Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil


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Geist nur ein nichtiges Traumbild, das der Morgenschlaf wieder entführen wird! Wie wäre es

       auch möglich, daß ich mich hätte entschließen können, lieber auf dem Rücken eines Untieres durch

       unendliche Fluten zu schwimmen, als in holder Sicherheit frische Blumen zu pflücken!« ‐ So sprach

       sie und fuhr mit der flachen Hand über die Augenlider, als wollte sie den verhaßten Traum

       verwischen. Als sie aber um sich blickte, blieben die fremden Gegenstände unverrückt vor ihren

       Augen; unbekannte Bäume und Felsen umgaben sie, und eine unheimliche Meeresflut schäumte, an

       starren Klippen sich brechend, empor am niegeschauten Gestade. »Ach, wer mir jetzt den Stier

       auslieferte«, rief sie verzweifelnd, »wie wollte ich ihn zerfleischen; nicht ruhen wollte ich, bis ich die

       Hörner des Ungeheuers zerbrochen, das mir jüngst noch so liebenswürdig erschien! Eitler Wunsch!

       Nachdem ich schamlos die Heimat verlassen, was bleibt mir übrig als zu sterben? Wenn mich nicht

       alle Götter verlassen haben, so sendet mir, ihr Himmlischen, einen Löwen, einen Tiger! Vielleicht

       reizt sie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß nicht warten, bis der entsetzliche Hunger an diesen

       blühenden Wangen zehrt!« Aber kein wildes Tier erschien; lächelnd und friedlich lag die fremde

       Gegend vor ihr, und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie von Furien bestürmt,

       sprang die verlassene Jungfrau auf »Elende Europa«, rief sie, »hörst du nicht die Stimme deines

       abwesenden Vaters, der dich verflucht, wenn du deinem schimpflichen Leben nicht ein Ende machst!

       Zeigt er dir nicht jene Esche, an welche du dich mit deinem Gürtel aufhängen kannst? Deutet er nicht

       hin auf jenes spitze Felsgestein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm der Meeresflut

       begraben wird? Oder willst du lieber einem Barbarenfürsten als Nebenweib dienen und als Sklavin

       von Tag zu Tag die zugeteilte Wolle abspannen, du, eines hohen Königes Tochter?« So quälte sich das

       unglückliche verlassene Mädchen mit Todesgedanken und fühlte doch nicht den Mut in sich, zu

       sterben. Da vernahm sie plötzlich ein heimliches spottendes Flüstern hinter sich, glaubte sich

       belauscht und blickte erschrocken rückwärts. In überirdischem Glanze sah sie da die Göttin Aphrodite

       vor sich stehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott, mit gesenktem Bogen zur Seite. Noch schwebte

       ein Lächeln auf den Lippen der Göttin, dann sprach sie: »Laß deinen Zorn und Hader, schönes

       Mädchen! Der verhaßte Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen darreichen; ich bin es,

       die dir im väterlichen Hause jenen Traum gesendet. Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt

       hat; du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes; unsterblich wird dein Name werden, denn

       der fremde Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!«

       Kadmos

       Kadmos war ein Sohn des phönizischen Königes Agenor, ein Bruder der Europa. Als Zeus, in einen

       Stier verwandelt, diese entführt hatte, sandte ihr Vater den Kadmos und dessen Brüder aus, sie zu

       suchen, und ohne sie erlaubte er ihnen nicht wieder zurückzukommen. Lange hatte Kadmos

       vergebens die Welt durchirrt, ohne des Zeus Schliche entdecken zu können. Als er die Hoffnung

       verloren hatte, seine Schwester wieder aufzufinden, scheute er seines Vaters Zorn, wandte sich an

       das Orakel des Phöbos Apollo und forschte, welches Land er inskünftige bewohnen sollte. Apollo gab

       ihm die Weisung: »Du wirst ein Rind auf einsamen Auen treffen, das noch kein Joch geduldet hat.

       Von diesem sollst du dich leiten lassen, und an dem Platze, wo es im Grase ruhen wird, erbaue

       Mauern und nenne die Stadt Theben.« Kaum hatte Kadmos die Kastalische Höhle verlassen, wo

       Apolls Orakel war, als er schon auf der grünen Weide eine Kuh sich bedächtig ergehen sah, die noch

       kein Zeichen der Dienstbarkeit um den Nacken trug. Lautlos zu Phöbos betend, folgte er mit

       langsamen Schritten den Spuren des Tieres. Schon hatte er die Furt des Kephissos durchwatet und

       war über eine gute Strecke Landes gekommen, als auf einmal das Rind stillestand, sein Gehörn gen

       Himmel streckte und die Luft mit Brüllen erfüllte; dann schaute es rückwärts nach der Schar der

       Männer, die ihm folgte, und kauerte sich endlich im schwellenden Grase nieder.

       Voll Dankes warf sich Kadmos auf der fremden Erde nieder und küßte sie. Hierauf wollte er dem Zeus

       opfern und hieß die Diener sich aufmachen, um ihm Wasser aus lebendigem Quell zum Trankopfer zu

       holen. Dort war ein altes Gehölz, das noch von keinem Beile jemals ausgehauen worden war; mitten

       darin bildete durch zusammengefügtes Felsgestein, mit Gestrüppe und Strauchwerk verwachsen,

       eine Kluft, reich an Quellwasser, ein niedriges Gewölbe. In dieser Höhle versteckt ruhte ein

       grausamer Drache. Weithin sah man seinen roten Kamm schimmern, aus den Augen sprühte Feuer,

       sein Leib schwoll von Gift, mit drei Zungen zischte er und mit drei Reihen Zähne war sein Rachen

       bewaffnet. Wie nun die Phönizier den Hain betreten hatten und der Krug, niedergelassen, in den

       Wellen plätscherte, streckte der bläuliche Drache plötzlich sein Haupt weit aus der Höhle und erhub

       ein entsetzliches Zischen. Die Schöpfurnen entglitten der Hand der Diener, und vor Schrecken stockte

       ihnen das Blut im Leibe. Der Drache aber verwickelte seine schuppigen Ringe zum schlüpfrigen

       Knäuel, dann krümmte er sich im Bogensprunge, und über die Hälfte aufgerichtet schaute er auf den

       Wald herab. Darauf reckte er sich gegen die Phönizier aus, tötete die einen durch seinen Biß, die

       andern erdrückte er mit seiner Umschlingung, noch andere erstickte sein bloßer Anhauch, und

       wieder andere brachte sein giftiger Geifer um.

       Kadmos wußte nicht, warum seine Diener solange zauderten. Zuletzt machte er sich auf, selbst nach

       ihnen zu schauen. Er deckte sich mit dem Felle, das er einem Löwen abgezogen hatte, nahm Lanze

       und Wurfspieß mit sich, dazu ein Herz, das besser war als jede Waffe. Das erste, was ihm beim

       Eintritt in den Hain aufstieß, waren die Leichen seiner getöteten Diener, und über ihnen sah er den

       Feind mit geschwollenem Leibe triumphieren und mit der blutigen Zunge die Leichname belecken.

       »Ihr armen Genossen«, rief Kadmos voll Jammer aus, »entweder bin ich euer Rächer oder der

       Gefährte eures Todes!« Mit diesen Worten ergriff er ein Felsstück und sandte es gegen den Drachen.

       Mauern und Türme hätte wohl der Stein erschüttert, so groß war er. Aber der Drache blieb

       unverwundet, sein harter schwarzer Balg und die Schuppenhaut schirmten ihn wie ein eherner

       Panzer. Nun versuchte es der Held mit dem Wurfspieß. Diesem hielt der Leib des Ungeheuers nicht

       stand, die stählerne Spitze stieg tief in sein Eingeweide nieder. Wütend vor Schmerz drehte der

       Drache den Kopf gegen seinen Rücken und zermalmte dadurch