war es, Alter?«, fragt Berd. Er ist ein kleiner, etwas gedrungener, Siebzehnjähriger mit kurzgeschorenen braunen Haaren und einer Nickelbrille. Normalerweise gibt er ausschließlich kluge Sätze von sich, über deren Wortgewandtheit ich nur staunen kann. ›Wie war es, Alter‹ zählt nicht gerade dazu. Ich nahm an, er sei einer dieser Jungen, die über den Dingen stehen. Berd ist sicherlich gut in Mathe und wird später einmal der Direktor der Nationalbank. Er hat eine blühende Karriere vor sich und wird irgendwann feststellen, dass es ihm kein Stück weiter hilft, zu den coolen Kids zu gehören. Doch bis dahin sollte er seinen Ghettoslang verbessern. Ich persönlich brauche nicht zu viele Henners oder Kunos in meiner näheren Umgebung. Die wichtigere Frage ist wohl: Wie soll ich meinen Wortschatz erweitern, wenn Berd seinen in der Gosse versauern lässt?
»Henner, nehmen Sie bitte Ihren Platz ein.« Prof. Pfefferhauser lässt keinen Raum zum Austausch. Schade eigentlich, alle brennen geradezu auf Henners Offenbarung.
»Sie werden nun ein ähnliches Prozedere mit Ihrem Partner durchführen.« Großartig! Klingt nach Spaß. Partnerarbeit ist voll mein Ding. Ich habe es schon immer gehasst. Zu zweit ist alles so beschränkt. »Wenn Sie den Stuhlkreis genauer betrachten, werden Sie feststellen, dass ich die Einteilung der Gruppen bereits vorgenommen habe.« Die Stuhlbeine sind farblich markiert, es kann nur noch schlimmer werden. Ich suche alle Beine nach einem gelben Gegenstück ab und lande schlussendlich bei dem übelsten aller Szenarien: Tam. So klar – das Universum hat es auf mich abgesehen.
Schnell sind die Stühle verrückt und alle bereiten sich auf das Experiment vor. Wieso sind meine Mitschüler so scharf auf eine Gehirnwäsche? Mir jagt dieser Umstand Angst und Unbehagen ein. Henner dreht sich um, zwinkert Tam zu und schenkt mir anschließend ein süßsaures Lächeln.
»Herzlichen Glückwunsch, Tam. Jackpot. Viel Spaß, ihr zwei Hübschen!« Ich verstehe nur Bahnhof.
»Du bist doch nur neidisch, du Idiot.« Tam grinst dämlich zurück und lässt ihn dann links liegen. Ah, jetzt hab auch ich es kapiert. In einer Gruppe mit sechs Jungen und zwei Mädchen hat Henner mit Berd als Partner wohl eine Niete gezogen. Sus ging an Marlon und Tam muss mit mir vorliebnehmen. Ich hätte es schlechter treffen können, das gebe ich zu.
»Konzentrieren Sie sich bitte augenblicklich auf Ihr Gegenüber oder ich gehe gleich zur Zwei-Sekunden-Hypnose über. Dann werde ich Sie in kürzester Zeit davon überzeugen, eine Frau, gefangen im falschen Körper, zu sein. Verstanden, die Herren?«
Tam nimmt seinen Stuhl und stellt ihn direkt vor mich. Danach rückt er immer näher an mich heran und mein Hals beginnt zu kratzen. Der Mund fühlt sich trocken an und ich muss es hilflos hinnehmen.
»Willst du?«, fragt er.
»Was? Ach so, ähm, ja gut, wenn das für dich okay ist?« Sein Charme macht es mir auf einmal ganz leicht, sich ihm anzuvertrauen. Er scheint nett zu sein und nur halb so kindisch wie die anderen pubertierenden Kerle. Außerdem, was soll schon schief gehen? Ein hinreißender Junge in meinem Alter wird mich gleich in Trance versetzen und anschließend genau wissen, was ich denke, oder? Scheiße – ich starre schon wieder – Alarmglocken an!!!
»Bist du bereit?« Und ob ich bereit bin. Ich bin zu allem bereit, wenn du mich nur fragst.
»Ja.« Ich schließe die Augen und Tam wacht über meinen Schlaf. Ein wunderschöner Traum steht mir bevor.
Der Himmel ist seit gestern nicht heller geworden
Es regnet. Der gleichmäßige Rhythmus der prasselnden Tropfen weckt mich behutsam auf. Es ist Zeit, doch meine Augen sind noch nicht bereit für einen weiteren chaotischen Tag. In meinem Kopf findet eine wilde Karussellfahrt statt, die jeden Moment außer Kontrolle geraten kann. Wann ist ein Traum ein Traum und inwieweit nennt man es Wahnsinn? Meine nächtlichen Ausflüge sind so plastisch, greifbar und spürbar. Caris, Ceyda, Dr. Gregorio, Tam, das Kribbeln im Bauch – ich kann mir das nicht alles einbilden. Ich rieche die Mandelbäume, ich spüre den Ascenseur unter meinen Füßen, höre Caris' Lachen und erinnere mich genau an das Gefühl, als Tam mir im Translabor gegenüber saß und meine Gedanken in seinen Händen hielt. Was auch immer da passiert ist, alles fühlt sich tausendfach besser an als die Realität, die mich jetzt aufsucht.
Tarik. Die Schwellung seines Gehirns hält ihn weiterhin im Koma gefangen und erstickt jeden Hoffnungsschimmer auf schnelle Genesung im Keim. Die Schule ist mir völlig gleichgültig und ich werde auch heute keinen Fuß in mein Klassenzimmer setzen. Es ist einfach unmöglich.
Ich schleiche mich in die Küche in der Hoffnung, nicht sofort bemerkt zu werden. Mama sitzt am Tisch und hält mit ihren Händen eine Tasse Kaffee umklammert. Der Himmel ist seit gestern nicht heller geworden und es herrscht herbstliche Stimmung in unserem Haus.
»Lauerst du mir auf?«, frage ich sie vorsichtig.
»Liebling, es ist halb neun. Ich habe deinen Wecker ausgeschaltet und in der Schule Bescheid gegeben. Setz dich.« Meine Mutter hat einen seltsamen Ton in der Stimme und die bekannte Übelkeit kehrt zurück. Wie in Trance ertaste ich die Eckbank und setze mich. Was sie zu sagen hat, kann nichts Gutes bedeuten. Eine Träne rollt mir über die Wange und ich schaffe es nicht, die Verzweiflung zurückzuhalten. Ich habe Angst.
»Es geht um Tarik.« Mama faltet ihre Hände und sieht mir mitfühlend in die Augen.
»Stopp. Hör sofort auf zu sprechen.« Ich fahre hoch und schlage auf den Tisch. »Wenn er tot ist, will ich es nicht wissen. Also sei lieber still.« In keiner anderen Situation hätte ich so mit meiner Mutter gesprochen, aber im Moment ist es das Einzige, was ich heraus bringe.
»Er lebt, Liebes. Aber es sieht nicht gut aus. Seine Eltern haben angerufen und euch für heute Nachmittag ins Krankenhaus bestellt. Es gab wohl einen Zwischenfall und nun könnte alles ziemlich schnell…«, sie stockt.
»Was könnte ziemlich schnell?« Mein Tonfall ist ruppig. Ganz normal, wenn ich so auf die Folter gespannt werde.
»Es könnte ziemlich schnell zu Ende gehen. Die Ärzte haben wenig Hoffnung.« Ich setze mich und lasse die Tränen fließen. Meine Mutter nimmt mich in den Arm und die Zeit vergeht.
»Ich würde vorschlagen«, sagt sie, »du gehst duschen und dann fahre ich dich zu Fenja. Sie braucht dich jetzt gerade am allermeisten. Dein Frühstück bekommst du im Auto.«
Fenja liegt auf ihrem Bett mit dem Gesicht in ihr Kissen gedrückt.
»Bist du wach?«, frage ich im Flüsterton. Sie murmelt irgendetwas Unverständliches. Ich setze mich an die Bettkante und grüble, was als Nächstes zu tun ist. Ich bin selbst so gefangen in meiner Trauer, dass mir die Kraft fehlt, einer anderen Person Trost zu spenden.
»Ach Roya!«, sie fällt mir so ruckartig um den Hals, dass ich fast vom Bett stürze. »Ich packe das nicht. Ich will endlich wissen, was da los ist. Diese Ungewissheit frisst mich auf.« Ich empfinde haargenau dasselbe, auch wenn ich dazu kein Recht habe. Tarik ist mein bester Freund, doch Fenjas große Liebe schwebt zwischen Leben und Tod. Um ihren Schmerz zu verstehen, müsste ich meinen wahrscheinlich mit hundert multiplizieren. Lieben zu dürfen ist ein wunderschönes Geschenk, welches ich leider noch nicht erhalten habe. Die zusätzliche Angst, dieses Gefühl zu verlieren, ist mir also fremd. Umso hilfloser fühle ich mich in Fenja's Gegenwart. Ich kann ihr nicht helfen.
Es klingelt. Fenja schlägt ihre Fingernägel in meinen Rücken. Au.
»Das sind sie. Die vom Krankenhaus – und sie werden uns eine schreckliche Nachricht überbringen.« Ihr Weinen ist so herzzerreißend, dass ich kaum ein Wort verstehe.
»Fenja, es wird alles in Ordnung sein. Die Ärzte klingeln nicht bei Wildfremden, um ›Nachrichten‹ zu übermitteln, beruhige dich.« Was, wenn sie genau das tun und wir in wenigen Minuten den Tod unseres Freundes – ich darf gar nicht daran denken.
Und da ist es…
Es klopft zaghaft an der Tür und für den Bruchteil einer Sekunde bleibt mein Herz stehen.
»He,