt. Von Dunkellila bis Zitronengelb ist alles dabei und es fällt schwer, die Augen abzuwenden. Caris tritt einen Schritt näher und fügt sich perfekt in das bunte Farbenspiel ein.
»WILLKOMMEN. CARIS ENGEL.« Das Terminal spricht zu ihr. Wow, das kam unerwartet. Eine warme Männerstimme lullt uns geradezu ein. Meine Freundin schluckt die Nervosität hinunter und antwortet