Monique Dée

Stoffwechsel


Скачать книгу

die schiefgehen konnten und wurde gänzlich handlungsunfähig.

      Das Argument mit der drohenden Dunkelheit leuchtete Bernadette umgehend ein. Sie nahm ihren Dufflecoat vom Garderobenhaken und den Autoschlüssel aus einem Körbchen auf der Kommode neben der Haustür, folgte Carolin nach draußen und zog die Tür hinter sich zu. Dann schloss sie zweimal ab und überprüfte am Türgriff, ob auch tatsächlich zu war. Draußen ließ sie ihren Blick über das alte Haus schweifen. Es war etwas heruntergekommen, ein Bau aus den zwanziger Jahren, große Fenster, ein behäbiger Kasten, der mal wieder gestrichen werden müsste. Die Haustür bräuchte eine Runderneuerung und die Fenster eine Dosis Glasreiniger. Aber es war ihr Haus, ein geräumiges, gemütliches Familienhaus. Vor der Tür standen zwei Bänke einander gegenüber mit kleinen, runden Tischen daneben. Da saßen sie oft am späten Nachmittag in der Sonne und tranken Kaffee. Die Johannisbeerbüsche in den Beeten davor trugen keine Beeren mehr, dafür lagerte Marmelade im Keller, die Jaime mit Niklas zusammen gekocht hatte. Unter dem Dachüberstand lagerte Holz für den Herbst.

      Carolin zupfte an ihrer Jacke und lockte mit dem Zeigefinger wie die Hexe im Märchen von Hänsel und Gretel.

      „Kommt, liebe Kinderchen. Ich habe ein Häuschen im Walde, das wartet im fernen Dänemark.“

      Bernadette lachte und riss sich endlich vom Anblick ihres Hauses los. Jeder Abschied fiel ihr schwer, selbst wenn es für so etwas Schönes war wie eine Woche Urlaub zusammen mit ihren drei besten Freundinnen. Und momentan war sie emotional angeschlagen, da fiel es ihr noch schwerer als sonst, sich aufzumachen.

      „Willst du die erste Strecke fahren oder soll ich?“ wandte sie sich an Carolin.

      „Gerne ich. Dann kenne ich wenigstens den Weg.“

      Carolin besaß kein Auto, sie hatte ihres vor ein paar Jahren abgeschafft. In Düsseldorf fand man nie einen Parkplatz, wenn man halbwegs in der Innenstadt wohnte und wenn doch, dann hatte man sich wahrscheinlich vertan und es war in Wirklichkeit ein Taxistand. Das war ihr mal passiert, als sie mit einem Freund zusammen im Kino war, in der Spätvorstellung. Sie kamen nachts um kurz nach eins aus dem Kino und kein Auto weit und breit. Die Schilder mit dem „Taxi“ fielen ihnen jetzt natürlich sofort auf, während sie sie vorher überhaupt nicht gesehen hatten. Ihr Freund wollte als Kavalier die Gebühren übernehmen, weil es sein Auto war, aber sie bestand darauf zu teilen. Viel schlimmer war, dass sie das Gefährt auf dem Abschlepp-Parkplatz abholen mussten, der am Stadtrand lag, kaum beleuchtet war und sie als Déjà-vu in den Film zurück katapultiere. Die Szene an der mexikanischen Grenze, wo der Mädchenhändler seinem Opfer aufgelauert hatte, hätte man auch hier drehen können. Carolin gruselte sich noch in der Rückschau. Da konnte man doch lieber gleich das Taxi bezahlen und sparte sich den teureren Parkplatz.

      Sie stieg ein, ruckelte sich auf dem Sitz zurecht und stellte ihn ein klein wenig nach hinten. Dann nahm sie sich die Spiegel vor. Carolin fuhr nicht mehr oft Auto, da musste sie sich beim Start sicher fühlen. Bernadette dirigierte sie zum Supermarkt.

      „Man sollte meinen, wir kaufen für eine ganze Schulklasse ein. Bist du sicher, dass wir das alles essen in nur einer Woche?“

      Bernadette nickte überzeugt. „Wir sind vier, genau wie meine Familie zurzeit. Wir haben den ganzen Tag Zeit, wir gehen morgens eine ordentliche Runde spazieren, wir sind an der See, wir werden hungrig sein.“

      Bei Haushaltsfragen war Bernadette souverän. Carolin in ihrem Single-Leben frönte dem spontanen Einkauf im Büdchen, aber das konnte sich eine sechsköpfige Familie nicht leisten. Perfekt vorbereitete Einkaufslisten gab es bei Carolin auch nicht, höchstens, wenn sie mal für Freunde aus dem Kochbuch kochte. Ansonsten schmurgelte sie sich irgendetwas zusammen, was sich gerade mehr oder weniger zufällig in ihrem Kühlschrank befand, kulinarisch nicht sehr befriedigend. Und seltsamerweise trug es auch nicht zum Abnehmen bei. Ein bisschen abnehmen wollte Carolin eigentlich dauernd. Seit sie die vierzig überschritten hatte, nahm sie die Kalorien aus der Luft zu sich, so ihr Generalverdacht. Dieser leichte Bauchansatz, den hatte frau früher einfach nicht gehabt. Und jetzt war er höchsten einmal vorübergehend weg, wenn man eine vierzehntägige Magen-Darm-Grippe überlebt hatte. Ein blödes Alter. Und die vier vor dem Komma ging ja noch, aber wie würde es erst sein, wenn sie in zwei Jahren fünfzig wurde? Carolin schauderte unwillkürlich. Diese Veränderung jagte ihr einen Schrecken ein, einen maßlosen Schrecken geradezu. Sie war ansonsten nicht ängstlich, aber diese Jahreszahl empfand sie als magische Grenze, die sie noch von der Gebrechlichkeit trennte. Carolin schaute mit finsterer Miene vor sich hin und beschloss, die Zeit bis dahin umso ausgelassener zu genießen.

      „Glaubst du, wir haben genug zu trinken? In Dänemark ist Alkohol immer noch sehr teuer, vermute ich.“

      „Ach deshalb guckst du so ängstlich. Ich dachte schon, es wäre was Ernstes“, lachte Bernadette. Wenn du wüsstest, dachte Carolin.

      „Lass´ uns doch die Vorräte noch ein bisschen ergänzen. Macht ja nix, wenn wir was wieder mitbringen, oder?“

      Also trödelten sie noch ein wenig vor dem Weinregal herum, pickten den einen oder anderen guten Tropfen heraus und erfreuten sich an ihrer reichen Auswahl.

      „Lukullisch kann das nicht schiefgehen“, sagte Bernadette. „Inga und Florence werden mit uns zufrieden sein.“

      „Hmmm“, nickte Carolin und war froh, dass ihr Ablenkungsmanöver gelungen war.

      „Wir haben allerdings nicht bedacht, dass zu diesem Mammuteinkauf noch zwei Koffer dazu kommen werden“, stöhnte Bernadette, als sie ihre umfangreichen Besorgungen im Kofferraum ihres alten Passats verstaut hatten. „Florence und Inga kriegen Gepäckverbot.“

      Carolin lenkte das lange Fahrzeug vorsichtig aus der Parklücke und steuerte die Autobahn Richtung Norden an.

      „Schade, dass man beim Autofahren nicht schon Sekt trinken kann. Das ist ein eindeutiger Vorteil des Bahnfahrens.“

      „Muss ich mir Sorgen machen? Hast du dich dem Alkoholismus ergeben?“

      „Nee, nicht wirklich. Mich hat bloß die Panik vor dem Alter ergriffen. Mit dem Gedanken ans Feiern lenke ich mich ab“, gestand Carolin dann doch.

      „Wirst du auch demnächst fünfzig?“ fragte Bernadette mit leicht ansteigender Stimme.

      „Jaaa“, gab Carolin entnervt zurück. „Ich würd´s ja gerne vermeiden, aber das hätte dann wirklich ernsthafte Konsequenzen.“

      „Aber warum macht es dir denn Angst? Es ändert sich doch gar nichts.“

      Alter war etwas, das Bernadette nicht fürchtete, erstaunlicherweise.

      „Doch“, sagte Carolin störrisch. „Es ändert sich alles. Mit fünfzig kann man beim besten Willen nicht mehr behaupten, jung zu sein.“

      „Wieso denn das nicht? Auf so eine Feststellung gab meine 87jährige Tante mal empört zurück: Jung ist man immer! Das ist doch keine Frage der Zahl.“

      „Doch“, beharrte Carolin mit düsterer Miene. „Mit fünfzig kriegt man Zipperlein und die gehen nie wieder weg. Im Gegenteil, sie werden schlimmer und schlimmer, jedes einzelne ein vorzeitiger Nagel zu unserem Sarg.“

      „Aha“, sagte Bernadette nüchtern. „Welche Zipperlein hast du denn vor dir zuzulegen? Bisher wirkst du auf mich noch ziemlich elastisch.“

      „Das täuscht. Unter der jetzt noch erstaunlich glatten Oberfläche lauern die Abgründe, plötzlich kriegst du Runzeln, Rücken, Rheumatismus…. Gedächtnisschwund, Nervenschäden, Haarausfall…“

      Carolin seufzte so tief, dass die Abgründe, von denen sie gerade gesprochen hatte, plötzlich akustisch im Raum standen.

      „Davon würdest du dir doch nichts freiwillig aussuchen, oder? Aber du wirst gar nicht gefragt. Das Alter kommt einfach bei dir vorbei, völlig ungebeten und schleicht sich in dein Leben. Es nagt an dir, bis du ganz mürbe bist und mit gebeugtem Rücken am Stock durch die Gegend stocherst. Es frisst sich in deine Existenz, es beißt sich fest in deinen Knochen und deinen Innereien…. Und da bleibt es dann und du entkommst ihm nie mehr.“

      Carolins