bist der gemeine Bote vom Krankenhaus, stimmt's? Ich wusste es.« Fenja funkelt meine Schwester wütend an.
»Nein, wieso?«, entgegnet Rhea. »Ich habe Einiges in Erfahrung gebracht und nahm an, ihr wäret froh, dies aus meinem Mund zu hören.« Sie erwartet eine Reaktion, aber wir starren sie nur an.
»Also, Tarik leidet an einem Schädelhirntrauma, aber das wisst ihr ja bereits.« Wir nicken und lauschen gebannt. »Das Ganze ist allerdings nie eine eindeutige Diagnose. Tariks Schwellung im Gehirn ist recht stark und drückt massiv auf die benachbarten Hirnregionen. Da er keinerlei Blutungen hatte, was gut ist, gingen die Ärzte von einer schnellen Rückbildung des Ödems aus. Leider ist in der letzten Nacht der Druck in seinem Kopf so enorm angestiegen, dass es im Moment unklar ist, ob…«, sie stock und Fenja fängt an zu zittern. Ich streiche ihr behutsam über die Arme und halte sie fest.
»Ob?« Ich schaue meiner Schwester in die Augen und erwarte ihre Antwort.
»Ob er überhaupt wieder aufwacht, ja. Mittlerweile haben wir die Gewissheit, dass er irreparable Schäden davontragen wird. Es liegt leider im Rahmen des Möglichen, dass er nie wieder sprechen, geschweige denn selbstständig essen oder trinken kann. Das Gedächtnis wird am meisten in Mitleidenschaft gezogen sein.«
»Das bedeutet doch aber nicht zwangsläufig, dass er nicht wieder aufwacht, oder?« Rhea hat einen seltsamen Blick in den Augen. »Wollen seine Eltern etwa die Geräte abstellen?« Ich bin fassungslos.
»Nein, so weit ist es noch lange nicht. Die Ärzte überwachen ihn rund um die Uhr und registrieren jede kleine Bewegung oder Hirnaktivität. Über die Sache mit den Geräten wird erst im Falle eines Hirntodes gesprochen.« Bei dem Wort ›Tod‹ sackt Fenja auf dem Bett zusammen.
»Hirntod, also wenn Tarik schon fort ist und nur sein Körper in diesem dämlichen Krankenhaus rumliegt. Meinst du das?« Ich stehe auf und laufe umher. Das klingt so entschieden, endlich, ausweglos.
»Den alten Tarik werden wir nicht mehr zurückbekommen?«, fragt Fenja und drückt ihr Kissen ganz fest gegen ihre Brust.
»Ja, Süße, so ist es.« Rhea kniet sich vor Fenja auf den Fußboden und versucht sie zu beruhigen.
»Mein Freund Entin und ich arbeiten gerade an einem langfristigen Forschungsprojekt, welches sich mit dem ruhenden Gehirn befasst. Wir beobachten eine Reihe schlafender Menschen, um Antworten auf so viele ungeklärte Fragen zu erhalten. Was erlebt ein Schlafender bewusst und unterbewusst? Ist es möglich, mit einem ruhenden Gehirn zu kommunizieren? Dieser tragische Unfall hat mich auf die Idee gebracht, unsere Erkenntnisse auch bei Komapatienten anzuwenden. Auf diesem Gebiet gibt es bereits zahlreiche Studien ohne klare Ergebnisse. Mit einer von Entin entwickelten EEG-Technik könnten wir möglicherweise einen entscheidenden Schritt nach vorn machen.«
»Hieße das, wir dürften im Idealfall mit ihm sprechen?« Fenja's Augen beginnen zu leuchten. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das klingt mir alles so nach Hokuspokus. Befragen sie dann die magische Zauberkugel, um mit ihm in Kontakt zu treten?
»Sollte es funktionieren, ja.«
»Bitte, Rhea, können wir es versuchen? Es gibt keine Sicherheit, dass er aufwacht aber auch keine, dass er es nicht tut, oder? Roya, was meinst du?« Ihre Euphorie ist toll, ohne diese wäre jedes Vorhaben zwecklos. Ich würde ihr nur gern die nächste Enttäuschung ersparen.
»Ich denke, wir sollten erst einmal die Wöllers fragen. Sie haben die Entscheidungsgewalt inne. Ist diese Untersuchung denn anstrengend für Tarik oder gefährlich?« Das hätte ich besser stecken lassen. Fenjas Augen beginnen zu glitzern und mich überkommen die Schuldgefühle.
»Oh je«, stellt sie unter Tränen fest, »wir können ihn doch nicht in Gefahr bringen!«
»Mädels, wenn ich Zweifel hätte, würde ich einen solchen Plan wohl kaum vorschlagen. In Maßen ist diese Methode absolut ungefährlich.« Sie hat recht. Einen Versuch ist es wert.
»Ich hol mal das Telefon bei deiner Mum«, sage ich und verschwinde aus dem Zimmer.
Eine Stunde später sitzen wir mit Wöllers vor dem Bild mit dem leuchtenden Kreis und Rhea versucht allen die Vorgehensweise zu erklären.
»Wow, kannst du mich im Schlaf zu einer Killermaschine machen und mir Superkräfte ins Gehirn einpflanzen?« Thies, Tariks kleiner Bruder, ist Feuer und Flamme. »Ich wäre gern super schlau und irre witzig, da stehen die Ladies drauf!«
»Thies!« Tariks Vater rempelt ihn grob an und seine Mutter fängt an zu weinen. »Wir befinden uns hier nicht in einem schlechten Blockbuster. Zeig etwas Respekt!« Herr Wöller legt die Hände auf die seiner Frau und versucht Thies' Benehmen zu entschuldigen.
»Also«, meine Schwester reißt das Ruder erneut an sich, »die Sache läuft folgendermaßen: Tarik wird an ein EEG Gerät angeschlossen, welches seine Gehirnaktivitäten aufzeichnet. Der jeweilige Gesprächspartner erhält ebenfalls eine elektronische Kopfbedeckung und dann suchen wir eine gemeinsame Frequenz. Im Falle schlafender Menschen kann man die entstehenden Wellen zur Kommunikation nutzen und dem Gehirn Informationen übermitteln.«
»Wird es funktionieren?« Frau Wöller setzt sich aufrecht und hält die Hände ihres Mannes fester umklammert.
»Da wir noch nie mit komatösen Patienten gearbeitet haben, kann ich den Erfolg nicht garantieren. Mit Ihrer Zustimmung würde ich es jedoch auf einen Versuch ankommen lassen. Maximal eine Viertelstunde, um Tarik nicht zu überanstrengen.« Die Gruppe nickt übereinstimmend. »Gut. Dann überlegen Sie bitte, wer von Ihnen starten möchte. Ich würde vorschlagen, drei mal fünf Minuten. Sie werden sehen, es verlangt schon einiges an Kraft ab.« Fenja und Tariks Eltern folgen Rhea auf Station und ich bleibe mit Thies zurück. Er ist mit dieser Situation brutal überfordert und benimmt sich sonderbar, um die Hilflosigkeit zu kaschieren. Klaro, er ist zwölf Jahre alt und sein Bruder verschwindet von heute auf morgen aus seinem Leben.
»Hast du Lust auf ein Spiel? Ich könnte die Schwestern nach Karten oder Würfeln fragen.«
»Nö.« Er schaut mich nicht einmal an und holt sein Handy aus der Hosentasche. Gut, das hätten wir geklärt. Nur keine unnötigen Worte verschwenden.
»Dann mach ich jetzt ein paar Minuten die Augen zu. Weck mich, wenn irgendetwas ist.« Mehr als ein ›mmh‹ bekommt er nicht zu Stande.
Als ich das Klicken der Stationstür höre, sehe ich Fenja auf uns zu kommen.
»Na, wie war es?« Sie weint und Thies dreht sich genervt zum Fenster. »Hat es nicht funktioniert? Oder warum schaust du so traurig?« Sie lehnt sich an die Wand und rutscht auf den Fußboden.
»Er ist fort, Roya. Keine messbar erhöhte Gehirnaktivität während des Versuches. Keine körperliche Reaktion. Er kann mich nicht hören und wahrscheinlich auch nie wieder einen anderen. Er kann sich nicht einfach aus dem Staub machen, ohne auf Wiedersehen zu sagen.« Fenja stiert zur Decke und lässt die Tränen ihren Hals hinab fließen. Ich setze mich neben sie auf den Boden und lausche ihrem Kummer. »Tarik sieht schlecht aus, weißt du. Ganz bleich, wie er da in seinem OP-Hemd in diesem Bett liegt. Dort ist kein Bild an der Wand und Blumen darf er auch nicht im Zimmer haben. Überall piept und blinkt es. Keine optimale Umgebung, um aufzuwachen.« Ich nehme ihre Hand.
»Fenja, du hast mit ihm gesprochen. Meinst du nicht, das allein ist schon Grund genug? Wenn er die Kontrolle über seinen Körper zurückerobern kann, dann wird er alles tun, um dein lächelndes Gesicht wieder zu sehen.«
»Hallo, ihr beiden.« Wir erheben uns in solch einer Geschwindigkeit, dass mir schwindelt. Tariks Eltern sind zurück und wir haben sie vor lauter Schluchzen nicht kommen hören.
»Gibt es etwas Neues?« Ohne nachzudenken, überfalle ich die Familie Wöller mit meiner Fragerei. Tariks Vater setzt sich und schließt kurz die Augen.
»Wir tappen weiterhin im Dunkeln. Keine Veränderung der Vitalfunktionen, null Anstieg der Gehirnaktivität. Immerhin haben wir so auch keinen Schaden angerichtet. Es war den Versuch auf jeden Fall wert und wir sind Rhea zutiefst dankbar für die