Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil


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an, Kränze zu flechten, die sie, den Nymphen der Wiese zum Dank, an

       grünenden Bäumen aufhängen wollten. Aber nicht lange sollten sie ihren Sinn an den Blumen

       ergötzen, denn in das sorglose Jugendleben Europas griff unversehens das Schicksal ein, das ihr der

       Traum der verschwundenen Nacht geweissagt hatte. Zeus, der Kronide, war von den Geschossen der

       Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Göttervater zu besiegen vermochten, getroffen

       und von der Schönheit der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den Zorn der eifersüchtigen

       Hera fürchtete, auch nicht hoffen durfte, den unschuldigen Sinn der Jungfrau zu betören, so sann der

       verschlagene Gott auf eine neue List. Er verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier. Aber welch

       ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wiese geht oder unters Joch gebeugt den schwerbeladenen

       Wagen zieht; nein, groß, herrlich von Gestalt, mit schwellenden Muskeln am Halse und vollen

       Wampen am Bug; seine Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrechselt, und

       durchsichtiger als reine Juwelen; goldgelb war die Farbe seines Leibes, nur mitten auf der Stirne

       schimmerte ein silberweißes Mal, dem gekrümmten Horne des wachsenden Mondes ähnlich;

       bläulichte, von Verlangen funkelnde Augen rollten ihm im Kopfe.

       Ehe Zeus diese Verwandlung mit sich vornahm, rief er zu sich auf den Olymp den Hermes und sprach,

       ohne ihm etwas von seinen Absichten zu enthüllen: »Spute dich, lieber Sohn, getreuer Vollbringer

       meiner Befehle! Siehst du dort unten das Land, das links zu uns emporblickt? Es ist Phönizien; dieses

       betritt und treibe mir das Vieh des Königes Agenor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirst,

       gegen das Meeresufer hinab.« In wenigen Augenblicken war der geflügelte Gott, dem Winke seines

       Vaters gehorsam, auf der sidonischen Bergweide angekommen und trieb die Herde des Königes,

       unter die sich auch, ohne daß Hermes es geahnt hätte, der verwandelte Zeus als Stier gemischt hatte,

       vom Berge herab nach dem angewiesenen Strande, eben auf jene Wiesen, wo die Tochter Agenors,

       von lyrischen Jungfrauen umringt, sorglos mit Blumen tändelte. Die übrige Herde nun zerstreute sich

       über die Wiesen ferne von den Mädchen; nur der schöne Stier, in welchem der Gott verborgen war,

       näherte sich dem Rasenhügel, auf welchem Europa mit ihren Gespielinnen saß. Schmuck wandelte er

       im üppigen Grase einher, über seiner Stirne schwebte kein Drohen, sein funkelndes Auge flößte keine

       Furcht ein, sein ganzes Aussehen war voll Sanftmut. Europa und ihre Jungfrauen bewunderten die

       edle Gestalt des Tieres und seine friedlichen Gebärden, ja sie bekamen Lust, ihn recht in der Nähe zu

       besehen und ihm den schimmernden Rücken zu streicheln. Der Stier schien dies zu merken, denn er

       kam immer näher und stellte sich endlich dicht vor Europa hin. Diese sprang auf und wich anfangs

       einige Schritte zurück; als aber das Tier sogar zahm stehenblieb, faßte sie sich ein Herz, näherte sich

       wieder und hielt ihm ihren Blumenstrauß vor das schäumende Maul, aus dem sie ein ambrosisches

       Atem anwehte. Der Stier leckte schmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte

       Jungfrauenhand, die ihm den Schaum abwischte und ihn liebreich zu streicheln begann. Immer

       reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja sie wagte es und drückte einen Kuß auf seine

       glänzende Stirne. Da ließ das Tier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gemeine Stiere

       brüllen, sondern es tönte wie der Klang einer lydischen Flöte, die ein Bergtal durchhallt. Dann

       kauerte es sich zu den Füßen der schönen Fürstin nieder, blickte sie sehnsüchtig an, wandte ihr den

       Nacken zu und zeigte ihr den breiten Rücken. Da sprach Europa zu ihren Freundinnen, den

       Jungfrauen: »Kommt doch auch näher, liebe Gespielinnen, daß wir uns auf den Rücken dieses

       schönen Stieres setzen und unsere Lust haben; ich glaube, er könnte unserer viere aufnehmen und

       beherbergen. Er ist so zahm und sanftmütig anzuschauen, so holdselig; er gleicht gar nicht anderen

       Stieren; wahrhaftig, er hat Verstand wie ein Mensch, und es fehlt ihm gar nichts als die Rede!« Mit

       diesen Worten nahm sie ihren Gespielinnen die Kränze, einen nach dem andern, aus den Händen und

       behängte damit die gesenkten Hörner des Stieres, dann schwang sie sich lächelnd auf seinen Rücken,

       während ihre Freundinnen zaudernd und unschlüssig zusahen.

       Der Stier aber, als er die geraubt, die er gewollt hatte, sprang vom Boden auf. Anfangs ging er ganz

       sachte mit der Jungfrau davon, doch so, daß ihre Genossinnen nicht gleichen Schritt mit seinem

       Gange halten konnten. Als er die Wiesen im Rücken und den kahlen Strand vor sich hatte,

       verdoppelte er seinen Lauf und glich nun nicht mehr einem trabenden Stiere, sondern einem

       fliegenden Roß. Und ehe sich Europa besinnen konnte, war er mit einem Satz ins Meer gesprungen

       und schwamm mit seiner Beute dahin. Die Jungfrau hielt mit der Rechten eins seiner Hörner

       umklammert, mit der Linken stützte sie sich auf den Rücken; in ihre Gewänder blies der Wind wie ein

       Segel; ängstlich blickte sie nach dem verlassenen Lande zurück und rief umsonst den Gespielinnen;

       das Wasser umwallte den segelnden Stier, und seine hüpfenden Wellen scheuend, zog sie furchtsam

       die Fersen hinauf Aber das Tier schwamm dahin wie ein Schiff; bald war das Ufer verschwunden, die

       Sonne untergegangen, und im Helldunkel der Nacht sah die unglückliche Jungfrau nichts um sich her

       als Wogen und Gestirne. So ging es fort, auch als der Morgen kam; den ganzen Tag schwamm sie auf

       dem Tiere durch die unendliche Flut dahin; doch wußte dieses so geschickt die Wellen zu

       durchschneiden, daß kein Tropfen seine geliebte Beute benetzte. Endlich gegen Abend erreichten sie

       ein fernes Ufer. Der Stier schwang sich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten Baume

       sanft vom Rücken gleiten und verschwand vor ihren Blicken. An seine Stelle trat ein herrlicher,

       göttergleicher Mann, der ihr erklärte, daß er der Beherrscher der Insel Kreta sei und sie schützen

       werde, wenn er durch ihren Besitz beglückt würde. Europa in ihrer trostlosen Verlassenheit reichte

       ihm ihre Hand als Zeichen der Einwilligung; und Zeus hatte das Ziel seiner Wünsche erreicht.

       Aus langer Betäubung erwachte Europa, als schon die Morgensonne am Himmel stand. Sie fand sich

       einsam, sah mit verirrten Blicken um sich her, als wollte sie die Heimat suchen. »Vater, Vater!« rief

       sie mit durchdringendem Wehelaut, besann sich eine Weile und rief wieder: »Ich verworfene

       Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur aussprechen? Welcher Wahnsinn hat mich die Kindesliebe

       vergessen lassen!« Dann sah sie wieder, wie sich besinnend, umher und fragte sich selbst: »Woher,

       wohin bin ich gekommen? ‐ Zu leicht ist ein Tod für die Schuld der Jungfrau! Aber wache ich denn

       auch und