Martha Kindermann

BePolar


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abschätzen. Er liegt im Koma. Mehr weiß ich nicht. Seine Mum hat heute Morgen aus dem Krankenhaus angerufen und Bescheid gegeben. Sie meinte, er bräuchte Ruhe und wir sollten besser nicht vorbeikommen.«

      Ich starre ins Leere und lasse die Tränen mein T-Shirt durchnässen. Wir waren gestern noch zusammen im Park. Tarik war quicklebendig und ein paar Stunden später liegt er in einem Krankenhausbett und vollführt ein Duell mit dem Tod.

      »Los, wir gehen!« Ich nehme sie an der Hand und marschiere an die Bushaltestelle. »Ich kann mich jetzt nicht in die Schule setzen und dämliche Projektarbeit machen.«

      »Was hast du vor?«, entgegnet Fenja und versucht mit mir Schritt zu halten.

      »Na wir nehmen den Bus zum Krankenhaus. Ist mir egal, was der Jakob meint!« Fenja sagt nichts. Ich deute die fehlende Reaktion als Zustimmung und verdopple mein Lauftempo.

      Da kommt der Schulbus und eine Horde Kinder stürmt auf das Schulgebäude zu. Wir drängeln uns durch die Meute, um zum Busfahrer zu gelangen, lösen zwei Fahrscheine und nehmen Platz. Normalerweise sitzen wir wie alle coolen Kids in der letzten Reihe, aber heute habe ich keinen Bock, den Weg durch den ganzen Bus zu latschen und wähle die beiden Plätze hinter dem Fahrer aus.

      Der Bus setzt sich in Bewegung und wir werden von der hinein scheinenden Morgensonne geblendet. Es sollte regnen. An solch einem schrecklichen Tag sollte es wie aus Eimern gießen.

      Die erdrückende Stille im Bus und die Sonne regen mich entsetzlich auf. Wenn wir nicht bald am Ziel sind, werden meine Fingernägel sämtliche Gummidichtungen der Fensterscheibe abgekratzt haben.

      Noch drei Haltestellen.

      Noch zwei Haltestellen.

      Noch eine Haltestelle.

      Da ist das Krankenhaus.

      Ich bin oft hier. Wenn Rhea Frühdienst hat, hole ich sie manchmal nach der Schule ab. Dann genehmigen wir uns in den Sommermonaten ein Eis und wenn es kühler wird, den süßen Punsch vom ›Café 74‹. Bisher hatte ich also nur schöne Erinnerungen an diesen Ort.

      Der Bus hält direkt vor dem Eingang und als wir aussteigen, öffnet sich die automatische Schiebetür. Ich bleibe kurz stehen und nehme Fenjas Hand. Wir schaffen das gemeinsam.

      Die Tante an der Information schickt uns mit der Bitte auf die Intensivstation, dort zu klingeln und dann abzuwarten. Toll, das geht ja gut los. Die hat Nerven. Wir schwänzen doch nicht die Schule, um dann zu warten. Wir fahren also in den dritten Stock und folgen einem langen Gang, bis die erwähnte Tür erscheint. ›Unbefugten kein Zutritt. Bitte Klingeln‹. Steht an der Tür. Ja, das wissen wir und ich drücke gleich dreimal auf den Klingelknopf, um sicher zu sein, auch gehört zu werden. Es fühlt sich an, als seien Stunden vergangen, bis das Personal erscheint.

      »Ja, bitte?«, fragt die ältere Dame in Schwesternkleidung sehr freundlich.

      »Wir wollen zu Tarik Wöller. Er liegt hier seit gestern auf Station.« Fenja findet tapfer die richtigen Worte. Ich für meinen Teil würde lieber auf die Nettigkeiten verzichten und hineinstürmen. Doch als Angehörige einer Mitarbeiterin werde ich mich nicht über Gebühr daneben benehmen.

      »Das tut mir sehr leid«, antwortet die Schwester »wir dürfen keinen Besuch zu ihm lassen. Wenn ihr wollt, kann ich eben die Mutter zu euch schicken, ja?« Sie spricht mit uns in einem Ton, der lediglich für Dreijährige angemessen wäre, deren Gummibärchenvorrat zuneige gegangen ist. Ich schäume gleich über.

      »Ist gut, vielen Dank.« Hat sich Fenja gerade bei ihr bedankt?

      »Was soll das?«, frage ich sie. »Warum protestieren wir nicht einfach dagegen?« Sie tätschelt meine Hand und schaut mich an.

      »Du weißt doch am besten, wie der Hase läuft. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als bei Tarik zu sein, doch wenn unser Besuch ihn zu stark aufregt und seiner Genesung im Weg steht, dann könnte ich mir das niemals verzeihen.« Sie hat recht; in allem, was sie da sagt, hat sie recht und ich muss meine Gefühle unter Kontrolle kriegen, damit ich die Wut nicht an Tariks Mum auslasse.

      Es sind Schritte zu hören und die automatische Tür öffnet sich mit einem summenden Geräusch. Frau Wöller sieht verheult und müde aus. Kein Wunder, nach einer schlaflosen Nacht.

      »Schön, euch zu sehen«, begrüßt sie uns auf ihre herzliche Art.

      »Wollen wir uns kurz setzen?« Sie deutet auf eine kleine Sitzgruppe im Gang und wir nehmen Platz. »Habt ihr etwa die Schule geschwänzt?«, fragt sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen. »Na ja, Tarik hätte wahrscheinlich das Gleiche getan. Schön, dass ihr hier seid. Das bedeutet uns viel.« Sie macht eine kleine Pause und Fenja ergreift das Wort.

      »Was sagen die Ärzte? Können wir zu ihm?« Frau Wöller senkt traurig den Kopf.

      »Er hängt an einigen Maschinen und wird künstlich ernährt. Der Chefarzt meinte aber, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis er wieder aufwacht. Tarik hat wohl sehr viel Glück gehabt.« Sie schluckt und versucht die Tränen zurückzuhalten. »Eine Schwellung im Gehirn verursacht die Bewusstlosigkeit. Da er jedoch bisher keinerlei Blutungen aufweist, könnte er sich vollständig erholen, ohne Folgeschäden davon zu tragen.« Fenja reicht ihr geistesgegenwärtig ein Taschentuch. »Es kann Stunden, Tage, aber auch Monate dauern, bis die Schwellung zurückgeht und bis dahin braucht sein Körper Ruhe.«

      »Bekommt er mit, was um ihn herum geschieht?«, frage ich.

      »Wir wissen es nicht, aber ich rede sehr viel mit ihm oder lese etwas vor. Vorlesen hat er immer so gemocht und vielleicht bringt ihn das schneller wieder zurück.« Sie sieht hoffnungsvoll auf das Bild an der Wand. Ein dunkelblauer Hintergrund, in dessen Mitte ein großer, runder, weiß-gelber Kreis zu sehen ist. Licht in der Dunkelheit, ein schöner Ausblick.

      »Können wir irgendetwas für Tarik tun oder Ihnen etwas helfen?«, erkundigt sich Fenja. »Wir könnten Essen vorbei bringen oder die Blumen im Haus gießen.«

      »Vielleicht zündet ihr zu Hause eine Kerze für ihn an und besucht uns hin und wieder. Es tut gut, seine Freunde zu sehen. Und sicher dauert es nicht mehr lange, bis wir euch zu ihm lassen können.« Sie steckt das Taschentuch weg und nimmt unsere Hände in die ihren. »Danke, Mädels. Ich geh jetzt wieder rein und grüße ihn von euch.« Frau Wöller steht auf und lächelt uns zum Abschied noch einmal zu. Dann öffnet sich die Stationstür und sie ist verschwunden. Wir sitzen eine Weile so da und betrachten das Gemälde an der Wand.

      »Meinst du, man blickt dem Licht entgegen oder wird es von der Dunkelheit verschluckt?« Fenja sieht mich desinteressiert an.

      »Dem Licht? Ich weiß nicht. Für mich sieht es aus wie eine abstrakte Darstellung unserer Flagge. Auch egal, komm jetzt!« Sie schiebt ihren Stuhl zurück, erhebt sich langsam und schlürft über den Boden in Richtung Fahrstuhl. Mit ihren Fingerspitzen fährt sie an der Wand entlang und verströmt eine so tiefe Traurigkeit, dass es mir fast das Herz bricht. Die beiden gehören zusammen wie Pech und Schwefel, wie Pfeffer und Salz, Feuer und Wasser – ich könnte es ewig weiterführen. Es hat eine Weile gedauert, bis sie sich ihre Liebe eingestanden haben, ehrlich gesagt eine Ewigkeit. Doch seit diesem Tag sind sie miteinander verschmolzen und unzertrennlich. Es ist schön, wahre Liebe Tag für Tag erleben zu dürfen. Umso schrecklicher, sie nun so leiden zu sehen.

      Der Fahrstuhl öffnet sich und bringt uns heil in die Eingangshalle zurück. Mittlerweile hat es tatsächlich angefangen zu regnen. Wir halten uns die Rucksäcke über den Kopf, um halbwegs trocken den Bus zu erreichen und rennen los.

      Fünf Minuten.

      Vier Minuten.

      Drei Minuten.

      Ich weiß absolut nicht, was sich sagen soll. Meine Freundin starrt mit irren Augen in Richtung Krankenhaus und lässt mich außen vor.

      »Fenja, ist alles klar?« Ohne ein Wort tritt sie vor das Wartehäuschen in den Regen. Ich geselle mich zu ihr und lasse meine Traurigkeit vorübergehend abwaschen.

      Als der Bus vorfährt, sind wir bis auf die Unterwäsche nass.