Gunter Preuß

Berührungen


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Sei kein Depp, auf mit dir! Ja, willst du denn heut nicht in den Bergen kraxeln?«

      Der Onkel aber war zufrieden über die unerwartete Hilfe. Er legte Ludwig seine schwere Hand auf die Schulter. »Ist schon recht«, sagte er. »Hallodris hat’s genug. Ein sauberer Kerl muss zufassen können.«

      »Der Ludwig ist noch ein Bub«, entgegnete die Tante. »Die Schwester hat ihn nicht zur Arbeit hergeschickt.«

      Der Onkel schüttelte den Sturkopf, zwinkerte Ludwig zu und lief nach draußen, wo gerade der Getränkewagen vorfuhr.

      Manchmal ließ Ludwig alles stehen und liegen und rannte vors Haus, als hätte ihn irgendwer gerufen. Er sah die wenig belebte Straße hinunter, dann hinauf zu den Bergen. Selbst der wolkenlose Himmel konnte ihn nicht freuen. Nicht das Grün der aufsteigenden Wiesen. Nicht die riesige Kastanie im Innenhof der Grundstücke, die ihn mit ihrer stillen Kraft beeindruckte. Vor dem Schlafen öffnete er weit das Fenster seiner Kammer und suchte die ungeheure Fülle von Blättern ab, als wäre etwas darin verborgen, das allein für ihn bestimmt war.

      Bevor er einschlief, kam ihm das Bild des Mädchens vor Augen. Manja. Er sah sie die Arme hochwerfen und davonrennen. Hinein ins Blau. Seine Hände und Füße zuckten. Mal fühlte er sich wie eine Feder, mal wie ein Stein. Was hielt sie da bloß in ihrer Hand versteckt?

      Es kam jetzt vor, da hielt der Junge es nicht mehr bei der Arbeit aus, ohne ein Wort zu verlieren, lief er nach draußen. Die Küchenfrauen sahen sich fragend an, eine meinte: »Was soll er schon haben? Einen gewaltigen Schwarm Hummeln im Hintern.«

      Ludwig hörte das Lachen der Frauen noch auf der Straße. Er rannte einen der abzweigenden Wege hoch. Wo der eigentliche Aufstieg begann, hielt er an. Was sollte er da oben?

      Er kehrte um. Wie ein Dieb schlich er durch den Ort. Gebückt stand er hinter einer Hecke und beobachtete Trudchens Laden und die Rasenfläche um Buche und Birke. Die ersten Mädchen und Jungen kamen zum Treff. Andere folgten. Jeder machte Halt vor Trudchens Laden, kaufte Cola, Bonbons oder Eis. Nun kam auch Toni gerannt, mit dem roten Ball geschickt die Fußgänger umdribbelnd. Bei Trudchen kaufte er zwei Tüten Eis. In jeder Hand eine, den Ball zwischen den Füßen, wartete er am Ladenfenster.

      Ludwig sah Manja schon von weitem. Sie kam aus dem Blau, bunt und leicht. Und sie würde im Blau verschwinden, wie sie gekommen war. Toni gab ihr eine Eistüte, sie überquerten fröhlich die Straße und stellten sich zu den anderen.

      Ludwig wollte nicht warten, bis das ausgelassene Spiel im Gange war. Er wusste nicht, was er hier sollte? Worauf wartete er eigentlich, hinter der Hecke, wie ein Spanner? Er würde nie erfahren, was das Mädchen in der Hand hatte. Und für wen es bestimmt war.

      Geduckt verließ er das Versteck. Manja. Er hörte sie lachen. Rufen. Worüber lachte sie? Wen rief sie? Er verstand das alles nicht. Als er nicht mehr entdeckt werden konnte, rannte er los, rannte, bis er müde bei den Anzengrubers ankam.

      »Was war denn?«, fragte die Tante besorgt.

      »Hat meine Mutter angerufen?«, fragte Ludwig.

      Die Tante schüttelte den Kopf, sie sagte: »Junge, du kannst mir sagen, wenn was ist.«

      Ludwig fragte nach Arbeit, er erledigte willig, was ihm aufgetragen wurde.

      Wenn das Telefon klingelte, war er noch vor dem Onkel am Apparat. Warum rief seine Mutter nicht an? Sie hatte ihm ausdrücklich versprechen müssen, nicht anzurufen. »Ich komme schon zurecht«, hatte er gesagt. Hatte er vielleicht Heimweh wie ein kleines Kind? Vielleicht wäre es besser gewesen, mit anderen Schülern ins Ferienlager an die Ostsee zu fahren.

      Dieses »Mädchen aus dem Blau«, wie er Manja nannte, war nun ständig in seinen Gedanken. Sie drängte sich sogar in seine Träume. Saß auf der Mondsichel. Ließ die braunen Beine baumeln. Warf ihm den roten Ball zu. Aber er konnte ihn einfach nicht auffangen.

      Was er auch anpackte, er war nicht bei der Sache, nichts wollte ihm gelingen. In der Küche glitt ihm Geschirr aus den Händen. Einem Gast schüttete er Wein auf den Anzug. Manchmal stolperte er sogar, wie die Clowns in der Manege, über die eigenen Füße.

      »Sakra!«, schimpfte der Onkel. »Bist doch kein Depp!«

      Ludwig schämte sich für sein Ungeschick und wurde noch missmutiger. Die Tante und er hatten oft zusammen gelacht. Über des Onkels Jähzorn. Über einen Specht, der vor einem der Küchenfenster eifrig an die Dachrinne hämmerte. Über den Weinhändler Übermayer, der seine Weinnase stolz die »blaueste der Welt« nannte.

      Wenn Ludwig der Tante begegnete, musterte sie ihn besorgt. Manchmal zog sie ihn beiseite und fragte, ob er reden wolle, ja was denn plötzlich in ihn gefahren sei?

      »Nichts«, sagte Ludwig. »Es ist nichts.«

      Aber da war doch etwas. Er fand nicht einmal ein Wort dafür. Doch es stichelte und bohrte in ihm. Es war nicht herauszubringen und abzuschütteln. Es war da, wo er auch war und was er auch tat.

      Am späten Abend wählte Ludwig die Telefonnummer von Zuhause. Diesmal legte er den Hörer nicht auf. Seine Mutter war am Apparat. Er sagte: »Ich bin´s.« Ihre Stimme schwankte zwischen Freude und Sorge: »Junge! Ich wusste, dass du es bist!«

      Ludwig lachte erleichtert auf, die Mutter ließ ihn mit ihren Fragen nicht zu Wort kommen. Außer Atem rief sie: »Aber nun sage doch endlich auch was.«

      »In Ordnung. Alles okay, Mama«, beruhigte er sie. »Und bei euch? Wie ist es bei euch?«

      In der Leitung war ein Rauschen, als wäre da ein großer leerer Raum zwischen ihnen.

      »Ist was mit Papa?«, fragte Ludwig. »Was ist denn?«

      »Es ist nichts«, sagte die Mutter. »Na, was denkst du denn.«

      »Hat Papa seine Arbeit noch?«

      »Das kommt schon wieder in Ordnung«, sagte die Mutter.

      Sie klang müde und mutlos, das kannte Ludwig von ihr nicht. »Morgen bin ich zu Hause«, sagte er entschieden. »Ich nehme den nächsten Zug.«

      »Unsinn«, sagte die Mutter entschieden. »Wenn ich dir doch sage, es wird alles gut. Punkt.«

      Ludwig wusste, wenn sie dieses Wörtchen gebrauchte, war jedes Widerwort zwecklos. Kurz darauf hörte er ein Klicken, die Mutter hatte das Gespräch beendet.

      Die Nacht hindurch wälzte er sich im Bett herum. Eingeschlafen wachte er aus einem bedrohlichen Traum auf, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Er tastete sich zum Fenster und suchte benommen die alte Kastanie ab. Der volle Mond, über den dünne Wolkenschleier zogen, färbte in unregelmäßigem Wechsel ihre Blätter, die wie unzählige kleine Hände waren, in durchsichtig erscheinendes helles und samtig schwarzes Grün. Was eigentlich suchte er? Gab es darauf überhaupt eine Antwort?

      Am nächsten Tag, vor Mittag, rannte er los. Zu Trudchen. Zu Buche und Birke. Er stellte sich mitten unter die Jungen und Mädchen. Zwischen Manja und Toni.

      Manja sagte: »Da bist du ja wieder, grüner Ludwig.«

      Sie hatte die ausgefransten kurzen Jeans und ein weißes Achselhemd an. Am breiten Cowboygürtel hing ein Walkman. Gelbe Kopfhörer saßen wie dicke Käfer auf ihren Ohren. Sie lachte, zuckte rhythmisch mit Kopf und Körper und drehte sich dabei langsam um sich selbst.

      Als wäre sie der Musik überdrüssig, zog sie die Kopfhörer herunter, forderte Toni den roten Ball ab, lachte auf und warf ihn Ludwig zu. Wieder fing er ihn, warf ihn hart zurück, hin und her zwischen ihnen flog das runde Ding, von Mal zu Mal rücksichtsloser.

      »Schneller!«, peitschten die anderen. »Schärfer!«

      Unbeachtet warf Toni sich dazwischen, schnappte den Ball und stieß ihn kräftig mit dem Fuß in die Luft, bis weit über den Wipfel der Buche. Irgendwo hörten sie ihn hart aufschlagen, ein paar Mal aufspringen und dabei verhallen.

      »So«, sagte Toni, als kündigte er Endgültiges an, trat an Ludwig heran und umkreiste ihn tänzelnd. Dabei krempelte er sich die Hemdärmel hoch, atmete schniefend, streckte