durch den Kreis, den die anderen um die beiden Widersacher gebildet hatten, und schob sich zwischen sie. Abermals begann sie das Spiel mit ihrer Hand, in der anscheinend etwas verborgen war, das Glück verhieß. Als sie die Aufmerksamkeit aller hatte, hielt sie ihre kleine Hand abwechselnd dem einen und dem anderen hin. Sie sagte: »Es gehört dir. Dafür will ich aber auch etwas haben.«
»Was denn?« Toni richtete sich auf, sein Körper hatte sich kurz entspannt, nun straffte er sich wieder.
»Eine Handvoll Schnee.«
Die beiden Jungen suchten Manjas Blick, der ihnen bestätigte, dass es ihr ernst war.
Toni schüttelte unwillig den Kopf. »Ja, du spinnst doch. Schnee vom Sonnenstein!«
Manja sah Ludwig fragend an. Dem Jungen war der Kopf wie leer, er konnte nichts denken, nichts fühlen. Er sah sie lächeln – kam es von den Lippen oder aus den Augen? – spöttisch, hervorlockend, versprechend, und hörte, wie bei ihrer ersten Begegnung ein Raunen. »Folge mir«. Einen Moment schloss er die Augen und hörte sich sagen: »Ich bringe dir den Schnee.« Er drehte sich abrupt weg, überquerte die Straße und ging ohne sich umzusehen zurück zu den Anzengrubers.
Ludwig brach Morgen um Morgen kurz nach Sonnenaufgang auf und rang dem Berg ein paar Meter mehr ab. Bis zur Schneegrenze fehlte ihm noch der schwierigste Abschnitt. Er hatte alles getan, was notwendig war, Tante und Onkel beruhigt, sich Auskunft über den Berg geholt, war mit festen Schuhen und einer kleinen Spitzhacke ausgerüstet und hatte sich keinen Gedanken daran gestattet, dass die Zeit für ihn knapp wurde.
Nun hatte die Tante ihn erinnert, dass morgen sein letzter Ferientag sei, und ob er sich denn keine Ruhe geben könne, er solle doch sagen, was er sich wünsche, sie würde versuchen, es zu erfüllen. Er wiederholte, dass er alles habe, was er brauche, es gehe ihm gut.
Als Ludwig sich an diesem Morgen auf den Weg machte, verdrängte er alle Gedanken, konzentrierte sich einzig auf das nächste Stück Weg. Beim kurzen Verschnaufen sah er dann abschätzend zum Gipfel, wo der Schnee ihn umso stärker blendete, je näher er ihm kam.
Noch einmal ging Ludwig den lediglich stellenweise erkennbaren Pfad, der ihm alles abverlangte. Eine Handvoll Schnee wollte er vom Gipfel ins Tal bringen. Nichts anderes dachte, nichts anderes wollte er. Noch nie war er so bei sich selbst gewesen.
Die Sonne stach spitz zu, dann versuchte sie ihn niederzudrücken, alle Glieder schmerzten ihn, vor seinen Augen flimmerte, in seinen Schläfen pochte es. Er spürte, er wusste: Heute würde ihn nichts aufhalten können.
Gegen Mittag hatte er die Schneegrenze erreicht. Er sprang nicht herum wie ein Sieger, kein Schrei, kein Wort kam ihm über die Lippen, er drückte sein heißes Gesicht in den Schnee, nachher sah er sich um. So weit war also die Welt. So voller Farben. So schön war sie. So voller Wunder und Geheimnisse, so viel gab es noch zu entdecken.
Sattsehen konnte er sich daran nicht, er hatte eine Aufgabe. Mit beiden Händen griff er tief in den Schnee und knetete eine Kugel. Fest wie Eis. Er wickelte sie in die vorsorglich mitgebrachte Aluminiumfolie und in Zeitungspapier und stopfte das Päckchen in seinen Rucksack.
Ludwig machte sich zügig, aber nicht überhastet an den Abstieg. Noch nie war er zurück ins Tal so schnell und sicher unterwegs.
Je tiefer er stieg, umso mehr begehbarer Spielraum öffnete sich ihm. Das Grün der Wiesen wurde kräftiger, Blumen und Kräuter blühten vielfältiger. Der wachsende rote Fleck rückte auseinander, die roten Dächer gewannen, wie alles, dem er näherkam, an Bedeutung. Und dort ruhte der Bergsee in tiefem Blau und dahinter das Waldstück in sattem Grün.
Als Ludwig Glockläuten erreichte, rannte er nicht los, er lief, den Rucksack geschultert, mit langen Schritten durch die Gassen und grüßte jeden mit kurzem, aber freundlichem Kopfnicken. Einige waren ihm hier und da bereits begegnet, andere nicht, doch es gab keinen, der nicht aufschaute und zurückgrüßte. Manch einer blieb gar stehen und blickte ihm sinnend hinterher.
Trudchen lehnte auf ihren fleischigen Unterarmen in ihrem Ladenfenster, sah ihm schmunzelnd entgegen und richtete sich auf, um seine Bestellung entgegenzunehmen. Als der Junge wortlos am Lädchen vorbeiging und ihr ernst zunickte, nickte sie würdevoll zurück.
Ludwig überquerte die Straße, Buche und Birke standen unverändert eng umschlungen, auf dem kleinen Platz war es ungewohnt still, einzig Toni saß auf dem roten Ball und schaute missmutig drein. Obwohl es ein heißer Tag war, fröstelte es Ludwig.
Er stellte den Rucksack ab, nahm das Päckchen heraus und wickelte es aus. Der Schneeball war unversehrt, er begann in seiner Hand zu feuern, dass er mit sich kämpfen musste, ihn nicht fallen zu lassen. Der bohrende Schmerz hinter der Stirn ebbte nur quälend langsam ab.
Ludwig sah gedankenlos zu, wie ein schwerer Tropfen über seine Handkante rann, weitere folgten, fielen schwer und plump, ließen einen Grashalm erzittern, perlten an ihm herunter und waren verschwunden.
Toni stierte aus glanzlosen Augen auf die zusehends schrumpfende, hier matt weiße und da blau schimmernde Kugel und sagte schlaff: »Sie ist weg.«
»Wie weg?«
Toni zuckte mit den Schultern, sagte nur: »Manja eben.«
Ludwig erwartete keine Antwort und fragte doch: »Und wo finde ich sie?«
Toni machte eine wegwerfende, fast drohende Handbewegung in eine unbekannte Ferne. Nach einem heftigen Atemzug klang er beherrschter. »Dort, wo ihr hergekommen seid.«
Ludwig hatte Manja als Einheimische gesehen, sie hatte sogar den Dialekt der Glockläutner gesprochen, ihm war nicht der Gedanke gekommen, dass sie nicht dazugehörte.
Eins der Mädchen kam geschlendert, sie sah zu Toni, drehte ab und setzte sich an den breiten Stamm der Buche. Zwei Jungen tauchten auf, sprachen auf Toni ein, brachten den Ball an sich und kickten ihn sich zu.
Toni sah interessenlos zu, schüttelte schließlich unwillig den Kopf, mühte sich auf die Füße, stand krumm wie ein Alter, tapste hin und her, bekam den Ball vor die Füße und trat ihn, ungeschickt, aber wuchtig in Richtung der anderen. Es dauerte nicht lange, da war er wieder im Spiel. Einmal blieb er mitten im Lauf stehen und sah Ludwig hinterher, der, wie er gekommen war, den Rucksack geschultert, die Arme angewinkelt, den Kopf nach vorn geneigt, mit langen Schritten die Straße hochging.
Margitta (Und wenn ich sterben sollte, 2004)
Maria atmete auf, wenn es ihr wieder einmal den Eindruck machte, dass Ruhe und Ordnung in der Stadt herrschten. Sie kochte für die Familie Kaffee und Kakao, beides von ihr wohlgehütet, schickte Bernhard nach frischen Brötchen, die sie aufschnitt und beide Seiten großzügig mit Butter bestrich.
»Du bist jetzt fast vierzehn Jahre alt, Junge«, sagte sie, besorgt hatte sie den dunklen Flaum über seiner Oberlippe bemerkt. »Das heißt nicht, dass du erwachsen bist, das nicht. Aber du bist getauft und sollst auch weiter als Christenmensch durchs Leben gehen. In einem Jahr verlässt du die Schule. Ich will, dass du konfirmiert wirst. Alles soll seine Ordnung haben.«
Bernhard erinnerte sich mit Unbehagen an Liebgotts Unterrichtsstunden und fürchtete einen neuen hinterhältigen Diener Gottes. Herbert Weisert drohte ihm: »Wenn du zu den Pfaffen gehst, brauchst du dich bei den Thälmannpionieren nicht mehr blicken lassen. Und deine Aufnahme in die Freie Deutsche Jugend kannst du dann vergessen.«
Bernhard sah die Welt nicht wie die Erwachsenen und mancher seiner Mitschüler in zwei einander feindliche Lager gespalten, und so konnte er sich auch zu keinem bekennen. Er glaubte nicht an »Klassenfeindschaft«, einen neuen Krieg, an Verzweiflung und Tod, er konnte schnell vergessen, er war voller Glauben ans Paradies, und er suchte es nicht in weiter Ferne oder womöglich im Himmel, sondern auf der Erde, vielleicht ganz in der Nähe, er musste es nur noch finden. Er lebte in gespannter Erwartung und ahnte Ungeheures, er rannte mehr als er ging, um nichts zu verpassen. Begehrlich und scheu zugleich fing er lächelnde Blicke schöner Frauen auf, die sich verlorener Träume erinnerten, ihres ersten scheuen Kusses gedachten und ihres Glaubens an die unvergängliche