Geist nur ein nichtiges Traumbild, das der Morgenschlaf wieder entführen wird! Wie wäre es
auch möglich, daß ich mich hätte entschließen können, lieber auf dem Rücken eines Untieres durch
unendliche Fluten zu schwimmen, als in holder Sicherheit frische Blumen zu pflücken!« ‐ So sprach
sie und fuhr mit der flachen Hand über die Augenlider, als wollte sie den verhaßten Traum
verwischen. Als sie aber um sich blickte, blieben die fremden Gegenstände unverrückt vor ihren
Augen; unbekannte Bäume und Felsen umgaben sie, und eine unheimliche Meeresflut schäumte, an
starren Klippen sich brechend, empor am niegeschauten Gestade. »Ach, wer mir jetzt den Stier
auslieferte«, rief sie verzweifelnd, »wie wollte ich ihn zerfleischen; nicht ruhen wollte ich, bis ich die
Hörner des Ungeheuers zerbrochen, das mir jüngst noch so liebenswürdig erschien! Eitler Wunsch!
Nachdem ich schamlos die Heimat verlassen, was bleibt mir übrig als zu sterben? Wenn mich nicht
alle Götter verlassen haben, so sendet mir, ihr Himmlischen, einen Löwen, einen Tiger! Vielleicht
reizt sie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß nicht warten, bis der entsetzliche Hunger an diesen
blühenden Wangen zehrt!« Aber kein wildes Tier erschien; lächelnd und friedlich lag die fremde
Gegend vor ihr, und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie von Furien bestürmt,
sprang die verlassene Jungfrau auf »Elende Europa«, rief sie, »hörst du nicht die Stimme deines
abwesenden Vaters, der dich verflucht, wenn du deinem schimpflichen Leben nicht ein Ende machst!
Zeigt er dir nicht jene Esche, an welche du dich mit deinem Gürtel aufhängen kannst? Deutet er nicht
hin auf jenes spitze Felsgestein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm der Meeresflut
begraben wird? Oder willst du lieber einem Barbarenfürsten als Nebenweib dienen und als Sklavin
von Tag zu Tag die zugeteilte Wolle abspannen, du, eines hohen Königes Tochter?« So quälte sich das
unglückliche verlassene Mädchen mit Todesgedanken und fühlte doch nicht den Mut in sich, zu
sterben. Da vernahm sie plötzlich ein heimliches spottendes Flüstern hinter sich, glaubte sich
belauscht und blickte erschrocken rückwärts. In überirdischem Glanze sah sie da die Göttin Aphrodite
vor sich stehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott, mit gesenktem Bogen zur Seite. Noch schwebte
ein Lächeln auf den Lippen der Göttin, dann sprach sie: »Laß deinen Zorn und Hader, schönes
Mädchen! Der verhaßte Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen darreichen; ich bin es,
die dir im väterlichen Hause jenen Traum gesendet. Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt
hat; du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes; unsterblich wird dein Name werden, denn
der fremde Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!«
Kadmos
Kadmos war ein Sohn des phönizischen Königes Agenor, ein Bruder der Europa. Als Zeus, in einen
Stier verwandelt, diese entführt hatte, sandte ihr Vater den Kadmos und dessen Brüder aus, sie zu
suchen, und ohne sie erlaubte er ihnen nicht wieder zurückzukommen. Lange hatte Kadmos
vergebens die Welt durchirrt, ohne des Zeus Schliche entdecken zu können. Als er die Hoffnung
verloren hatte, seine Schwester wieder aufzufinden, scheute er seines Vaters Zorn, wandte sich an
das Orakel des Phöbos Apollo und forschte, welches Land er inskünftige bewohnen sollte. Apollo gab
ihm die Weisung: »Du wirst ein Rind auf einsamen Auen treffen, das noch kein Joch geduldet hat.
Von diesem sollst du dich leiten lassen, und an dem Platze, wo es im Grase ruhen wird, erbaue
Mauern und nenne die Stadt Theben.« Kaum hatte Kadmos die Kastalische Höhle verlassen, wo
Apolls Orakel war, als er schon auf der grünen Weide eine Kuh sich bedächtig ergehen sah, die noch
kein Zeichen der Dienstbarkeit um den Nacken trug. Lautlos zu Phöbos betend, folgte er mit
langsamen Schritten den Spuren des Tieres. Schon hatte er die Furt des Kephissos durchwatet und
war über eine gute Strecke Landes gekommen, als auf einmal das Rind stillestand, sein Gehörn gen
Himmel streckte und die Luft mit Brüllen erfüllte; dann schaute es rückwärts nach der Schar der
Männer, die ihm folgte, und kauerte sich endlich im schwellenden Grase nieder.
Voll Dankes warf sich Kadmos auf der fremden Erde nieder und küßte sie. Hierauf wollte er dem Zeus
opfern und hieß die Diener sich aufmachen, um ihm Wasser aus lebendigem Quell zum Trankopfer zu
holen. Dort war ein altes Gehölz, das noch von keinem Beile jemals ausgehauen worden war; mitten
darin bildete durch zusammengefügtes Felsgestein, mit Gestrüppe und Strauchwerk verwachsen,
eine Kluft, reich an Quellwasser, ein niedriges Gewölbe. In dieser Höhle versteckt ruhte ein
grausamer Drache. Weithin sah man seinen roten Kamm schimmern, aus den Augen sprühte Feuer,
sein Leib schwoll von Gift, mit drei Zungen zischte er und mit drei Reihen Zähne war sein Rachen
bewaffnet. Wie nun die Phönizier den Hain betreten hatten und der Krug, niedergelassen, in den
Wellen plätscherte, streckte der bläuliche Drache plötzlich sein Haupt weit aus der Höhle und erhub
ein entsetzliches Zischen. Die Schöpfurnen entglitten der Hand der Diener, und vor Schrecken stockte
ihnen das Blut im Leibe. Der Drache aber verwickelte seine schuppigen Ringe zum schlüpfrigen
Knäuel, dann krümmte er sich im Bogensprunge, und über die Hälfte aufgerichtet schaute er auf den
Wald herab. Darauf reckte er sich gegen die Phönizier aus, tötete die einen durch seinen Biß, die
andern erdrückte er mit seiner Umschlingung, noch andere erstickte sein bloßer Anhauch, und
wieder andere brachte sein giftiger Geifer um.
Kadmos wußte nicht, warum seine Diener solange zauderten. Zuletzt machte er sich auf, selbst nach
ihnen zu schauen. Er deckte sich mit dem Felle, das er einem Löwen abgezogen hatte, nahm Lanze
und Wurfspieß mit sich, dazu ein Herz, das besser war als jede Waffe. Das erste, was ihm beim
Eintritt in den Hain aufstieß, waren die Leichen seiner getöteten Diener, und über ihnen sah er den
Feind mit geschwollenem Leibe triumphieren und mit der blutigen Zunge die Leichname belecken.
»Ihr armen Genossen«, rief Kadmos voll Jammer aus, »entweder bin ich euer Rächer oder der
Gefährte eures Todes!« Mit diesen Worten ergriff er ein Felsstück und sandte es gegen den Drachen.
Mauern und Türme hätte wohl der Stein erschüttert, so groß war er. Aber der Drache blieb
unverwundet, sein harter schwarzer Balg und die Schuppenhaut schirmten ihn wie ein eherner
Panzer. Nun versuchte es der Held mit dem Wurfspieß. Diesem hielt der Leib des Ungeheuers nicht
stand, die stählerne Spitze stieg tief in sein Eingeweide nieder. Wütend vor Schmerz drehte der
Drache den Kopf gegen seinen Rücken und zermalmte dadurch