Gunter Preuß

Berührungen


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das Wa-an-dern ein ...«

      Bernhard musterte Bolz misstrauisch, dann spähte er zur Mutter, die bereits begann, die Teller zusammenzustellen. Der kleine Zeiger der Standuhr rückte auf Viertel vor acht vor, er stand geduckt auf und erreichte, die knarrende Diele umgehend, den unbeleuchteten Flur.

      »Bernhard?« Maria war, was ihre Kinder anging, immer vorbereitet und dann doch zutiefst erschrocken, wenn sich eine ihrer Ahnung bewahrheitete. »Ja, wo willst du denn hin? Um diese Zeit?«

      »Ich? Mir geht´s – nicht gut.«

      Tränen schossen ihm in die Augen, eine Welle der Selbstverachtung nahm ihm den Willen.

      »Geh nur an die frische Luft, Junge«, rief Bolz gutmütig. »Das hängt alles mit der Entwicklung zusammen. Geh eine Runde ums Haus, dann wird dir gleich besser.«

      »Er bleibt«, befahl Maria. »Die Luft hier drinnen ist nicht schlechter als die da draußen. Setz dich zurück auf deinen Stuhl, du dummer Kerl. Ich koche dir einen Tee.«

      Maria kam bald darauf mit einer Tasse dampfenden Tee und einem Schwall herzhaften Kamillengeruch aus der Küche zurück, setzte sich aufs Sofa und bedeutete Rita, Platz für ihren Bruder zu machen. Bernhard tappte zur Mutter, setzte sich neben sie und ließ sich von ihr in die Arme nehmen. Seine Tränen versiegten, aus dem Körper der Mutter strömte Wärme in ihn. Er ließ es geschehen, lehnte ergeben an ihr, den Kopf an ihre Brust gedrückt.

      Charly räusperte sich spöttisch, setzte zu einer seiner weitschweifigen Bemerkungen an, doch Maria fuhr ihn leise, aber scharf an: »Halt den Mund! Halt du jetzt den Mund!«

      Bolz legte Charly, der aufbegehren wollte, beschwichtigend die Hand auf die Schulter, ging zur Vitrine und schenkte sich und Charly ein Schnäpschen ein. Maria war das nicht entgangen, aber sie schwieg, führte Bernhard die Tasse an den Mund, gab ihm in kleinen Schlucken zu trinken. »Du dummer Junge. Mein kleiner dummer Junge«, sagte sie kopfschüttelnd.

      Bernhard war es wohlig warm, er entspannte sich, wurde träge und lächelte dankbar. Er hatte nie einen Weg gesehen, der Lichtstreif zwischen Erde Himmel war ein Hirngespinst gewesen, nie hatten ihn Margittas Hände berührt, nie hatte sie ihn beim Namen genannt.

      Er ließ sich von der Mutter zu Bett bringen, wie sie es mit ihm noch getan hatte, als er bereits das dritte Jahr zur Schule ging. Sie deckte ihn zu, faltete seine Hände zum Gebet und küsste ihn auf die Stirn. Auf Zehenspitzen verließ sie das Zimmer, die Tür spaltbreit offen lassend.

      Er schlief augenblicklich ein, noch ganz im Wohlgefühl von Marias Wärme. Er lag auf der Seite, den Rücken gekrümmt, die Knie zur Brust gezogen, die Arme angewinkelt.

      Gegen Mitternacht erwachte er, aus dem Schlaf gerissen zog er sich überhastet an, öffnete das Fenster, kletterte an der Dachrinne in den Hinterhof, stieg über Mauern und Schuppendächer und gelangte auf die Straße. Erschrocken und hilflos stand er in ihrer nächtlichen Einsamkeit, dann nahm er all seinen Mut zusammen und rannte los.

      Weishaupts Lebensmittelladen war mit Eisengittern verschlossen. Am Straßenrand, unter einem Berg leerer Pappkartons machte sich eine Katze zu schaffen. Er wusste es doch, keine fünfzig Meter weiter endete die Straße an der dreigeschossigen Häuserfront einer ehemaligen Eisenbahnersiedlung. Die Häuser waren im Halbkreis gebaut, davor war ein kleiner Platz, in dessen Mitte ein Betonsockel stand, von dem Buntmetalldiebe das geflügelte Bronzerad gestohlen hatten.

      Er setzte sich auf die Steinstufen, die zu Weishaupts Lebensmittelladen hinaufführten. Häuser, Laternenpfähle, ein paar Bäume, alles stand unbeweglich und lautlos im wächsernen Licht. Er blickte Hilfe suchend zum Himmel, der ebenso bleich und schlaff zur Erde durchhing.

      Bernhard versuchte, ihren Namen auszusprechen, den er deutlich vor Augen hatte: Mar ̶ git ̶ ta. Umso mehr er sich bemühte, desto weniger konnte er hoffen, dass es ihm noch gelang. Er sagte stockend seinen Namen und wiederholte ihn mehrmals. Nichts bewegte, nichts gab einen Laut von sich. Seine Nägel krallten sich unter die Haut, er fühlte keinen Schmerz. Laut rief er seinen Namen, er hörte nichts. Er rief viele Namen, niemand hörte ihn, er schlug mit den Fäusten auf spröde Hausmauern ein, rannte die Straßen hinauf und hinunter, drehte sich um sich selbst und schrie seine Verzweiflung in alle Welt. Aber es öffnete sich keine Tür, kein Fenster, kein Licht ging an.

      Wie ein geprügelter Hund schlich er zurück. Maria empfing ihn an der Haustür. Er hörte ihre Vorwürfe nicht, spürte nicht ihre Schläge, er war nur froh, zurückgefunden zu haben.

      Bolz schlief diese Nacht in Bernhards Bett, und der reumütige Rückkehrer musste sich neben Maria legen. Sie griff nach seiner Hand, sie ließen einander die Nacht über nicht los. Die Augen offen wagten sie nicht, einander anzusehen.

      Die Mutter bereitete Bernhards Konfirmation vor. Sie schnitt und nähte an einem von Charly abgelegten Anzug herum, bis er ihm wenigstens halbwegs passte. Auf ihr Drängen hin hatte Bolz, mit seinen Beziehungen als Ausbildungsleiter, für Bernhard eine Lehrstelle beschafft, die er sonst vermutlich nicht bekommen hätte.

      Bernhard verspürte keine Lust auf eine Lehre als Fernmeldemechaniker mit der Aussicht auf ein späteres Ingenieurstudium. Er konnte sich nicht wie viele andere Jungen für Autos, Flugzeuge oder die Radiobastelei begeistern. Man sprach jetzt viel über das Fernsehen. Das erste Versuchsprogramm wurde mit ungläubigem Staunen erwartet. Er nahm alle technischen Neuerungen, die in der Zeitung begeistert gefeiert und von vielen begrüßt wurden, ungerührt hin. Von der Arbeit, auf ihren Ernst und seine Pflicht allzu oft hingewiesen, war jedenfalls nicht die Fortsetzung kindlichen Spiels zu erwarten. Er malte gern, vor allem mit Wasserfarben, die er ineinander verlaufen ließ, wie es in den Flusswiesen das Licht mit den unvorstellbar vielen Farben tat. Der Zeichenlehrer hatte ihm Talent bestätigt und vorgeschlagen, sich an der Porzellanmalerschule zu bewerben. Maria hatte dazu energisch den Kopf geschüttelt – ihr Junge die Woche über in Meißen und nur zum Wochenende daheim: das war schier unmöglich, er war doch noch ein Kind, das der Mutter bedurfte.

      Bis zu seiner Schulentlassung suchte er nun oft die Nähe der kleinen Schwester, sie spielten und schwatzten miteinander und hatten ihre Freude daran. Die Konfirmation selbst und die Feier danach hatten für Bernhard keine Bedeutung mehr. Margitta Krüger hatte ihn, wie vor Jahren schon einmal, keines Blickes mehr gewürdigt, und er war ihr beflissen aus dem Weg gegangen. Eines Tages fehlte sie an der Schule, es hieß, sie sei mit ihren Eltern nach Ostberlin gezogen.

      Herbert Weisert begegnete ihm weiter mit unverhohlener Verachtung. Viele der Jungen lösten jetzt ihre Freundschaften auf, die gegebenen Versprechen waren vergessen, sie waren in Aufbruchstimmung und hatten Neues im Sinn. Nur wenige hatten Lehrstellen nach Wunsch bekommen. Die meisten gingen in Bauberufe, drei sollten Dreher werden, einer Ofensetzer, und die zwei besten der Arbeiterkinder würden die Oberschule besuchen. Sie wurden von allen bemitleidet, als wären sie zu schwerer Strafe verurteilt. Die Jungen sehnten sich nach Selbstständigkeit, sie wollten arbeiten, endlich etwas unter den eigenen Händen entstehen sehen und nicht zuletzt eigenes Geld verdienen. Lange gehegte Träume sollten nun in Erfüllung gehen. Die teuersten Zigaretten wollten sie rauchen, kreppsohlige Schuhe mit gelbem Oberleder tragen, jeden Film, vor allem die nicht jugendfreien, ansehen, und es gab nicht einen unter ihnen, der kein Motorrad besitzen wollte. Mit so einem herausgeputzten »Maschinchen« war alles möglich, warum also keine Karriere als Rennfahrer? Alle Möglichkeiten sollten ihnen offenstehen. Ja, sie waren, wenn noch nicht volljährig, so doch erwachsen!

      Bernhard saß mit Jinni inmitten der äußerst mühselig aus Schutt und Asche auferstehenden Stadt im staubigen und stellenweise verbrannten Gras eines Bahndamms. Die Sonne brannte ihnen in den Nacken. Hinter ihnen, in winzigen Gärten einer Reihenhaussiedlung, entfalteten sich duftende Blüten den eifrig umhersurrenden Insekten. Aus den instandgesetzten Schornsteinen des alten Gaswerks quollen bleigraue bis kohlenschwarze Rußwolken, die, sich fächerartig ausbreitend, feine Asche herabregneten. An den maroden Fassaden der hohen Mietshäuser wirkten die mit Bohnen, Tomaten und Gurken bepflanzten Blumenkästen wie unzählige kleine Lebenszeichen. Vereinzelt erhob sich eher schüchtern ein in Bau befindliches Haus, und an Fahnenmasten, denen man überall in der Stadt begegnete, wehten rote und schwarz-rot-goldene Flaggen.