Christian Milkus

Treulose Seelen


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war Jonas neu. Verständnislos blickte er den Einsiedler an. »Mir ist nichts aufgefallen.« Er berichtete Aonaran von den Begebenheiten der vergangenen Tage. »Alles in allem ist es ruhig diesen Sommer!«, schloss er seine Ausführungen.

      »Ach, ist auch nicht so wichtig. Ich wollte dich nur bitten, auf der Hut zu sein«, sagte der alte Mann und erhob sich.

      »Was soll mir schon passieren, ich habe ja Pankas und Natu ... und meinen Hirtenstab«, fügte er mit Blick auf den übermannshohen Stab mit einer Krümmung an der Spitze, der neben seinem Hirtenmantel lag, hinzu.

      »Das ist gut, das ist gut«, Aonaran nickte zum Abschied und ging mit großen Schritten davon.

      Jonas schaute ihm hinterher. Was war das denn für ein merkwürdiger Besuch? Aber, was sollte man von einem Einsiedler anderes erwarten. Schmunzelnd rollte er sich am Feuer zusammen und schlief bald darauf ein.

      Ein Knurren weckte ihn. Jonas öffnete die Augen und blickte vor die gebleckten Reißzähne eines Bären. Die Lefzen emporgezogen knurrte das Tier drohend. Geifer troff aus seinem Maul. Der Gestank nach faulem Fleisch war Übelkeit erregend.

      Jonas wollte schreien, doch kaum hatte er einen Ton herausgebracht, wurde ihm ein Knebel in den Mund gestopft. Er hustete und würgte, bekam keine Luft. Panisch wollte er aufspringen, konnte jedoch Hände und Füße nicht bewegen.

      Der Bär brüllte. Jonas atmete stoßweise durch die Nase ein und aus. Sein Herzschlag raste. Was war hier los? Wo waren Pankas und Natu? Verzweifelt blickte er sich um. Unter den Beinen des Tieres hindurch sah er die Hunde reglos neben dem Feuer liegen. Heftig strampelte der Schafhirte, versuchte verzweifelt, sich von den Fesseln zu befreien.

      »Ihnen geht es gut. Sie schlafen«, sagte eine tiefe Stimme. Der Bär tappte einen Schritt beiseite und ein kleiner Mann kam in Jonas‘ Blickfeld. Die langen, braunen Haare hingen ihm bis auf die breiten Schultern, der Bart bis auf den Bauch herab. Er wirkte ebenso zottelig wie das Fell des Bären. Auf dem ledernen Brustharnisch prangte ein Symbol - ein stilisierter Tatzenabdruck. Unbeeindruckt von Jonas‘ Winden und erstickten Rufen knotete der Fremde ein Seil um seine Mitte, stapfte zum Bären und befestigte das Seil an einem Gurt, der sich um dessen Brust spannte. Behände schwang sich der Mann auf den Rücken des Tieres, das sich daraufhin in Bewegung setzte.

      Jonas wurde herumgerissen und über den felsigen Boden geschleift. Jede Gegenwehr war sinnlos und brachte ihm nur weitere blaue Flecken und Schürfwunden ein.

      Was ging hier eigentlich vor? Er hatte noch nie einen zahmen Bären gesehen, geschweige denn einen Mann, der auf einem ritt. Was wollte der Fremde von ihm? Jonas unterdrückte die aufsteigende Angst, vielleicht war alles ja nur ein Missverständnis ...

      Sie steuerten auf eine Höhle zu, die Jonas gut kannte. Sie war zwei Mannshöhen breit und ebenso tief, hervorragend geeignet, um Schutz vor schlechtem Wetter zu bieten, aber auch nicht mehr.

      Der Bär blieb stehen. Jonas wuchtete sich herum. Ungläubig starrte er an seinem Entführer vorbei: Die Rückwand war verschwunden – ein Durchgang ins Innere des Berges tat sich vor ihnen auf. Rechts und links in den Wänden steckten Fackeln, die zischend und knisternd den Tunnel erhellten.

      Das war unmöglich!

      Jonas strampelte, stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die des Bären. Er wollte nicht dort hinein. Doch es half nichts. Das Tier bemerkte seine Anstrengungen anscheinend gar nicht. Es zog ihn immer tiefer unter die Erde.

      Sie passierten unzählige Gänge, Tunnel und Höhlen. Jonas‘ Haut war an vielen Stellen aufgescheuert und brannte entsetzlich. Lange würde er das nicht mehr aushalten.

      Ein hoher, spitzer Schrei gellte durch die Stille.

      »Lusara!«, zischte sein Entführer, sprang mit zum Kampf erhobenem Schwert vom Rücken des Bären. Suchend blickte er sich um.

      Aus einer dunklen Nische tauchte neben Jonas eine junge Frau auf. Leise und anmutig wie eine Katze schlich sie auf allen vieren zu Jonas, beugte sich über ihn und hielt ihm ein Messer vor die Nase. Freundlich lächelnd flüsterte sie: »Lauf!« Mit einer fließenden Bewegung durchschnitt sie die Fesseln sowie das Halteseil, drehte sich um und parierte den Schwerthieb des Bärenmannes.

      Während Jonas sich aufrappelte, riss er sich den Knebel aus dem Mund und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, davon. Hinter sich hörte er die Kampfgeräusche und das Brüllen des Bären.

      Hals über Kopf sprintete Jonas in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Doch schon nach wenigen Abzweigungen wurde ihm bewusst, dass er die Orientierung verloren hatte und nicht wusste, wie er aus diesem Tunnellabyrinth herausfinden sollte. Als seine Kräfte schwanden, verlangsamte er seine Schritte.

      Irgendwo muss es einen Ausweg geben, hoffte er inständig.

      »Na, alles klar?«, fragte wie aus dem Nichts eine weibliche Stimme.

      Jonas fuhr erschrocken herum. »Du?«

      »Jap«, sagte die Frau, die ihn aus der Gefangenschaft gerettet hatte. »Ich dachte, du könntest Hilfe gebrauchen.«

      Jonas grinste verlegen: »Das ist wohl nicht zu übersehen! Wie hast du mich gefunden?«

      Die Frau umrundete Jonas und betrachtete ihn abschätzend. »Mein Name ist Lusara. Ich stamme vom Klan des Nachtsternes!« Sie band sich die langen, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und deutete auf ihr Wams, auf dem eine strahlende Raute prangte. Ihr Hemd und die enge Hose wirkten teurer als die einfache Kleidung des Bärenmannes. Die Lederstiefel reichten ihr bis zu den Knien.

      »Ich kann dich riechen.« Sie trat dicht an Jonas heran und schnüffelte an ihm: »Hmmm, Pfefferminz und Zitrone. Du riechst nach Sternkraut!«

      Jonas starrte sie so verständnislos an, dass Lusara lachen musste.

      »Ich möchte dir einen Handel vorschlagen. Ich helfe dir hier heraus und du tust mir einen Gefallen!«

      »Um was für einen Gefallen handelt es sich?«

      Lusara blieb hinter ihm stehen, beugte sich über seine Schulter und flüsterte: »Ich will dein Blut!«

      Jonas‘ Verstand brauchte einige Zeit, um das Gesagte zu verstehen. »Das ist doch nicht dein Ernst?!«

      Bevor Lusara antworten konnte, dröhnte das Heulen eines Wolfes durch den Tunnel. »Komm erst mal mit.« Sie packte Jonas‘ Arm. »Hier sind wir nicht sicher!«

      Nachdem ein zweites Heulen erklang, befand Jonas, dass es besser sei, dieser Frau zu vertrauen, als in die Fänge eines Wolfes zu geraten. Er ließ sich von ihr durch das Labyrinth führen.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit traten Lusara und Jonas auf einen Sims hinaus und blickten über ein bewaldetes Tal, begrenzt durch steile Berghänge, die scheinbar bis zum Himmel ragten. Staunend betrachtete Jonas die vielfältigen Pflanzen und bunten Vögel, die Lichtspiegelungen, die die Sonne auf einen schmalen Wasserfall und einen Fluss, der sich durch das Tal schlängelte, zauberte.

      »Es ist wunderschön«, hauchte Jonas.

      »Jap«, stimmte ihm Lusara zu. »Und all das ist bedroht«, flüsterte sie traurig.

      »Aber wieso?«

      »Zur Zeit unserer Urahnen lebte dein Volk und meines in ständigem Krieg. Wir, das Volk der Basurer, lieben den Frieden und wollten uns vor der Bedrohung schützen. Aus diesem Grund haben wir mit Hilfe von Magie einen Canyon um unser Tal gezogen.« Als sie Jonas‘ ungläubiges Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Ich weiß, dass ihr aus eurer Welt die Magie vollständig verbannt habt. Aber es gab sie schon immer und es wird sie auch weiterhin geben.«

      Jonas zuckte die Achseln. So ganz konnte er das nicht glauben.

      Da erklärte Lusara weiter: »Ein mächtiger Zauberer erschuf einen Schutzwall, der den Canyon wie eine Kuppel überdeckte. Er lässt unser Land für eure Augen unsichtbar werden. Nur leider ...!«, Zorn schwang bei ihren Worten mit, »muss der Wall alle hundert Jahre erneuert werden. Und dies kann nur ein Mensch.«

      Jonas